Mai // Marsha P. Johnson
Ich stelle mir gern Marsha P. Johnson an einem ganz gewöhnlichen Tag vor. An jenem alltäglichen, unspektakulären Tag, von dem wir niemals erfahren werden, wie er ausgesehen haben könnte, weil sich bis vor Kurzem kaum jemand für die Figur der trans* Aktivistin des vergangenen Jahrhunderts interessierte. Die wenigen Quellen, die wir über sie haben, konzentrieren sich fast ausschließlich auf ihren Kampf für die Rechte von Transmenschen und der LGBTQ+-Community. Doch sie sich in der banalen Alltagsroutine auszumalen heißt, ihr ein Stück Würde, Leben und vielleicht sogar das Zuhause zurückzugeben, das sie letztlich nie besaß.
Wie sähe ihr Tag aus, hätte sie einen sicheren Ort auf dieser Welt, einen eigenen Kleiderschrank, in den sie all die engen Kleider hängen könnte – mit einem Extrafach für die fantastischen Outfits ihrer abendlichen Drag-Queen-Shows? Wenn sie eine Küche hätte, ihre eigene, in der sie morgens an der Gasflamme Zigarette um Zigarette anzündete und, an die Fensterlaibung gelehnt, beim Warten auf den Kaffee eine der erwachenden New Yorker Seitenstraßen betrachtete? Könnte sie dem Nachbarn gegenüber zuwinken und er rief zurück: „Hey, Queen, wie viele Herzen hast du diese Nacht erobert?“ Würde sie dann ein langes Bad in der winzigen Wanne nehmen und sich im Spiegel zulächeln, während eine künstliche Wimper lustig am Lid baumelte, um sie dann vorsichtig neben die Parfümflakons und roten Lippenstifte zu legen … und in der Wanne weiterplanen, was in einer Stunde, am Abend und an den folgenden Tagen passieren soll?
Vielleicht verabredete sie sich mit ihrer langjährigen Freundin Sylvia Rivera, um den Plänen für ein STAR-Haus Form zu geben – ein Heim für trans* Kids, die sofortige Hilfe brauchen: „Sylvia, Schatz, schenken wir diesen Kindern eine Kindheit, die wir selbst nie hatten.“ Darüber würden sie bei der dritten Tasse Kaffee im vertrauten Eckcafé diskutieren. Doch vorher legte Marsha ihre Lieblingsplatte auf, warf – ohne die nächste Zigarette aus dem Mund zu nehmen – alles, wonach ihr an diesem sommerlichen New Yorker Vormittag war, schwungvoll aufs Bett: Nylonstrümpfe, hochgeschnittene Unterwäsche, einen umwerfenden BH in Pfirsichfarbe und ein Blumenkleid, das Herzstillstand verdient. Perücke, Make-up und Schmuck kämen erst ganz zum Schluss – ihr Markenzeichen, von dem sie eine beachtliche Sammlung im Flur hortet, über deren Auswahl sie je nach Laune in letzter Minute entschiede.
Dann klingelte vielleicht das Telefon, und Marsha, im Kampf mit dem Reißverschluss des Kleides, rannte auf einem einzigen Schuh hinüber, um die Nachricht entgegenzunehmen, dass man sie heute Abend als Ersatz im Showprogramm brauche. Wäre sie bereit? Natürlich!
Doch all das ist nur Fantasie, eine literarische Vision – nicht das wirkliche Leben von Marsha P. Johnson. Es gab kein sicheres Zuhause, keine Akzeptanz der Nächsten und keine Zustimmung der Welt zu dem Menschen, der sie sich fühlte und zu dem Platz, den sie darin einnehmen wollte. Kein eigenes Haus, keine eigene Küche, kein Bad, kein Bett, kein imaginärer Nachbar. Stattdessen gab es Obdachlosigkeit, Prostitution und ein Leben von Tag zu Tag. Es gab Demütigungen, Übergriffe und Verhaftungen. Es gab Angst – und den Kampf um Würde und Anerkennung. Nicht nur für sie, sondern für die gesamte Community, die sich im Amerika der sechziger Jahre rund um das Stonewall Inn sammelte, die in einer stürmischen Nacht endlich begann, sich zu verteidigen und die kollektive Stärke ihrer Minderheit spürte.
Es gab die kraftvolle Freundschaft mit der realen Sylvia Rivera und gemeinsames Aktivistentum, das in der Gründung der Street Transvestite Action Revolutionaries (STAR) gipfelte. Es war ein Leben am Abgrund, geprägt von Krankheit – AIDS, das in jener Zeit erbarmungslos wütete und auch Marsha nicht verschonte. Und es gab den Tod: Marsha P. Johnsons rätselhaften Tod im Hudson River – ohne echte Ermittlungen, brutal ignoriert, scheinbar bedeutungslos.
Ich glaube, jeder heute verfasste Artikel über sie, jeder Versuch, ihr Leben zu rekonstruieren, ist eine verspätete, aber notwendige Geste der Würdigung. Für mich persönlich ist sie bis heute eine unglaublich inspirierende Figur: eine Frau aus freier Wahl, eine Hyperfrau – ein vibrierendes Leben voller Energie.
“I don’t know what I am if I’m not a woman.”
