Die CDU kann es korrigieren - wird es aber nicht tun.
Nachdem die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf – und in dem Zusammenhang auch der beiden anderen Kandidierenden – von der Tagesordnung im Bundestag genommen wurde, stellen sich zwei zentrale Fragen: Wer ist daran schuld? Und wie kann es jetzt weitergehen?

Ist das wirklich so dramatisch?
Zunächst kann man die Frage nach der Relevanz stellen: Ist das eigentlich so dramatisch, wie es aktuell wirkt? Das Thema ist sehr medienpräsent und wird von vielen sehr emotional behandelt.
In Anbetracht der Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsorgan und höchstem Organ der Judikative ist es durchaus wichtig, dass die Richter:innen pünktlich und planmäßig gewählt werden. Auch die Auswirkungen auf die Zusammenarbeit in der Koalition können durch diesen Vorgang nachhaltig negativ beeinflusst werden.
Demzufolge ist die Situation durchaus ein Stück weit dramatisch – zumindest kann man nüchtern feststellen, dass es derzeit das relevanteste Thema der Bundespolitik ist.
Wer trägt die Schuld?
Die Schuldfrage lässt sich in Bezug auf die beteiligten Parteien bzw. Fraktionen kurz und einfach beantworten: Es war die Union.
Die Union hatte sich bereits vor mehreren Wochen mit SPD und Grünen auf die Kandidierenden geeinigt und damit ihre Zustimmung zu Frau Brosius-Gersdorf zugesagt. Diese Zusage wurde von den Abgeordneten der Union im zuständigen Ausschuss auch entsprechend umgesetzt. Doch am Morgen des Wahltags machte die Union einen Rückzieher – offenbar, weil sie realisierte, dass es zu viele Abweichler in den eigenen Reihen gab.
Berufen hat man sich auf angeblich im Raum stehende Plagiatsvorwürfe. Diese wurden jedoch direkt im Anschluss ausgeräumt bzw. haben nie glaubhaft existiert.
Nun könnte man meinen, dass die Zweifel in der Union mittlerweile ausgeräumt seien – doch auch jetzt ist das scheinbar nicht der Fall. Die Union hat also eine Zusage gegeben, diese im Ausschuss nicht eingehalten – und ist selbst nach Entkräftung der eigenen Begründung nicht bereit, diese Zusage umzusetzen.
Wo liegt das Problem innerhalb der Union?
Geht man innerhalb der Union auf Ursachenforschung, wird die Schuldfrage etwas komplizierter: Hat die Fraktionsführung nicht ausreichend mit der Fraktion kommuniziert? Oder haben die Abweichler:innen sich nicht rechtzeitig mit dem Thema beschäftigt und mit der Fraktionsführung gesprochen?
Diese Frage können vermutlich nur die unmittelbar Beteiligten sicher beantworten – möglicherweise ist es eine Kombination aus beidem.
Legitime Gewissensentscheidung?
Grundsätzlich ist es natürlich legitim, einen Kandidierenden aus Gewissensgründen abzulehnen. Doch das ergibt nur in eng begrenztem Rahmen Sinn – insbesondere dürfen dabei nicht Politik und Recht durcheinandergebracht werden.
In der Debatte entstand teils der Eindruck, Frau Brosius-Gersdorf solle nun quasi als neue „Gesetzgeberin“ in Bezug auf das Abtreibungsrecht gewählt werden. Doch das Bundesverfassungsgericht interpretiert ausschließlich den verfassungsrechtlichen Rahmen – es erlässt keine Gesetze.
Wenn das Gericht feststellt, dass der Bundestag das Abtreibungsrecht liberalisieren darf, heißt das weder, dass der Bundestag das tun muss, noch dass es gut wäre, wenn er es täte. Genauso ist beispielsweise im privaten Leben mehr erlaubt, als man tun sollte – und das ist in einem liberalen Rechtsstaat durchaus sinnvoll.
Entscheidend sind daher nicht politische Positionen, sondern fachliche, verfassungsrechtliche Kompetenz. Dass es eigentlich genau darum geht, zeigt auch die Tatsache, dass sich die Union auf angebliche Plagiatsvorwürfe berief – also auf ein Argument, das fachliche Zweifel zumindest nahelegen sollte - obwohl diese nie fundiert bestanden.
Unter diesem Gesichtspunkt ist es zwar möglich, dass einige Abgeordnete noch ernstafte Gewissenbisse haben, es erscheint aber bei den schwachen in der Debatte vorgebrachten Argumenten eher unwahrscheinlich, dass es tatsächlich so viele Abgeordnete sind.
Gewissensentscheidung mit Verantwortung
Dass Abgeordnete sich bei Entscheidungen auf ihr Gewissen berufen, ist grundsätzlich richtig und gewünscht. Das darf aber nicht bedeuten, das eigene Denken auszuschalten.
Eine Gewissensentscheidung heißt nicht, dass man nur dann zustimmt, wenn man mit einer Person in allen Punkten oder mit einem Gesetz in jedem Satz übereinstimmt. Das Gewissen sollte das Bewusstsein für die eigene staatspolitische Verantwortung einschließen.
In vielen Fällen besteht diese Verantwortung etwa darin, eine handlungsfähige Koalition zu erhalten, in der alle Kompromisse eingehen müssen. In diesem Fall besteht die Verantwortung zusätzlich darin, einen funktionierenden Verfassungsstaat zu gewährleisten – und somit das Bundesverfassungsgericht planmäßig besetzen.
Da die Wahl der Richter:innen eine Zweidrittelmehrheit der anwesenden Abgeordneten erfordert, muss ein parteiübergreifender Minimalkonsens ausreichend sein - ohne 100%-ige Übereinstimmung.
Wie kann es nun weitergehen?
Eine Möglichkeit wäre, dass sich die Union sortiert – und Frauke Brosius-Gersdorf doch noch gewählt wird.
SPD, Grüne und Linke verfügen gemeinsam über 269 Abgeordnete. Wenn diese geschlossen zustimmen, wären maximal 152 Stimmen aus der Union nötig – bei 208 Unionsabgeordneten. 50–60 Abweichler:innen wären also nicht automatisch ein Ausschlussgrund – insbesondere dann nicht, wenn man einen Teil davon überzeugt, gar nicht an der Abstimmung teilzunehmen. Das wäre ein sinnvoller Kompromiss zwischen dem eigenen Gewissen hinsichtlich der Positionen der Kandidatin und der Verantwortung gegenüber dem Verfassungsstaat.
Falls es jedoch zu viele Abweichler:innen gibt, gäbe es eine weitere Möglichkeit, die Situation ehrlich und verantwortungsvoll zu lösen: Die Union entschuldigt sich glaubhaft für ihr Verhalten – insbesondere für die fälschliche Zustimmung in Fraktionsführung und Ausschuss – und bittet darum, sich gemeinsam auf eine neue Kandidatin zu verständigen.
Damit diese Entschuldigung glaubhaft ist, könnte man eine Maßnahme ergreifen, die in sozialen Netzwerken bereits ironisch diskutiert wurde: Man tauscht Spahn gegen Brosius-Gersdorf. Wenn Jens Spahn als verantwortliche Figur zurücktritt, könnte dies eine ernstgemeinte Entschuldigung unterstreichen.
Wahrscheinliches Szenario – tragisch, aber realistisch
Leider halte ich beide Optionen für unrealistisch. Wahrscheinlich wird am Ende Frauke Brosius-Gersdorf selbst die Verantwortung übernehmen, die eigentlich der Union zusteht. Sie wird ihre Kandidatur zurückziehen – und damit den Weg für eine neue Person freimachen und die Koalition retten.
Man kann sich im Voraus bei ihr bedanken – und zugleich festhalten, dass es Bürger:innen gibt, denen das Versagen der Union in diesem Vorgang bewusst ist und bewusst bleiben wird.