TEXTE VOM VORHANDENSEIN

TEIL 37: VOM VERZIEREN
„Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.“
(Die Bibel, Brief an die Philipper 1,21)
Vor über 13 Jahren habe ich mir ein großes Tattoo auf meinen linken Unterarm stechen lassen. Kein Bild, sondern Buchstaben. Worte aus der Übersetzung eines Texts, den manche Menschen für heilig halten. Ein Bibelvers aus dem sogenannten Neuen Testament. Ich weiß gar nicht mehr ganz genau, warum ich mich für die englische Version entschieden habe. Vielleicht weil die weniger Silben brauchte. Oder weil damals diesen Track eines amerikanischen Rap-Künstlers gab, den ich gerne mochte und der diese Zeile als Chorus beinhaltete. Seitdem steht in verschnörkelten Buchstaben TO LIVE IS CHRIST AND TO DIE IS GAIN inklusive Kapitel- und Versangabe auf meinem Arm.
Meistens denke ich gar nicht darüber nach, was schon irgendwie merkwürdig ist, wenn man bedenkt, dass ich dieses Körperteil ja ständig vor Augen habe. Besonders in den Sommermonaten, wenn ich selten Jacken oder Hemden oder andere Arm verdeckende Schichten trage. Manchmal werde ich von Menschen mit denen ich beim Kaffee oder beim Essen oder beim Wein draußen vor einem Lokal sitze auf die Bedeutung meines Tattoos angesprochen. Meistens drehe ich ihnen dann zunächst wortlos meinen Arm zu, um sie das Zitat vollständig sehen zu lassen, als ob die Frage damit beantwortet wäre. Das ist sie natürlich selten an der Stelle, sondern wirft nur noch neue Fragen auf. Und es ist ja überhaupt auch interessant sich mit Menschen über die Bedeutung ihrer Tattoos zu unterhalten. Immerhin hat sich dieser Mensch ja dazu entscheiden, dass dieses Bild oder dieses Wort so wichtig oder schön sind, dass man es permanent auf seinem Körper mit sich herumtragen möchte. Also ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es dazu auch eine Geschichte gibt. Das ist vermutlich die eigentliche Frage. Die Frage nach dem Dahinter. Nach dem Warum vielleicht. Meine geht so:
Ich bin in einer christlichen Gemeinschaft aufgewachsen, die die Bibel so ernst nehmen wollte, dass sie aus Angst etwas falsch zu machen eine ganze Liste von Verboten und Verhaltensregeln aufstellten und an deren Befolgung das wahre Christsein festzumachen versuchte. An äußeren Merkmalen und Verhaltensweise sollte klar ersichtlich sein, dass diese Menschen anders wären. In Abgrenzung zu allen anderen, zur Gesellschaft, zum Zeitgeist oder zur „Welt“ wie man in diesen Kreisen sagte. Was das für Körperlichkeit und Sexualität bedeutete und wie es war damit aufzuwachsen habe ich in meinem letzten Gedichtband in den Stücken Als wir Geister waren (Öffnet in neuem Fenster) und Erinnerung an Sonntagmorgens (Öffnet in neuem Fenster) beschrieben. Beide Stücke habe ich zum Anhören verlinkt, wenn du auf den jeweiligen Titel klickst.
Dazu gehörten aber auch äußerliche Dinge wie Haarlänge, Klamotten, Piercings und Schmuck und eben Tätowierungen. Wie so oft in solchen religiös-patriarchalen System und Gruppierungen waren diese Regeln für die Mädchen und Frauen noch rigoroser und einengender als für die Jungs und Männer.
Meine Entscheidung mir dennoch und gerade deswegen ein Tattoo an einer für alle gut sichtbaren Stelle stechen zu lassen war also zu einem guten Teil ein Akt des Widerstands meinerseits gegen diese engen und bevormundenden Religions-Regeln, die ich weder verstand, noch akzeptieren und mit meinem Bild eines menschenfreundlichen, gütigen und liebevollen Vater-Gottes in Einklang bringen konnte. Ich stellte mir vor, dass es doch eine herrlich-heiter-heilige Verwirrung in der Bewertung hervorrufen müsste, wenn das Tattoo eben ein großer Bibelvers wäre. Gegen die Worte der Heiligen Schrift kann in diesen Kreisen ja schließlich niemand etwas haben, oder?
Ich halte nicht viel von Provokation um der Provokation willen, aber glaube trotzdem, dass so manche heiligen Kühe ab und an mal gepikst oder angeschubst werden müssen, damit sie nicht vor Trägheit stehen bleiben bis sie zur Statue geworden sind, die man mit Gold überziehen kann, um darum herum zu tanzen.
Long Story short, imponiert hat mein halbwegs kalkulierter theologischer Tabubruch natürlich niemandem, aber immerhin für mich selbst war es ein Schritt Richtung Freiheit und einer Spiritualität, die selbst denkt und fragt und glaubt und zweifelt.
Auf der anderen Seite gibt es ja über 31.000 Verse in der Bibel. Warum also ausgerechnet dieser?
Die Zeile stammt aus einem Brief, den der Apostel Paulus (eben jener, der sprichwörtlich vom Saulus zum Paulus verändert worden war) angeblich an die christliche Gemeinde in der Stadt Philippi schrieb während er selbst inhaftiert war.
damals dachte ich,
dass dieser Satz eines inhaftierten Missionars ein besonders radikaler Ausdruck seiner Hingabe an Gott und der konsequenten Umsetzung von Gottes Auftrag sei. Nach dem Motto für Jesus (Christus) zu leben bedeutet vor allem möglichst vielen Menschen von dieser Person und seiner Botschaft zu erzählen, koste es, was es wolle und wenn dabei das eigene physische oder psychische Wohlbefinden auf der Strecke bleibt oder man dafür gehasst, ausgelacht, abgelehnt oder benachteiligt wird, ist das alles nur eine Bestätigung dafür auf dem richtigen Weg zu sein. Radikal und Kompromisslos. Evangelisation als höchster und eigentlich einzig legitimer Daseinsgrund für christliche Menschen. Oder wie derselbe Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom formulierte: Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht (Die Bibel, Brief an die Römer 1,16).
In Wirklichkeit schämte ich mich aber immens. Nicht für die Botschaft oder den Inhalt an sich, obwohl auch in meiner damaligen Vorstellung davon manches mindestens unvollständig, einseitig oder hinterfragwürdig war. Sondern vielmehr für die Art und Weise der Verkündigung, der einzelne Menschen mit ihren Prägungen, Geschichten, Fragen, Zweifeln und Verletzungen egal zu sein schien und diese nur als Resonanzkörper der eigenen Verkündigung betrachtete.
Ich glaube, diese konsequente Art der Hingabe an etwas, das größer ist als ich selbst, das über mich hinaus geht und so etwas wie Sinn oder Erfüllung verspricht hat mich daran vielleicht angezogen. Aber die Art und Weise wie rücksichtlos und unempathisch und geradezu menschen- körper- und lebensfeindlich diese Hingabe innerhalb dieser Gemeinschaften ausgelebt wurde, stieß mich immer mehr ab. Aber selbst als ich dem allen Rücken kehrte; das Tattoo ging natürlich trotzdem und gut sichtbar mit.
zwischendurch
hatte ich dann eine ganze Zeitlang überhaupt keine Lust mehr darauf angesprochen zu werden. Besonders in Kontexten außerhalb der kirchlichen Bubble, in Poetry Slam-Backstages, auf Partys oder Hochzeiten wusste ich einfach nicht mehr, was und wie ich darauf antworten soll. Im Zweifel erzählte ich dann, wenn es gar nicht anders ging diese Geschichte von meinem Aufwachsen in dieser christlichen Gemeinschaft und dass ich dieses Bibelvers-Tattoo damals für einen ästhetisch-körperlichen Akt des notwendigen theologischen Ungehorsams gehalten habe. Trotzdem war ich meistens unzufrieden, dass das nur das Tattoo als solches, nicht aber den Vers und seinen Inhalt für mich retteten und plausibel machten. Also habe ich mich immer wieder hingesetzt und habe versucht mit diesen Worten auf meinem Arm zu ringen und zu schauen, ob sich nicht auch andere Deutungs- und Lesarten finden lassen. Dafür bin ich meinem jüngeren ich sehr dankbar, weil es mich durch sein ungestümes Vorbreschen damals dazu zwingt mich mit auf eine Art und Weise und einer gewissen Dringlichkeit auseinanderzusetzen, die ich sonst nicht verspürt hätte.
heute habe ich
zum ersten Mal versucht meine jetzigen Gedanken dazu strukturiert aufzuschreiben. Wenn dort steht TO LIVE IS CHRIST AND TO DIE IS GAIN, dann denke ich heute:
In Christus wird das Wesen Gottes sichtbar. Und Gott ist Liebe. Christus bedeutet Liebe. Liebe zu Gott, die sich aber nur in der Liebe zu meinem Nächsten, zu mir selbst und sogar in der Feindesliebe ausdrücken kann. Christus ist die Verkörperung der großen Ideale aus der Bergpredigt. Sanftmut. Frieden-stiften. Barmherzigkeit. Gnade. Vergebung. Glaube. Hoffnung. Teilen. Teilhabe. Heilung. Transformation. Neuanfang. Umkehr. Gerechtigkeit. Die letzten werden die Ersten. Das Kleine ist wichtig. Die Verachteten würdevoll. Die Armen reich. Die Ausgegrenzten willkommen geheißen. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in das Reich Gottes. In Christus ist alles inkludiert außer die Ausgrenzung. Da ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus. Diesen Idealen nachzuspüren und näher zu kommen im Empfangen und Weitergeben derselben scheint das zu sein, was manche Schreiber biblischer Texte für das Leben in Fülle oder gar das ewige Leben meinen. Letzteres meint vermutlich auch eher die Qualität und weniger die Länge dieses Lebens. Die größte unter ihnen ist die Liebe.
Das vorausgesetzt, wäre jedes Stückchen Sterben meines eigenen Egos ein kleiner Gewinn. Jedes Bisschen, das nicht lieben und sich nicht lieben lassen will oder kann. Jedes Bisschen, das auf Kosten anderer Mitgeschöpfe seinen Vorteil oder sein Wohlbefinden oder seinen Wohlstand vermehren möchte. Jedes bisschen Rücksichtlosigkeit und Ignoranz und Gleichgültigkeit. Jedes Bisschen Scham, das sich noch nicht traut sich umarmen zu lassen.
Ich habe das schon mal an anderer Stelle formuliert und stehe nach wie vor zu der Aussage, dass ich ein solches Leben selbst dann für erfüllt und sinnvoll und lebenswert halte, wenn sich am Ende herausstellt, dass dieses ganze Gott-Ding haltloser Quatsch gewesen ist. Dann wäre ein Leben, dass versucht hat sich und andere so gut es kann zu lieben ein sehr sinnvolles finde ich.
Auch diese Deutung ist vermutlich nur eine Momentaufnahme und wir sich wieder verändern oder erweitern. Aber im Moment habe ich nichts mehr dagegen, wenn jemand danach fragt. Gerade finde ich die Geschichte ganz schön.
Und wenn mein Körper tatsächlich ein Tempel ist, dann geht es dich vielleicht auch gar nichts an, wie ich diesen Tempel von innen einrichte und von außen verziere.
Als kleine Zugabe möchte ich noch mein neues Gedicht “ALLES WIRD GUT” wird mit dir teilen, das ich für das diesjährige Reflab-Podcastfestival in Zürich geschrieben habe, das diesen Titel zum Motto hatte.
VIDEO:
https://www.youtube.com/shorts/lxR69Lwj16M (Öffnet in neuem Fenster)AUDIO:
TEXT:

Liebe Grüße aus Wien und bleib barmherzig

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