Einsame Selbstfürsorge
Angefangen hat alles spätestens vor ein paar Jahren: Grenzen setzen, Bedürfnisse formulieren, Bindungstypen erkennen und besser kommunizieren. Therapie fand plötzlich zunehmend im alltäglichen, oder zumindest in der Social-Media Lifestyle- und Gesundheitsabteilung statt. Die, die es noch nicht getan hatten, fingen an, sich mit sich selbst zu beschäftigen, die eigenen Muster zu hinterfragen, sich mit ihren Bedürfnissen auseinanderzusetzen.
Über positive Affirmationen und merkfähige Sprüche wurde online regelmäßig daran erinnert, seine Bedürfnisse und Grenzen auch wirklich zu achten. „Du schuldest niemandem etwas“, oder „Sag das Treffen ab“, oder „Setz endlich diese eine Grenze“. Auch jenseits der Social-Media-Bubble belegen Studien: Besonders die Generation Z tauscht sich wie keine Vorgängergeneration offen zu den Themen psychische Gesundheit aus.[1] Und natürlich: Der achtsamere Umgang mit psychischer Gesundheit kann enorm positive Effekte haben. Und trotz genereller Kritik an „Therapy Speak“, blieb der grundlegende Tenor zu dieser Entwicklung lange: Das ist guter Progress. Das sind wichtige Themen. Das ist eine Generation, die so offen über mentale Gesundheit spricht wie keine zuvor.
Doch zu jedem Trend einen Gegentrend. Seit kurzem taucht vermehrt Kritik zu genau jener Entwicklung auf, die als so fortschrittlich, hart erkämpft und wichtig gilt: das Priorisieren der eigenen mentalen Gesundheit. Eine der Überschriften einer Kritik lautet: „Es ist nicht normal, ständig Treffen abzusagen, um sich selbst zu priorisieren. Euer Individualismus macht einsam“[2]. Fühle ich mich ertappt?
Einsamkeit, da war doch was. Neue Studien zeigen immer wieder, dass es nicht die Älteren sind, um die man sich sorgen sollte, sondern es die junge Menschen sind, die immer einsamer werden. Die Priorisierung der eigenen mentalen Gesundheit führt zu verstärktem Individualismus führt zu Egoismus führt zu Einsamkeit, lautet die Arbeitsthese. Doch ist das nur Meinung oder ist das belegbar?
Noch etwas anderes fällt ins Auge: Neben dem schon vielzitierten Individualismus zeigt sich im Sprechen über mentale Gesundheit immer wieder auch eine Tendenz zur Individualisierung. Individualisierung, das meint hier einen Prozess, bei dem gesellschaftliche Ursachen von Ungleichheiten, Problemen oder Leid entweder weitgehend ausgeblendet oder als Versagen, Schuld eines einzelnen Individuums zugewiesen werden.
Liest man all die Ratschläge und Tipps zur Verbesserung und Priorisierung der mentalen Gesundheit, ist man oft mit dem Wort „ich“ konfrontiert. „Ich muss“, „Ich darf“, „Ich sollte“. Wo die einen eine Gefahr für Egoismus sehen, steckt auch eine Gefahr der Verantwortungsverschiebung drin. Wer ständig an sich selbst „arbeiten“ muss, um weniger zu leiden und ein besseres Leben zu führen, kann am Ende das Gefühl zurückbehalten: Ich bin verantwortlich. Und zwar ich allein.
Das jedoch verkennt, wie stark Menschen strukturellen und systemischen Bedingungen ausgesetzt sind – und dass es auch kollektive Verantwortlichkeiten gibt. Individualisierung ist tief im Neoliberalismus verankert. In seiner Logik wird der Mensch wirtschaftlich betrachtet, als Humankapital, das nach Leistung bewertet und in „brauchbar“ oder „unbrauchbar“ kategorisiert werden kann. Das Individuum gilt als Unternehmer seiner selbst: optimierbar, effizient, und letztlich selbst schuld, wenn es scheitert.
Menschen das Gefühl zu geben, sie seien alleine für ihre mentale Gesundheit zuständig, sie müssen sich ständig um diese kümmern, sie müssen diese vor anderen Dingen priorisieren, sie müssen an sich arbeiten um besser zu werden und sie müssen diese Arbeit bestenfalls noch zuhause durchführen, damit es nicht die „wirkliche“ Arbeitszeit tangiert, das alles klingt sehr nach Effizienz. Und hat dazu noch folgenden Effekt: Es vereinzelt. Und spielt dem Neoliberalismus damit in die Karten: „to feel alone and isolated is a symptom of depression, but also a desire of capitalism“ schrieb eine Userin dazu.
Bedürfnisse, Grenzen, mentale Gesundheit in einem neoliberalen Kontext zu denken, führt auch dazu, Beziehung neoliberal zu denken. So beschrieb ein User mal, dass er sein Bedürfnis kommuniziert habe – doch niemand habe mit entsprechender Bedürfniserfüllung reagiert. Das löste in ihm Wut aus. Der Gedanke erinnert an ein ökonomisches Tauschverhältnis: Ich äußere ein Bedürfnis, und erwarte dafür die entsprechende Gegenleistung. Nehme ich mich selbst dabei so wichtig, wie es bei dem Thema kommuniziert und erwartet wird, kann das schon mal die Gefühle verletzen. „Therapy Speak“ kritisiert hier, dass Bedürfnisse oft mit Wünschen gleichgesetzt werden, was durch die ständige Betonung ihrer Wichtigkeit mit höherer Erwartungshaltung an andere einhergehen kann, was wiederum zu Enttäuschung oder verletzten Gefühlen führen kann.
Weiterhin führt es dazu, nicht nur sich selbst wirtschaftlich zu betrachten, sondern im Zweifel auch die anderen ökonomisch in „brauchbar“ oder „unbrauchbar“ zu kategorisieren. Also auch die anderen als Kapital zu sehen. Beim Thema der mentalen Gesundheit oft dann hinsichtlich der Kategorie, inwieweit sie uns im Heilungsprozess oder bei der Erhaltung unserer Gesundheit nützlich sein können.
Was also braucht es, um beides zu haben? Mentale Gesundheit ohne in Einsamkeit oder neoliberale Denkfallen zu tappen?
Die Autorin der anfangs zitierten Kritik sieht einen einfachen Lösungsansatz darin, dass wir uns zuerst daran erinnern, dass wir uns in Gemeinschaften sehr wohl etwas schulden: Empathie, Nähe, Fürsorge. Füreinander da zu sein, auch wenn es unangenehm ist oder nervt.
Und dass wir dadurch nicht nur in Beziehung investieren, sondern letztlich auch in unsere mentale Gesundheit. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Denn Bedürfnisse, Grenzen, mentale Gesundheit, und wir, das alles existiert eben nicht im Vakuum. Alle haben einen Punkt, auf den sie sich beziehen, an dem wir uns letztlich begegnen. Wir können einfach nicht alleinige Unternehmer unserer selbst sein. not in this economy.
[1]https://www.zukunftsinstitut.de/zukunftsthemen/generation-z-mental-imbalance-youth (Öffnet in neuem Fenster)
[2] Alena Wacenovsky, 2025: „Gen Z, wir müssen reden“ auf @die_chefredaktion