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Politischer Diskurs im Kollaps: alles nur noch Taubenschach

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Die Herausforderung der Kommunikation: Was bedeutet “Taubenschach spielen” in komplexen Interaktionen? Von Elianne van Turennout.



Liebe Leute,

es war einmal eine Person, die richtig gut Schach spielen konnte.

Ob Capablanca oder Fischer, ob Spassky, Kasparow oder Carlsen, diese Person konnte jede große Partie der Schachgeschichte im Kopf Zug um Zug nachspielen. Ob E2 – E4 oder B1 – C3, diese Person wusste immer den richtigen Eröffnungsmove, kein Gegner konnte sie in Bedrängnis bringen, und am Ende fiel der gegnerische König mit einer Regelmäßigkeit, die nahelegte, dass es sich hier um ein Naturgesetz handelt: “Beim Schach gewinne immer ich! Les échecs, sont moi!”

Eines Tages traf diese Person auf eine Taube, und forderte sie zu einer Partie heraus – kein Problem, dachte unsere Schachkoryphäe, denn beim Schach gewinne ja immer ich. Aber kurz nach Beginn der Partie wurde klar: die Taube kann gar kein Schach spielen. Oder vielleicht will sie es nicht, auf jeden Fall tut sie es nicht: sie schiebt den Läufer gerade übers Brett, nicht diagonal, klaut einfach gegnerische Figuren, wenn sie glaubt, dass niemand hinschaut, setzt sich über Regeln hinweg... und als am Ende trotz allen Schummelns und Bescheißens und Chaos-stiften die Taube trotzdem droht, das Spiel zu verlieren, springt sie auf den Tisch, schmeißt die verbleibenden Figuren um, kackt aufs Brett, und erklärt sich trotz allem zum Sieger der Partie.

Das ist die Parabel vom Taubenschach. Ich erzähle sie Euch, weil heute mal wieder einer dieser Tage ist, an denen es so wirkt, als wären die politischen Debatten der Zeit eine einzige, endlose Partie Taubenschach. Das ist natürlich nicht wirklich überraschend, denn in einer Gesellschaft, die ihr eigenes Polyscheitern im Kollaps verdrängt, tendiert jede politische Diskussion zum Taubenschach: da verdrängende Menschen die Realität nicht wahrnehmen wollen, und üblicherweise auf die Konfrontation mit der Realität mit Dissoziation und Brutalität reagieren, ist die Verdrängungsgesellschaft selbst die Taube, die das Diskursschachbrett der bürgerlichen Öffentlichkeit (also: ihr eigenes) vollscheißt und am Ende zerstört.



Taubenschach die Erste: das IGH-Klimaschutz-Gutachten

Gestern hat der Internationale Gerichtshof in einem Gutachten (Öffnet in neuem Fenster) eine “saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt” als Menschenrecht bezeichnet, und – dies das “Neue” am Gutachten – festgestellt, dass geschädigte Länder unter Umständen einen Anspruch auf Reparationen haben können. Die verbleibende Klimaszene jubelt, Fridays for Future twittert begeistert (Öffnet in neuem Fenster), dass sich nun endlich alle Klimapolitik am 1,5 Grad Limit orientieren müsse (im Gegensatz zu vorher?), und alle, aber jetzt wirklich ALLE Staaten verpflichtet seien, Klimaschutz zu betreiben. Auch die Nachrichten sind voll davon, von Heute über die Tagesschau bis zur DLF Presseschau, Alle scheinen der Meinung zu sein, hier sei eine echte Lanze für den Klimaschutz gebrochen worden, jetzt endlich würde es mit der ganzen Klimasache wieder mal nach vorne gehen.

Aber das ist natürlich Quatsch: in den vergangenen Jahren haben Regierungen überall auf der Welt gezeigt – nicht zuletzt in Deutschland nach dem 2021 BverfG-Urteil, welches das “Klimapaket” der Bundesregierung als grundgesetzwidrig einstufte, aber auch in der Schweiz, wo der Bundesrat einen Spruch des Europäischen Gerichtshofs zum Klimaschutz (Stichwort: Klimasenior*innen) einfach mit Ansage ignorierte – dass sie sich von der Judikative nicht zum Klimaschutz zwingen lassen. Politisch ist das gut nachvollziehbar: warum sich von einem Gericht zum Klimaschutz zwingen lassen, wenn dies zu tun mit absoluter Sicherheit eine massive rechte Gegenmobilisierung nach sich ziehen würde (vgl. “Heizungsgesetz”), es nicht zu tun aber ein politisch sehr populärer Move wäre?

Closeup auf irgendeine europäische Politiker*in: “Die Eierköpfe in Brüssel/Karlsruhe/Straßburg wollen uns dazu zwingen, unsere Wirtschaft zu zerstören, unser Land zu deindustrialisieren! Was sagen wir dazu?”

Kameraschwenk, jetzt ist eine grölende Menge Nationalfahnen-schwenkender Menschen zu sehen: “NIEMALS! XYZLAND ZUERST! KLIMA GIBT'S GAR NICHT!”

Es gibt also keinen Pfad, auf dem dieses Gutachten (es war ja nicht einmal ein Urteil) zu mehr Klimaschutz führen würde, trotzdem feiern die Verdrängungsklimas es ab, als hätten die letzten fünf Jahre, das gesellschaftliche Abwenden vom Klimaschutz nie stattgefunden. Mit einer Verdrängungsgesellschaft über Klimaschutz zu reden ist Taubenschach, das wird in Zukunft nur noch schlimmer werden.



Taubenschach die Zweite: die Israel-Gaza-Debatte

Bis vor wenigen Wochen verteidigten die “bedingungslos Israelsolidarischen” noch die Linie, dass das genozidale Vorgehen des siedlerfaschistischen israelischen Regimes im Gaza weder menschen- noch völkerrechtswidrig sei, weil, es handele sich ja um legitime Selbstverteidigung gegen die Hamas, deren geheime Kommandozentralen unter jedem einzelnen refugee tent, jedem Krankenhaus, und natürlich in größeren Gruppen verhungernder Menschen vor den Nahrungsausgabefallen der “Gaza Humanitarian Foundation” (der Name ist in etwa so, als würde die AfD sich “Alternative für Menschenrechte” nennen) zu finden seien.

Mittlerweile wird sogar in Deutschland, dem Land, das jegliches Fehlverhalten israelischer Akteure härter verdrängt, als der Rest der Welt, mittlerweile wird sogar hier klar, dass der Massenmord an bald 60.000 Palästinenser*innen, das Einsetzen von Hunger als Kriegswaffe, die Transformation des Gazastreifens in die “Hölle auf Erden (Öffnet in neuem Fenster)” absolut menschen- und völkerrechtswidrig ist. So schrecklich diese Tatsache ist, immerhin war hier ein intellektueller und ethischer Fortschritt, ein bisschen genuine habermasianische kommunikative Praxis, ein Hauch des gegenseitigen Verstehens.

Und genau deswegen, weil die bedingungslos Israelsolidarischen einen kurzen Moment von der Realität gezwungen waren, ihre praktische Menschenverachtung intellektuell und ethisch zu konfrontieren, beginnt hier wieder das Taubenschach. Heute morgen hörte ich in der DLF-Presseschau (Öffnet in neuem Fenster) einen Satz, der wortgleich schon in der Presseschau vom Tag davor z (Öffnet in neuem Fenster)itiert wurde, eine Ehre, die nur wenigen Aussagen zugute kommt: “Deutschland jedenfalls wird mit dem Zwiespalt leben müssen, dass es die Existenz des Staates Israel über diese Normen gestellt hat – als Preis, den die historische Schuld des Holocaust fordert.” (gestern in der Südwest Presse, heute in der Märkischen Oderzeitung)

So let me get this straight: ja, Menschen- und Völkerrecht sind universell, das steht ja schon im Namen drin. Aber weil Deutschland 6 Millionen Jüd*innen vernichtet hat, darf Israel jetzt massenhaft Palästinenser*innen ermorden? Deutsche Schuld, aber palästinensisches Leid? Ihr seht, die Konstruktion des “Arguments” ist derart absurd, dass es unmöglich ist, es mit rationalen Punkten zu kontern, denn es bezieht sich ja auf etwas irrationales, nämlich Schuld. Also sagt die deutsche Taube: “Nein, wenn es um Israel geht, dann gelten all die Werte und Normen nicht, von denen wir sonst behaupten, sie hätten universelle Gültigkeit. Also entscheiden wir, wann was gilt, und wann was nicht gilt. Der Diskurs hat keine Regeln mehr, I win.” Taubenschach halt.

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Taubenschach die Dritte: Brosius-Gersdorf

Die dritte Taubenschachpartie, an der ich in den letzten Wochen zumindest in den sozialen Medien teilhaben durfte, war die von rechtsradikalen Netzwerken gepushte “Debatte” über und das schlussendliche Demontieren von Frauke Brosius-Gersdorf als Bundesverfassungsrichterin. Ich will das hier gar nicht im Detail breittreten, werde also nicht auf die ziemlich erschreckende Tatsache eingehen, dass es in der Union einen AfD-offenen Flügel gibt, der willens und in der Lage ist, die Koalition lahmzulegen, was bedeutet, dass meine Vorhersage (Öffnet in neuem Fenster), es könnte in der BRD frühestens ab 2027 eine Bundesregierung mit AfD-Beteiligung geben, mittlerweile etwas optimistisch erscheint.

But that's not my main point, es geht mir hauptsächlich darum, dass in der Debatte um Brosius-Gersdorf eines völlig klar wurde: die Validität von brandolini's law. Dieses besagt, dass der Energieaufwand, der notwendig ist, um postfaktischen Bullshit zu entkräften, mehrere Größenordnungen höher ist, als der Aufwand, der notwendig ist, um besagten Bullshit zu produzieren. D.h. konkret, dass ich zwar durchaus einem rechten/antifeministischen Troll widersprechen kann, der die Bullshitbehauptung aufstellt, Brosius-Gersdorf (BG) sei eine “linksradikale Aktivistin”, das tatsächliche Widerlegen seiner Punkte aber deutlich mehr Arbeit für mich produzieren würde: ich müsste erstmal recherchieren, was BG denn in der Vergangenheit gesagt und geschrieben und getan hat. Da würde ich natürlich herausfinden, dass BG mitnichten Linksradikale, zB Antikapitalistin ist, eher ist sie eine Ordoliberale, die Privat- vor Gemeinschaftseigentum stellt, und die noch nie, kein einziges Mal mit “linksradikalen Positionen” irgendwo aufgetaucht ist.

All dies wurde den Rechten auch entgegengeschleudert, die Presse berichtete breit von einer “rechten Kampagne” gegen die Juristin, und Teile der Union geben kleinlaut zu, in der Hinsicht von rechten Influencern getrieben worden zu sein. Alles gut also, Punkt für die Rationalität? Mitnichten, weil trotz dieser Eingeständnisse mächtige Unionsgranden wie zB Markus Söder nun darauf bestanden, dass BG ja durch die Debatte derart beschädigt sei, dass sie nun nicht mehr wählbar wäre. Und bingo hat die Taube schon wieder gewonnen: zuerst ohne sachlichen Grund eine Person als Kandidatin beschädigen, dann zwar einsehen, dass es keine sachlichen Gründe gibt, aber trotzdem darauf beharren, dass man keine “damaged goods” wählen würde.

Etwas außergewöhnlich an dieser Debatte war, dass hier mal die Verdrängungsmitte selbst Opfer von Taubenschachstrategien wurde: es war von Anfang an klar, dass der Vorwurf der “linksradikalen Aktivistin” nicht in Fakten gründete, dass es hier nur um strategische Angriffsdiskurse ging, und die Debatte folgerichtig auch nicht den Regeln rationaler Diskurse folgen würde. Put differently, wenn eine mittig-ordoliberale Juristin erfolgreich als “linksradikale Aktivistin” diffamiert, und so ihre Wahl zur Bundesverfassungsrichterin verhindert werden kann, dann haben Worte keine Bedeutung mehr, dann sind wir mit diesem Vorgang einen großen Schritt weiter in den Trumpismus gegangen, der von der Union, wie wir in der Causa BG erleben mussten, immer aktiver vorangetrieben wird. Und wer den Trumpismus ein wenig versteht, hat auch verstanden: wer die rechten Arschlöcher ernst nimmt, wer glaubt, dass die ernst meinen, was sie sagen (das meint nicht die Drohungen: die meinen sie ernst. Es ist die Begründung ihrer paranoiden politischen Positionen, die keinen rationalen Diskursregeln folgt), wird darin wahnsinnig werden. Wer einen Lügner ernst nimmt, ist halt selbst Schuld dran. Fool me once, shame on you. Fool me twice...

Zum Schluss: farewell to The Late Show mit Stephen Colbert

Und diese letzte Tatsache hat ein Großteil des bürgerlichen Deutschlands noch nicht verstanden. Wie sonst können wir die Debatte um die grandiose Aktion des Zentrums für Politische Schönheit gegen Alice Weidel und ihre Hofierung durch die ARD verstehen, in der ein Großteil der deutschen Presse ohne jede Faktenbasis dem ZPS vorwarf, durch Protest gegen die AfD die AfD zu stärken? Tatsache ist, dass alle bisherige Forschung zum Thema das Gegenteil nahelegt (Öffnet in neuem Fenster), dass Protest gegen Faschist*innen diese üblicherweise schwächt (der Mechanismus ist: der Protest bestätigt zwar die schon überzeugten Parteigänger*innen, schreckt aber manche ab, die am Überlegen sind, sich den Faschos anzuschließen).

D.h., in ihrer verzweifelten Selbstverteidigung greift “sogar” die angeblich ach so rationale und eben gerade nicht postfaktische bürgerliche Presse zu postfaktischem Bullshit, weil sie nicht akzeptieren kann, dass sie mit ihren rationalistischen Diskursstrategien nichts aber auch gar nichts gegen den Aufstieg des Faschismus getan, sondern, wie das schon 2016 in den USA eingesehen wurde, diesem beim Aufstieg sogar geholfen hat. Wieso? Weil schon der Versuch, mit Faschist*innen so zu reden, als wären sie “normale” Teilnehmer*innen des politischen Diskurses, anstatt Lügner- und Verbrecher*innen, dem Faschismus ein wenig die Tür öffnet – Göbbels (Öffnet in neuem Fenster) hatte dazu bekannterweise mal was gar nicht so dummes zu sagen, was heute als Mahnung für alle Demokrat*innen stehen müsste: „Das wird immer einer der besten Witze der Demokratie bleiben, dass sie ihren Todfeinden die Mittel selber stellte, durch die sie vernichtet wurde. Aus der demokratischen Dummheit ließ sich vortrefflich Kapital schlagen.“

Der deutsche Journalismus, das deutsche Bürgertum, hat dies immer noch nicht verstanden, will partout nicht einsehen, dass wir uns schon lange im antifaschistischen Verteidigungsfall befinden, und es nicht gilt, die AfD “wie eine normale Partei zu behandeln”, sondern sie by any means necessary zu bekämpfen, weil, wie schon mehrfach geschrieben, der Faschismus die gesellschaftliche Totalkatastrophe ist. Schon vor über 20 Jahren verstand ein US-amerikanischer Comedian dies: Jon Stewart, dessen Daily Show in der Zeit von Bush Junior begann, das Verhältnis von Realität, News und Comedy zu revolutionieren. Stewarts brilliante Einsicht war, dass es keinen Sinn ergibt, die Aussagen von Menschen ernst zu nehmen, die sich selbst vollkommen der Tatsache bewusst sind, dass sie Bullshit reden, und die Administration von Bush Junior war der Moment, an dem Karl Rove (“you live in what we call 'the reality-based community') den Startschuss für das Rennen in die Irrationalität gab, das später von Kellyann Conway (“alternative facts”) souverän gewonnen wurde.

In einer Zeit, wo politischer Diskurs zunehmend postfaktischer Bullshit ist, und politische Debatten zunehmend Taubenschach werden, ist es sinnlos, wie der deutsche Journalismus es weiterhin tut, die Bullshitproduzent*innen so zu behandeln, als wären sie rationale Diskurteilnehmer*innen. Jon Stewart verstand dies, und auf ihn folgend die gesamte Riege amerikanischer News-Comedians (Jimmy Kimmel, Seth Meyers, Samantha Bee, John Oliver...). Deswegen findet Trump diese auch viel, viel nerviger, als die “ernste” Presse, denn nur die Comedians können seine Aussagen wie das behandeln, was sie wirklich sind: Bullshitlügen eines unsicheren, traumatisierten Mannes, die inhaltlich ernst zu nehmen einfach nur Zeitverschwendung wäre. Als Aussagen, über die sich lustig zu machen politisch zielführender ist, als zu versuchen, sie faktisch zu widerlegen.

Und deswegen hat Paramount gerade die legendäre The Late Show mit Stephen Colbert gecancelt: eine Show, die ich seit 2016 eigentlich jeden Tag schaue, an dem sie ausgestrahlt wird, weil liberal dad of the nation Colbert seit bald einem Jahrzehnt Trump demontiert. Weil er ihn nicht ernst nimmt. Weil er ihm und uns zeigt, was für ein windbag Trump ist. Weil er Trump und den Faschismus besser versteht, als die “ernsten” Medien.

Stephen: you will be missed. Please find a way to come back. Und an die deutsche Medien- und Politwelt: fangt doch einfach mal an, postfaktischen Bullshit als genau solchen zu bezeichnen, lernt, was es mit brandolini's law auf sich hat, und seht ein, dass rationalistische Diskursstrategien im Kampf gegen den Faschismus (und die Klimakatastrophe) gescheitert sind. Aber das geht natürlich nicht. Und genau deswegen: wird's immer mehr Taubenschach geben.

Mit extrem urlaubsreifen Grüßen (bin nächste Woche endlich eine Woche weg :)),

Euer Tadzio

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