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TEXTE VOM VORHANDENSEIN

TEXTE VOM VORHANDENSEIN VON MARCO MICHALZIK. In der Mitte des Titelschriftzugs ist ein Porträt des Autors in schwarz-weiß zu sehen.

TEIL 34: VOM VERSUCHEN

Seit einigen Wochen denken wir in der projekt:gemeinde in Wien gemeinsam über das sogenannte Vater unser (Öffnet in neuem Fenster) Gebet nach. Jeden Sonntag eine Zeile. Am vergangenen Sonntag war dann die Zeile dran, die ich persönlich immer am schwierigsten fand. Die Zeile mit der Versuchung und der Bitte um Bewahrung davor: “Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.”

Dazu hat die großartige Evelyne Baumberger vom Reflab eine ganz tolle Podcastfolge aufgenommen, die sich genau diesen Fragen widmet und die ich genau wie ihre ganze Serie zum Vater unser sehr empfehle:

https://www.reflab.ch/und-fuehre-uns-nicht-in-versuchung-unser-vater-teil-7/ (Öffnet in neuem Fenster)

Papst Franziskus hat angeregt dies Zeile mit der Versuchung eher mit „Lass uns nicht allein in der Versuchung” oder “Lass uns nicht in Versuchung geraten” zu übersetzen und begründet diese Überlegung mit seinem Gottesbild:

„Wie auch immer man den Text versteht, wir können ausschließen, dass es Gott wäre, der die Versuchungen auf dem Weg des Menschen auslöst. Als ob Gott seinen Kindern einen Hinterhalt legen würde! Eine derartige Interpretation widerspricht vor allem dem Text selbst und ist auch weit entfernt von dem Bild Gottes, das Jesus uns offenbart hat. Gott ist ein Vater, wie es am Anfang des Gebets ja auch gesagt wird und ein Vater stellt seinen Kindern doch keine Fallen.“

Ausgehend von diesen Gedanken und den unterschiedlichen Lesarten habe ich versucht das folgende Gebet, Gedicht oder irgendwas dazwischen zu formulieren (wenn du magst, kannst Du dir den Text auch von mir vorlesen lassen):

lass mich nicht allein,

bitte ich nicht, weil ich dir zutraue mich im Stich zu lassen

oder ich aktiv Angst hätte, du könntest plötzlich verschwinden,

wenn ich gerade nicht hinsehe, aufgelöst wie Traumklarheit

mit jeder Sekunde das Wachwerdens am Morgen.

Sondern, sage ich, weil es sich manchmal dennoch anfühlt,

als sei genau das eingetreten und ich dein lautes Schweigen

zumindest durch den Klang meiner Bitte etwas übertönen kann.

lass mich nicht allein

verzweifelt sein und lass dich auf den langweiligen Wegstrecken

von meinen vielen W-Fragen nicht abschrecken.

führe mich nicht in die Irre,

bitte ich nicht, weil ich glaube, dass deine Wegbeschreibung

willkürlich in Sackgassen endet, aber wer ist heute schon noch in der Lage

Landkarten richtig zu lesen und vielleicht meine ich auch eher:

Stell dich, wo es möglich ist, so, dass ich dich im Rückspiegel erkenne,

wenn ich wen brauche, um mich herauszuwinken,

wo ich mich zuvor ungeschickt hinein manövriert habe.

lass mich nicht fallen,

bitte ich nicht, weil ich glaube, du würdest das absichtlich tun

oder ich unerträglich geworden wäre, lastenhaft und bürdig,

sondern, weil ich mich vorm Fallen fürchte und dir sagen möchte,

dass es in Ordnung ist, wenn du müde wirst vom vielen Tragen,

und du gerne einfach Bescheid geben kannst, wenn du eine Pause brauchst.

Setze mich sanft auf dem Boden ab und dich daneben ins Gras

oder auf den Bordstein der Raststätte und dann teilen wir uns endlich das Bier,

das uns jemand unterwegs geschenkt hat, weil wir wie Erschöpfte aussahen.

lass mich nicht hereinfallen

auf meine eigenen Gedanken über mich und die anderen

und auf die Sorgen mit denen ich mir manchmal das Übermorgen

herbeigraue.

lass mich nicht darauf hereinfallen

Mit-Menschen in Seiten einzuteilen

lass mich nicht versuchen,

alle Details allein meistern zu wollen und aus dem „Wir“ und „uns“

ein „ich“ und „mir“ zu formulieren, das alles andere übersieht.    

lass uns versuchen anzunehmen,

dass unser Versuchen gut genug ist

und jedes Trotzdem-Weitermachen

auch Scheitern leider nicht ausschließt.

lass uns nicht leer laufen,

lass uns Vertrauen versuchen

lass uns Hoffnung haben

lass uns in bösen Zeiten barmherzig bleiben

weitherzig und wissend, dass das Gute von seinem Gegenteil

nicht immer trennscharf unterscheidbar ist.

lass uns nicht verführbar sein

für Geschichten, die die Liebe schmaler erzählen, als sie eigentlich ist

lass uns verfügbar sein

lass uns für-einander sein

lass uns biegsam bleiben und standfest und unterwegs

und an den Raststätten mit Heimweh.

Amen

POETRY TALK TOUR
Auf dem Bild siehst du eine Collage mit Tour-Impresionen von Marco und Gofi. Wie sie auf der Bühne sitzen und vorlesen, auf der Fähre auf dem Bodensee, am Bahngleis während sie auf den Zug warten, ein Plakat für den abend in der Schweiz und ein leckeres Stück Kuchen aus Wintersulgen

Noch ein kleiner Recap zur Poetry Talk-Tour mit meinem Freund und Kollegen Gofi Müller. Wir durften in Heidelberg, Stuttgart, Wintersulgen, Arbon (CH) und München unsere Gedichte und Kurzgeschichten vorlesen. Ich finde dieses Live-Konzept sehr besonders, denn es gibt keine vorbereitete, geplante Setlist für die Auftritte. Am Beginn jeder Veranstaltung knobeln wir aus, wer von uns beiden beginnen und einen ersten Text vorlesen darf. Der andere versucht dann einen Anknüpfungspunkt zu finden und mit einem nächsten Text anzuschließen und so weiter. Zwischendurch unterhalten wir uns über das Vorgelesene, die Themen, die Besonderheiten, die Form oder was auch immer uns auffällt oder beim Zuhören besonders anspricht. Und auch die Zuhörenden im Publikum dürfen jederzeit Fragen stellen, Anmerkungen einwerfen und eigene Erfahrungen teilen.

Dadurch bekommt jeder Abend eine eigene Richtung und Dynamik, die nicht vorhersehbar sind und die Lesungen dadurch so einzigartig machen. Je nachdem, welcher Text zuerst gelesen wird, wer im Publikum sitzt und was er oder sie an Themen und Fragen mit in den Raum gebracht hat - all das bestimmt, wo die Reise hingeht. Man könnte vermutlich sagen, dass an diesen Abenden nicht der einzelene Text, ja nicht mal die Performance das eigentliche Kunstwerk sind, sondern das, was da so flüchtig in diesem Moment, in diesem Raum mit und zwischen diesen Menschen und Körpern und Gefühlen an Resonanz und Austausch geschieht. Eine Art gemeinsame Installation vielleicht, die abgebaut wird, sobald wir uns vor der Tür verabschieden und in alle Richtungen verstreuen.

Zum Abenteuergefühl dieser Tour gehört immer auch, dass wir ausschließlich mit dem Deutschlandticket, das heißt mit Regionalzügen, reißen, um die Fahrtkosten minimal zu halten. Allerdings mit Ausnahmen. Dieses Mal sind wir zum Beispiel mit einer Fähre quer über den Bodensee gefahren, um zu unserem nächsten Termin in die Schweiz zu kommen. Das war definitiv ein Highlight. Theoretisch bleibt auch immer viel Zeit zum Lesen auf den vielen Fahrtwegen zwischen den Stationen. Darum habe ich mir bereits beim Start am Heidelberger Hauptbahnhof den gerade neu erschienenen Roman von Ocean Vuong “The Emperor of Gladness” gekauft, auf den ich mich schon monatelang gefreut hatte. Leider kam ich dann aber doch nicht so ausgiebig zur Lektüre, wie ich mir das vorgestellt hatte, weil ich bereits ab dem zweiten Abend mit einer richtig fiesen und hartnäckigen Erkältung zu kämpfen hatte und ich diese Zwischenzeiten darum eher für den einen oder anderen Power-Nap nutzen musste, um für die Abende zumindest einigermaßen fit zu sein. Mittlerweile habe ich den Roman aber durch und mochte ihn sehr und kann ihn wärmstens empfehlen. Genauso wie auch die Gedichte und den Debütroman von Ocean Vuong.

Ich bin sehr dankbar für alle die schönen Gespräche und Begegnungen auf dieser Tour, die Gastfreundschaft und Herzlichkeit, die wir erleben durften, neue und bekannte Gesichter und spannende Orte und die Geschichten dazu.

Poetry Talk wird übrigens nicht nur von Gofi Müller und mir bespielt. Eigentlich ist es ein Gruppenprojekt, zu dem neben uns beiden auch Leah Weigand, Micha Kunze, Jasmin Brückner und Tabitha Hanan gehören. In unterschiedlichen Duo-Konstelationen (oder manchmal auch zu dritt oder wie beim Evangelischen Kirchentag in Hannover auch mal zu sechst mit allen) bringen wir unsere Texte in Dialog und in den Austausch.

Alle Infos zum Format und vor allem auch die nächsten Live-Termine findest du hier: https://poetry-talk.de (Öffnet in neuem Fenster)

Das Banner zeigt die beiden EP-Cover von Die gerade Linie ist gottlos Pt.1 und 2 und den Textzusatz, dass die beiden EPs ab sofort auf allen Plattformen erhältlich sind. (Öffnet in neuem Fenster)
Klicke auf das Banner, um direkt reinzuhören

Liebe Grüße aus Wien und bleib barmherzig

Kategorie Texte vom Vorhandensein

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