#6: Bücher lieben, hassen, liegen lassen
“Wieso hören eigentlich so viele Männer auf Bücher zu lesen, wenn sie erwachsen werden?” fragte ich letztens einen Freund, der liest. “Ich höre oft von Typen, dass sie als Kinder viel gelesen haben, aber dann irgendwann aufhörten, als sie älter wurden.”
Da er selbst noch liest, hatte ausgerechnet er natürlich keine definitive Antwort für mich. Ihm war nicht einmal klar gewesen, dass sein Hobby etwas Exotisches zu sein scheint. Dadurch, dass er auch Romane und nicht nur Sachbücher liest, sogar besonders exotisch. Und besonders erotisch.
Ich habe keine Zahlen, aber wenn ich mit meiner Einschätzung des exotisch-erotischen lesenden Mannes komplett falsch liegen würde, gäbe es beim Dating den Attraktivitäts-Archetyp “lesender Mann in Café” nicht. Oder die Tweets darüber, wie hot es ist, wenn man zum ersten Mal die Wohnung eines Mannes betritt und ein großes Bücherregal entdeckt. Und umgekehrt, wie befremdlich, wenn sich kein einziges Buch in seiner Behausung finden lässt.
Ist es versnobt, lesende Menschen generell als kultivierter zu betrachten und deswegen anziehend zu finden? Ein Wohlfühl-Fetish der oberen Mittelschicht? Oder ist es einfach smart davon auszugehen, dass (fiktional) belesene Männer sich häufig und gerne die Perspektiven anderer Menschen auf das Leben zu Gemüte führen… und deshalb empathischer sind?
Dass das “männliche Lesen” in der Krise ist, hat zuletzt auch der Deutschlandfunk im Nachgang an die Leipziger Buchmesse 2025 (Öffnet in neuem Fenster) festgestellt. Obwohl Männer immer noch den Literaturbetrieb dominierten (sowohl selbst schreibend als auch in Entscheidungspositionen über Veröffentlichungen), würde die Zahl junger Männer, die solche Literatur auch konsumieren, heutzutage sehr klein ausfallen.
Der Verfasser des Dlf Kommentars zur Buchmesse, Nils Schniederjann, schlussfolgert daraus: es fehle an Literatur über Themen, die junge Männer interessieren. Ich erinnere mich noch deutlich an die - sagen wir mal lebendige - Diskussion in der Kommentarspalte unter dem betreffenden Instagram-Beitrag.
Ob das bedeute, dass wir wieder mehr Kriegs- und Schützengräbenliteratur bräuchten, wurde dort schwadroniert. Ob die Tatsache, dass junge Männer so wenig lesen würden, sie für Radikalisierungen jeglicher Art über Social Media empfänglicher machen würde.
Man mag von den unterschiedlichen Standpunkten halten, was man will, es ist faszinierend zu sehen, für wie viel Kontroverse und das Aufwärmen totgeglaubter Stereotype die Frage sorgt, was junge Männer gerade brauchen könnten. Eines wurde dabei aber sehr deutlich: der Kultur- und Literaturbetrieb ist offensichtlich überfragt.
Als nächstes wurde dann eine Meldung der Österreichischen Zeitung Standard (Öffnet in neuem Fenster) durch meinen rage bait feed geschoben, in der es um den britischen Autor Jude Cook ging, der auf die männliche Lesekrise mit dem Plan reagierte, in seinem neuen Verlag nur Bücher von männlichen Autoren zu veröffentlichen. Die “männliche Stimme” werde “problematisiert” und männliche Literatur “übersehen”.
So ehrenwert es auch ist, den Ungehörten eine Stimme schenken zu wollen, so wenig wird ein Mehr dessen, was jetzt schon das Problem nicht löst, gegen die Krise helfen. Will sagen, einem Literaturbetrieb, der immer noch zu einem Großteil männliche Stimmen enthält, mehr männliche Stimmen hinzuzufügen, wird großflächig nichts verbessern, wenn die Wurzel des Problems in den falschen Themen liegt, über die geschrieben wird.
Oder im Medium selbst und der Tatsache, dass viele Menschen sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht die Zeit nehmen (können), kontinuierlich so lange Texte zu lesen, wie es Bücher eben sind. Podcasts und Streams kann man wunderbar im Sinne des Produktivitäts-Mindsets laufen lassen, während man noch zwei andere Dinge mit den Augen und den Daumen anfängt. Langes Lesen, das den Fokus auf eine und nur eine Sache gleichzeitig erfordert, passt einfach nicht in die Muster unserer Suche nach den nächsten Dopamin-Hits.
Schöne Ideen, über frische Themen oder einen back to the roots Verlagshaus nachzudenken. Wenn der Hase aber woanders im Pfeffer liegt, werden auch die “Leiden des jungen Werther” in irgendeiner relatable-21.-Jahrhundert-Version nichts ändern (außer, dass es mehr Aufmerksamkeit und Berichterstattung für Cooks neuen Verlag gibt. Was ihm bewusst zu sein scheint, so herrlich süffisant wie er für die entsprechenden Social Media Posts in die Kamera lächelt… Aber ein Schelm, wer Böses dabei denkt).
Darüber hinaus kann man sich fragen, wieso wir die Jungs überhaupt wieder ans Lesen bringen müssen, wenn sie das doch augenscheinlich gar nicht vermissen. Mal davon abgesehen, dass dem Büchermarkt dadurch ein enormer Teil des Absatzes durch die Finger geht, macht es doch die Welt nicht besser, wenn mehr Männer Bücher lesen, oder?
Der Welt hilft es wahrscheinlich nicht direkt. Aber gegen die andere männliche Krise des Jahres, die male loneliness epidemic, könnte es helfen. Schließlich bedeuten mehr lesende Männer in Straßencafés und mehr Bücherregale in Junggesellenwohnungen auch eine höhere Wahrscheinlichkeit auf heterosexuelle Verpartnerung.
Glaubst du nicht? Na, beweisen kann ich es nicht. Aber ich lasse einfach mal diesen einen von vielen Instagram-Accounts hier unbeaufsichtigt liegen, der den Namen “hot dudes reading” (Öffnet in neuem Fenster) trägt und 1,2 Millionen Followerin…*innen hat. Ups, da hätte ich fast nicht gegendert 😉
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https://ko-fi.com/cleolibro (Öffnet in neuem Fenster)Herzlichen Dank!
Ich freue mich sehr, heute den Beginn einer neuen Cleographie-Interviewreihe ankündigen zu können! Nach den langen und einsichtsreichen Gesprächen der Mama Messages (Öffnet in neuem Fenster) und Eltern Messages (Öffnet in neuem Fenster) von 2021 und 2022, starte ich diesen Sommer die erste Staffel einer Reihe von Kurzinterviews:
Was dir nie jemand sagt…
über Sex ab 50
In dieser Reihe stelle ich Menschen, die 50 Jahre oder älter sind, fünf Fragen dazu, wie sich ihr Sexleben entwickelt hat. Den Anfang macht die großartige Podcasterin und Körperakzeptanz Aktivistin Lio Brix (Öffnet in neuem Fenster)! Wenn du auch einmal dabei sein möchtest oder jemanden kennst, der*die interessiert ist, melde dich gerne bei mir!
Aber jetzt geht’s erstmal los mit Lio (58 Jahre):
Welche Stichworte beschreiben Sex ab 50 für dich am besten?
Lio: “Frei, leicht, angst- und schambefreit, lustvoll, selbstbestimmt.”
Was fühlt sich bei Sex ab 50 anders an als mit 30?
Lio: “Ich finde den Sex ab 50 unfassbar befreiend, weil ich keine Angst mehr vor einer Schwangerschaft haben muss. Das ganze Thema der Schwangerschaftsverhütung oder die Sorge, unter Umständen abtreiben zu müssen, hat mich lange belastet. Mir fällt erst im Nachhinein auf, wie sehr und wie befreit ich mich deswegen fühle, seitdem ich nicht mehr fruchtbar bin. Das fühlt sich mega schön an.
Außerdem habe ich das Gefühl, dass ich heute nicht mehr so sehr “performe” wie mit 30. Also, dass ich nicht mehr so dringend gefallen will oder so fixiert auf Praktiken bin, die sich mein Sexualpartner wünscht. Ich habe zum Teil Dinge gemacht, die ich nicht machen wollte, weil ich nicht nein sagen konnte, als ich jünger war. Umgekehrt konnte ich aber auch nicht sagen, was ich mir gerne gewünscht hätte.
Was auch sehr befreiend ist, ist, dass ich mir nicht mehr so viele Gedanken um mein Aussehen mache. Alt sein hat auch etwas ganz Schönes, weil ich keinen super flachen Bauch mehr haben muss, Falten und Speckchen haben kann und mir deswegen keinen Druck mehr machen muss. Deshalb fühlt sich der Sex über 50 für mich freier an als mit 30.”
Worauf willst du heute beim Sex (nicht mehr) verzichten?
Lio: “Ich habe erst mit der Zeit gelernt, wie wichtig mir Kommunikation und Konsens beim Sex sind. Darauf möchte ich auf keinen Fall mehr verzichten.
Genauso möchte ich nicht mehr darauf verzichten, mehrere Sexualpartner*innen zu haben. Das habe ich mir mit 30 nicht erlaubt, obwohl ich diese Vielfalt an Menschen, Begegnungen und Körpern abenteuerlich, wunderbar und schön finde.
Worauf ich heute allerdings verzichte, sind Menschen, besonders Männer, die sich nicht gut mit der vulvarischen Anatomie auskennen. Da bin ich sehr kritisch geworden und genieße es sehr, wenn ich auf Partner treffe, die sich damit sehr gut auskennen und mich deswegen auch sehr schön verwöhnen können.
Außerdem finde ich es toll, jüngere Männer zu daten und mit ihnen Sex zu haben, weil die sich meistens ein bisschen besser mit Kommunikation und Konsens beim Sex auskennen.”
Ist dir Sex heute wichtiger oder unwichtiger als mit 30?
Lio: “Sex hat für mich einen größeren Stellenwert bekommen als mit 30. Aufgrund der Tatsache, dass ich mit 30 alleinerziehend mit zwei Kindern war, habe ich das Bedürfnis nach Sex oft verdrängt. Zudem hatte ich schwierige Partner, weswegen es mir auch ganz recht war, dass Sex nicht so oft stattgefunden hat.
Heute ist Sex mir viel, viel wichtiger geworden. Vor allem habe ich mit 30 keine Ahnung gehabt, wie ich mich selbst gut mit Sex versorgen kann. Ich meine damit, wie ich an Sexualpartner*inen sozusagen herankomme (lacht). Das weiß ich heute auch viel besser.
Ich kann mir Sex heute nehmen. Ich hatte früher Freundinnen, die das auch schon in jungem Alter konnten, aber für mich war das irgendwie nicht möglich. Mit über 50 habe ich das erst gelernt und es ist ein total schönes Erlebnis für mich. Vor allen Dingen in Kombination mit der Freiheit, die ich dabei empfinde.”
Was hat dir nie jemand über Sex ab 50 gesagt?
Lio: “Ich habe immer an das Narrativ geglaubt, dass die Libido nach den Wechseljahren nachlassen würde. Mir hat niemand gesagt, dass sie auch gesteigert wiederkommen kann.
Mir hat auch niemand gesagt, dass es tatsächlich viele junge Männer gibt, die auf ältere Frauen stehen. Inzwischen weiß ich auch, dass das übrigens nicht nur auf Männer zutrifft, sondern auch auf Frauen - das hätte ich auch gerne vorher gewusst. Da bin ich vielleicht auch den üblichen Klischees auf den Leim gegangen (lacht).
Was ich auch gar nicht geahnt habe, ist, dass man sich auch mit über 50 nochmal neu erfinden kann und vor allem mal von diesem heteronormativen Sex wegkommt. Für mich bedeutet das, dass ich auch mit Frauen und verschiedenen Menschen Sex haben kann. Diese Klischees und Narrative habe ich leider damals alle so übernommen. Aber jetzt weiß ich endlich, dass das gar nicht der Fall ist und dass ich ausleben kann, was ich mir wünsche. Und das tue ich auch!”
Danke, Lio, für dein Vertrauen und deine inspirierenden Worte! Wenn das keine Lust auf mehr macht, dann weiß ich auch nicht 😄
Mehr von Lio Brix und mehr Antworten auf die Frage, wie sich das Sexleben von Frauen ab 50 gestalten kann, kannst du aktuell sogar in der ZDF Mediathek sehen! Lio und zwei andere spannende Frauen wurden für die Dokumentarsendung 37 Grad interviewt und mit der Kamera begleitet. Schau mal rein, es lohnt sich enorm!
https://www.zdf.de/video/reportagen/37-grad-104/37-106 (Öffnet in neuem Fenster)Außerdem hostet Lio den Podcast “Queens of Berlin (Öffnet in neuem Fenster)” (deutschsprachig), in dem ich auch schon zu Gast sein durfte! Der ausführliche und verständnisvolle Raum, den Lio eröffnet, sorgt für interessante und versöhnliche Gespräche zugleich.
Aber ein Newsletter, der das Stichwort “Bücher” im Titel trägt, kann auch nicht ohne Buchempfehlung auskommen.
Der heutige Titel polarisiert. Das schreibt die Autorin selbst in ihrem Nachwort, Menschen lieben oder hassen ihr Buch und rezensieren es auch entsprechend. Ich befinde mich aktuell doch sehr stark auf der “lieben” Seite.

Ich habe “Bat Eater (and other names for Cora Zeng)” innerhalb weniger Tage verschlungen. Der Roman ist - und ich meine das wirklich als Triggerwarnung - extrem blutig und brutal. Die Tatsache, dass es sich nicht um ein Bilderbuch handelt, rettet die Lesenden nicht vor deutlichen Bildern vor dem inneren Auge, die durch beinahe grotesk detaillierte Beschreibungen von verstümmelten Leichen, ihren Todesarten und Überresten ausgelöst werden.
Aber der erschütterndste und gleichzeitig bewegendste Aspekt des Buchs von Kylie Lee Baker ist die Hasskriminalität und die anti-asiatischen Rassismen, denen sich alle asiatischen Figuren ausgesetzt sehen. Situaiert im Corona Lockdown 2020 in New York City bekommen die Protagonistin, ihre Familie und Freund*innen die geballte Ablehnung einer ganzen Stadt zu spüren. Man schimpft sie “Fledermausfresser” und macht sie kollektiv für den Ausbruch der Pandemie verantwortlich. Auch wenn allen Beteiligten klar ist, dass Covid nur den bequemen Vorwand für das Ausleben mysogyn-sinophobischer Gewaltfantasien bildet.
Dieser Roman unterhält auf dieselbe leicht übelkeiterregende Weise, in der wir uns auch an Horrorfilmen ergötzen. Mit dem Unterschied, dass die Monster alle real sind. Die Geschichte in hundertfacher Form genauso passiert.
Ich weiß, das klingt alles genau NICHT nach guten Gründen dieses Buch zu lesen. Wenn du “Blut sehen” kannst, tus trotzdem, besonders, wenn du weiß bist und Corona durchlebt hast. Es ist lange her, dass mich ein Roman so tief bewegt hat. Und mir so eine unmissverständliche Lektion über die Auswirkungen von rassistischer Sprache und Stereotypen erteilt hat. Die Autorin selbst findet am Ende des Buchs noch einmal deutliche Worte:
…"many other marginalized people in the US face even more violent systemic racism. There would be no Stop Asian Hate movement without the advances of the Civil Rights Movement or the hard work and suffering of Black, Latine, and Indigenous communities. There is no justice for Asian Americans without justice for all BIPOC.
So please do not pity Cora Zeng while condemning Trayvon Martin. Anti-Asian hate is real and deserves attention, but it is only one symptom of a deeply broken society, and we cannot understand or stop it without acknowledging the danger of white supremacy and all the other people it has hurt. Do not let your empathy stop at the borders of your own community." - Kylie Lee Baker
…und auch nicht an den Grenzen Deutschlands oder Europas.
Am 11. Juli werde ich zum ersten Mal eine Lesung moderieren! Und zwar liest die umwerfende Lisa Opel in der Blutique, DEM Periodenladen in Berlin Fhain, zwei ihrer scharfen Kurzgeschichten vor. Es wird, man kann es erahnen, um hotte und non-chalante Darstellungen von Menstruationssex und anderen sexy Tabus gehen. Im Anschluss gibt’s dann noch ein Q&A mit Lisa und mir über Feuchtigkeit, Fantasien und die Kunst entspannt über Sex zu reden.
Tickets gibts unter diesem Link (Öffnet in neuem Fenster), beim Periodenladen. Lasst euch das nicht entgehen!

Du möchtest mit mir über etwas, das du bei mir gelesen oder gehört hast, sprechen? Dann kannst du mich über meine Website (Öffnet in neuem Fenster) erreichen oder mir bei Instagram eine DM (Öffnet in neuem Fenster) schreiben. Ich freue mich auf deine Gedanken!
Danke für’s Lesen und liebe Grüße von
Cleo
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