Zum Hauptinhalt springen

Lesen, tanzen, rauchen

Von Hasnain Kazim - Wahrheit und Wahrnehmung / “Weltweite Tabakrauchkultur” / Leseneid / Welthit in fünf Minuten / Sachsen

Liebe Leserin, lieber Leser,

sich der Realität zu verweigern, führt selten zu etwas Gutem. Erinnern wir uns: In dem Roman “1984” von George Orwell wollen viele Figuren, vor allem die breite Bevölkerung, die Warheit nicht akzeptieren, obwohl sie sie ahnen; es ist ein kollektives Wegsehen. In “Die Verschwörung der Idioten” von Ignatius J. Reilly, einem Buch, das ich kürzlich erst gelesen habe, lebt die Hauptfigur in einer selbstgerechten Fantasiewelt und sieht die Schuld für ihr Scheitern ausschließlich bei anderen. Und wenn ich mich recht erinnere, ignoriert und verdrängt auch die Familie von Gregor Samsa in Franz Kafkas “Die Verwandlung” die Käferwerdung Samsas.

Als Journalist muss man genau hinschauen, die Realität in all ihren Facetten aufsaugen. Man muss sich mit jedem Übel in seinem Berichterstattungsgebiet befassen und auseinandersetzen und gleichzeitig darauf achten, dass man das Leid und die Trauer nicht zu seinem Leid und zu seiner Trauer macht, dabei aber nicht verhärtet, unempathisch oder gar zynisch wird. Nicht immer einfach.

Seit fünf Jahren arbeite ich nicht mehr als Journalist, sondern als Autor, und ich erlaube mir den Luxus, hier und da weniger Nachrichten zu konsumieren. Diese Woche zum Beispiel habe ich davon Gebrauch gemacht, denn, meine Güte, das war wirklich hart. Der Amoklauf eines jungen Mannes an einer Schule in Graz, der Absturz einer Boeing 787 (“Dreamliner”) in Indien, die diversen andauernden Kriege und Konflikte.

Ich stecke nicht den Kopf in den Sand, aber ich muss nicht jedes Detail über diesen Gestörten wissen, der mit zwei Schusswaffen in seine alte Schule rennt, ich muss mir keine Fotos und Videos von Passagieren anschauen, die diese noch kurz vor dem Start ihrer Unglücksmaschine fröhlich an ihre Familien gepostet hatten. Und ich lese auch keine Geschichten mehr von Leuten, die in reiner Willkür von machtberauschten US-Grenzbeamten festgehalten und schikaniert werden; ich habe sowieso beschlossen, dass ich, wenn es sich vermeiden lässt, nicht in die USA reisen werde, solange dort dieser Typ regiert.

Diese Woche habe ich also die Hauptnachrichten zur Kenntnis genommen - und dann aufgehört, irgendwelche “Hintergründe”, “Was wir alles über XY wissen - und was nicht” und groß angelegte Reportagen zu lesen.

Wie bei so vielem, ist das richtige Maß, die sinnvolle Menge das Ziel. Und manchmal ist weniger mehr. Zu wenig ist aber, wie gesagt, auch nicht gut. Sonst wird man noch wie Emma Bovary in “Madame Bovary” von Gustave Flaubert, die sich in romantische Träume flüchtet und hoffnungslos verschuldet. Und das wollen wir ja auch nicht.

Ach, Wien!

Ich rauche nicht. Beziehungsweise: doch. Ungefähr zwei Schachteln Zigaretten im Jahr. Mein Arzt sagte mal bei einer Routineuntersuchung: Jede Zigarette ist eine zu viel. Da hat er sicher Recht. Und ich weiß, wie schädlich rauchen sein kann: Mein Vater hat sein Leben lang geraucht, am Ende hat ihn das seine Gesundheit gekostet.

Aber ganz, ganz selten überkommt mich die Lust, und dann rauche ich doch eine. Auf die Idee, so einen Verdampfer oder eine E-Zigarette zu nutzen, käme ich nicht; mir kommt das vor, als würde man an einem USB-Stick lutschen.

Aber wie komme ich überhaupt aufs Thema Rauchen? Ach ja: Was ich an Wien so liebe, ist unter anderem diese ganz eigene Sprachverliebtheit. Man erlebt sie im Alltag. Neulich, ich war gerade unterwegs zu einem Termin, kam ich an einem Haus vorbei, da hing dieses Schild: “Freizeitverein zur Pflege der weltweiten Tabakrauchkultur”.

Wie wunderbar ist das, bitte?

Es ist, erstens, kein schnöder Verein, sondern ein “Freizeitverein”, ich weiß diese sprachliche Präzisierung zu schätzen. Dann ist es kein Laden, in dem einfach geraucht wird, nein, nein, dort wird etwas kultiviert und “gepflegt”, es ist also eine Institution “zur Pflege” von etwas. Und von was? Nicht einfach vom Rauchen, wo kämen wir denn da hin?, sondern von “Tabakrauchkultur”, und das, bitteschön, nicht nur in Wien-Alsergrund, sondern “weltweit”! “Freizeitverein zur Pflege der weltweiten Tabakrauchkultur” - alle Achtung!

Über diese Formulierung habe ich mich dann den Rest des Tages gefreut. Und trotzdem keine Zigarette geraucht.

Warum hat er ein Buch, das ich nicht habe?

In meinem Buch “Deutschlandtour” habe ich über eine Krankheit geschrieben: “Ich leide unter Tsundoku. Das ist ein japanisches Wort für die Angewohnheit, mehr Bücher zu kaufen, als man lesen kann. Wörtlich setzt sich der Begriff aus den japanischen Wörtern für ‘stapeln’ und ‘lesen’ zusammen: Man erwirbt Lektüre, die sich dann stapelt, ohne gelesen zu werden. Oder um später gelesen zu werden. Genau genommen, ist ‘leiden’ das falsche Wort: Ich leide nicht darunter. Im Gegenteil. Ich liebe meine Bücherstapel. Nur habe ich zu wenig Platz. Richtiger ist: Ich habe Tsundoku.”

Bei meinen vielen Bahnfahrten in den vergangenen Wochen und Monaten habe ich bei mir eine weitere Krankheit dieser Art diagnostiziert: Ich leide, ähnlich dem Futterneid, unter Leseneid. Wenn ich also im Zug sitze und jemand liest in meinem Umfeld ein Buch, dann versuche ich sofort herauszufinden, welches Buch das ist. Deshalb ärgere ich mich auch, wenn Leute alberne Bücherumschläge nutzen, womöglich mit Blümchen drauf, wie soll ich da den Titel erkennen? Kaum weiß ich es, schaue ich im Netz nach, um was für ein Buch es sich handelt. Gefällt es mir, wird es in der nächsten Buchhandlung gekauft oder bestellt.

Neulich las mein Sitznachbar in einem kleinen grünen Büchlein, es sah aus wie eine Bibel, und ich fand heraus, um was es sich tatsächlich handelte, bestelle es später in einer Buchhandlung, und nun lese ich es:

“Regeln für einen Ritter” ist von Ethan Hawke verfasst worden, dem Ethan Hawke, also dem Schauspieler. Erschienen ist es 2016. Auf der Rückseite steht: “Im Gewand eines mittelalterlichen Handbuchs für Ritter, versehen mit feinen Zeichnungen, erzählt der Autor und Schauspieler Ethan Hawke eine bezaubernde Geschichte, die uns erkennen lässt, worauf es wirklich ankommt im Leben.”

Ich habe nur kurz reingelesen und mir das Buch nun aufgespart für die nächste Zugreise. Aber da wird mir der Leseneid dann wieder andere Bücher bescheren.

Sehr alte Musik

So, wie wir als Jugendliche in den Achtziger- und Neunzigerjahren “alte” Musik für uns entdeckt haben - Elvis, Beatles, ABBA -, entdecken Jugendliche heute natürlich auch “alte” Musik.

Mein Sohn hat neulich das Lied “Alors on danse” entdeckt, ein Lied, das 2009 veröffentlicht wurde. Für den 1985 im belgischen Etterbeek geborenen Stromae - sein bürgerlicher Name ist Paul Van Haver - war das der internationale Durchbruch: Ein Jahr nach Erscheinen erreichte es in vielen Ländern den ersten Platz in den Charts, darunter in Deutschland, Frankreich, Belgien und in der Schweiz. Ich erinnere mich noch, dass ich das Lied sehr mochte und wir einmal in Islamabad auf unserer Dachterrasse dazu tanzten.

Mein Sohn entdeckte nun dieses sehr lustige Video, das zeigt, wie das Stück angeblich komponiert wurde:

https://www.youtube.com/watch?v=yXglp-lvBbI&t=11s (Öffnet in neuem Fenster)

Die Wahrheit mag anders aussehen, aber es zeigt doch das Faszinierende an Musik: dass sie so einfach sein, so leicht wirken kann und doch Welten bewegt.

Wir haben dann gemeinsam noch dieses Video entdeckt von einem kleinen Konzert, das Stromae dem wunderbaren National Public Radio (NPR) gibt: in der Reihe Tiny Desk Concert, die ich Ihnen überhaupt sehr ans Herz lege; da treten wunderbare Musiker auf. Hier das von Stromae:

https://www.youtube.com/watch?v=6dkDepLX0rk (Öffnet in neuem Fenster)

Viel Freude! Und nun lasst uns tanzen!

Grüße aus Sachsen!

Während Sie diese “Erbaulichen Unterredungen” lesen, verweile ich in Sachsen. Am Samstag habe ich beim Literaturfest Meißen gelesen. Die Zugfahrt von Wien nach Meißen war die Hölle, 120 Minuten Verspätung, Bordrestaurant geschlossen, Klimaanlage kaputt, es war die erste Lesung meines inzwischen 16-jährigen Lesungslebens, die verspätet begann… Aber schön war’s, tolles Publikum, gut besucht, nach der Lesung mit Freunden ein Bier am schönsten Platz der Stadt…

Am Montag lese ich in Bautzen, am Dienstag in Görlitz. Links zu den Veranstaltungen finden Sie auf meiner Seite www.hasnainkazim.com (Öffnet in neuem Fenster). Ich freue mich, die eine oder den anderen in Bautzen oder Görlitz zu sehen!

Und wie immer bekam ich, als ich diese Lesungen in Sachsen ankündigte, Kommentare wie: “Du bist mutig! Sehr mutig!” oder “Pass bloß auf dich auf!” oder “Warum fährst du zu den Nazis?”

Ich bin überzeugt, dass darin das Grundproblem liegt: dass Vorurteile und der Unwille, sie zu überwinden beziehungsweise genauer hinzuschauen und diejenigen zu unterstützen, die etwas Gutes tun, überwiegen. “Baut die Mauer wieder auf!”, man kennt das.

Natürlich haben viele Orte - auch die genannten - sich ihren schlechten Ruf hart erarbeitet. Brennende Flüchtlingsunterkünfte, Menschenjagden durch Innenstädte, die Wahlergebnisse von Rechtsextremisten, menschenverachtende Parolen auf Demos et cetera, das Image ist durchaus verdient. Das muss man benennen und kritisieren, immer wieder. Aber es ist eben auch so, dass es überall Menschen gibt, die dagegen ankämpfen, den Mund aufmachen, sich für Toleranz und Demokratie und Freiheit einsetzen. So wie wir - zu Recht! - sagen, man dürfe nicht “die Ausländer”, “die Muslime”, “die XY” über einen Kamm scheren, gilt das auch hier. Und daher halte ich es für falsch, sich derart abfällig zu äußern über diese Orte. Im Gegenteil: Sie sind unbedingt eine Reise wert, wirklich! Und trotzdem kann, soll, muss man kritisieren, was zu kritisieren ist.

Diese Orte sind keine Kampfzonen, in denen ich Angst haben müsste. Jedenfalls lasse ich mich nicht verängstigen. (Und ja, ich weiß, dass manche Menschen tatsächlich Angst haben müssen.) Und nein, ich bin nicht “mutig”, weil ich dorthin fahre. Ich möchte denen zuhören, die sich engagieren, auch denen, die Kritik haben, sie aber vernünftig vortragen, ohne ganze Gruppen zu diffamieren.

Ich war mal in Freiberg, Sachsen, zu einer Lesung. Ein lokaler “AfD”-Typ hatte vorher schon die Stadt und die Veranstalter kritisiert, weil die mich überhaupt eingeladen hatten. Später postete er auf Facebook etwas, das mir zeigen sollte, er wisse, in welchem Hotel ich mich aufhalte. Das sollte mich einschüchtern, mir vielleicht Angst machen, die Botschaft lautete: “Wir wissen, wo du dich aufhältst!” Welch primitives Verhalten! Lebt der noch in einem Überwachungsstaat? Offensichtlich denkt der Typ 35 Jahre später immer noch, dass dem so sei. Falls solche Leute glauben, ich ließe mich durch sie von einer Reise abhalten: Forget it.

Deshalb: Hello Sachsen!

Ich wünsche Ihnen einen geruhsamen Sonntag und eine schöne Woche! Lesen Sie, tanzen Sie, freuen Sie sich über die weltweite Tabakrauchkulturpflege - und unterstützen Sie die “Erbaulichen Unterredungen” mit einer Mitgliedschaft, damit ich mir die Zeit zum Schreiben von anderen Aufträgen freihalten kann. Bislang tun das leider nur 2,5 Prozent aller Abonnenten. Bis zum Jahresende müssen es fünf werden, damit ich weitermachen kann.

Herzliche Grüße derzeit aus Bautzen,

Ihr Hasnain Kazim

P. S.: Ich bekomme auf die “Erbaulichen Unterredungen” sehr viele Zuschriften und freue mich sehr darüber, lese tatsächlich alle. Ich bitte jedoch um Verständnis, dass ich nicht immer antworten kann bei der Vielzahl.

Nicht wenige Zuschriften beginnen in etwa so: “Ich bin ja oft Ihrer Meinung, aber…” - und ich möchte fragen: Wie kann man, bitte schön, nicht meiner Meinung sein?! Das ist mir ein Rätsel! Ich bin jedenfalls immer meiner Meinung! Immer!

Im Ernst: Was gibt es Interessanteres, als auch mal andere, vielleicht völlig fremde oder unerwartete Meinungen zu lesen/hören und anderer Meinung zu sein und sich darüber auszutauschen oder sich auch mal über die andere Meinung aufzuregen? Und selbstverständlich ist niemand immer der Meinung des anderen!

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Erbauliche Unterredungen und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden