Suchtgesellschaft - Analyse von Anne Wilson Schaef
„Sag mir, womit du rumsüchtelst – und ich zeig dir deine Kultur.“
Anne Wilson Schaef nannte unsere westliche Gegenwart treffend ein Suchtsystem: Ein Gesellschaftskonstrukt, das nicht nur die klassischen Süchtigen braucht, sondern alltägliche Kontrolle, Verwirrung und gnadenlose Energieextraktion zur zentralen Norm macht. Dualistisches Denken, Illusionen von Kontrolle, Arbeits- und Selfoptimierungszwängen sind in Wahrheit Symptome eines kollektiven Syndroms – nicht bloß individueller Schwäche .
Und ja – dieses Sucht‑Phantom ist nur die Oberfläche. Gewissermaßen eine Beschreibung komplexer Systembausteine in einem Bild. Im Hintergrund brodelt die strukturelle Meta‑Krise: die spirituelle, kulturelle und ökologische Krise, die wir meistens eher als Klima‑Kollaps, Demokratietiefpunkt oder soziale Spaltung wahrnehmen, aber in Wirklichkeit ein Bewusstseins‑Vakuum meint – das Julian Davey hier als „Meta‑Krise“ (Öffnet in neuem Fenster)beschreibt.
Der will er mit einer eigenen metamodernen Spiritualität entgegegnen (das ist aber ein eigenes neues Thema, das an Anne Wilson Schaefs “Lebensprozesse-System”-Idee unten anknüpft). Er nennt es so schön “Phoenix-Projekt”
Das Phoenix-Projekt
Eine Spiritualität, die uns dazu zwingt, uns mit den Themen unserer Zeit zu beschäftigen, anstatt uns zu helfen, vor ihnen davonzulaufen, dies wäre eine metamoderne Spiritualität. Es wäre eine Spiritualität, die uns bei der Geburt des Phönix helfen würde. Das ist unsere Metapher für die Welt, die aus der Asche unserer gegenwärtigen zusammenbrechenden und chaotischen Gesellschaft hervorgehen will… die Metamoderne.
Inmitten dieses Chaos wirkt (wie A. W. Schaef es nennt) parallel und subtil ein „schleichendes Lebensprozesse‑System“ – ein langsam wachsendes Gegengewebe, das nicht mittels Revolution, sondern durch Resonanz wirkt. Es verkörpert Prinzipien wie Lebendigkeit, Netzwerk‑Verbundenheit, Empfindsamkeit und das große antidualistische „UND“ – genau das, worauf Metamoderne nach Vermeulen/van den Akker baut: empathischer Idealismus, informierte Naivität und die oszillierende Synthese aus Moderne und Postmoderne .
Der nun folgende Beitrag nimmt dich mit auf einen tänzelnden Pfad: von der Sucht‑Realität zur metamodernen Hoffnung. Er zeigt, wie der Übergang vom Suchtsystem zum Lebensprozess‑System ein Glücksgriff im Evolutions‑Kaos sein kann – ein „Wir-stören-das-System-nicht-mehr, wir haben einfach anderes zu tun“ (das wäre deine Metamoderne-Brille!). Und dabei immer dieses wundervolle UND im Zentrum: Kontrolle UND Loslassen; Rationalität UND Mystik; Kritik UND Herz.
Zuerst einmal eine allgemeine, leicht verständliche Zusammenfassung der KI: Hör dir das folgende AUDIO an.
Ich habe im weiten Netz Jil Riegers Beitrag gefunden, die das ganze gut und menschlich zusammenfasst. Und unten findest du einen Text von mir, der Anne Wilson Schaefs Brille kurz & knackig auf den Punkt bringt. Und los :-)
Der YouTube-Kanal @suchtselbstmitjil gehört zu Jil Rieger, einer Expertin für Co‑Abhängigkeit – insbesondere in Beziehungen, in denen Sucht eine Rolle spielt. Der Kanal bietet Videos rund um emotionale Abhängigkeit, Selbstfürsorge und Wege aus destruktiven Beziehungsmustern.
🧍♀️ Wer ist Jil Rieger?
27 Jahre alt, selbst von Suchtbetroffenheit in Partnerschaft und Familie geprägt. Heute begleitet sie Angehörige, die in Co‑Abhängigkeit verstrickt sind, und unterstützt sie dabei, wieder zu sich selbst zu finden .
Studiert Gesundheitsberatung mit Fokus auf mentale Gesundheit, befindet sich aktuell in einer berufsbegleitenden Ausbildung zur Suchtberaterin (ALH Akademie).
📺 Was findest du auf ihrem Kanal?
YouTube-Inhalte zu emotionaler Abhängigkeit, systemischen Themen, Selbstwert, Beziehungsmustern und Heilung aus Co‑Abhängigkeit .
Verknüpfungen zu ihrem Podcast „Liebling, wir sind abhängig!“, in dem sie tiefere Impulse schenkt, und zu ihren Instagram- und Webseitenangeboten .
Wem hilft dieser Content?
Menschen in (oder aus) Beziehungen mit suchtkranken Partner:innen oder Angehörigen, die sich selbst verloren haben oder sich ständig verantwortlich fühlen.
Für alle, die Lernprozesse zur Selbstbestimmung, inneren Freiheit und Heilung aus Abhängigkeitsmustern suchen .
Hier folgt nun eine gründliche schriftliche Zusammenfassung von Anne Wilson Schaefs Thesen zur Suchtgesellschaft, basierend auf ihrer Originalquelle "Suchtgesellschaft”:
Einleitung und die Natur des Suchtsystems
Ann Wilson Schaef, eine US-amerikanische Frauenrechtlerin und Psychotherapeutin, vertritt die Überzeugung, dass unsere gesamte Gesellschaft von einer Suchtkrankheit betroffen ist, einem sogenannten Suchtsystem. Dieses System weist alle Merkmale und Prozesse auf, die für einen Alkoholiker oder anderweitig Süchtigen typisch sind. Man kann Teil dieses Systems sein und suchthaftes Verhalten zeigen, ohne selbst Drogen zu konsumieren. Das Problem unserer Gesellschaft liegt nicht darin, dass sie "schlecht" ist, sondern dass sie krank ist und Heilung benötigt. Die Erkenntnis dieser Krankheit und ihre Benennung sind der erste Schritt zur Genesung.
Schaef beschreibt das Suchtsystem als ein Regelwerk oder einen Prozess, dem bestimmte Regeln und Gesetze zugrunde liegen, nach denen wir denken, handeln und uns verhalten. Sie sieht Co-Abhängigkeit und Sucht als Symptome dieses Systems, nicht als das Problem selbst; sie sind "zwei Seiten ein und derselben Medaille". Das Suchtsystem ist nicht nur ein individuelles Phänomen, sondern ein institutionelles Problem, das Schulen, die Kirche, sowie familiäre und gesellschaftliche Systeme betreffen kann.
Ursprünglich bezeichnete Schaef das vorherrschende System als "Männliches System" und das davon abgeleitete "Reaktive Weibliche System". Im Laufe ihrer Arbeit erkannte sie jedoch, dass diese Systeme identisch mit dem Suchtsystem sind. Sie prägte den Begriff "Lebensprozesse-System" als Gegenentwurf zum Suchtsystem.
https://d-nb.info/940482274/04 (Öffnet in neuem Fenster)Merkmale des Suchtsystems (als Hologramm)
Das Suchtsystem ist wie ein Hologramm: Jedes seiner Teilchen, jedes Individuum, enthält die gesamte Struktur und Funktionsweise des Systems. Wenn das Individuum krank ist, spiegelt dies die Krankheit des Systems wider und umgekehrt. Schaef identifiziert zahlreiche Merkmale, die sowohl im Süchtigen als auch im gesamten System zu finden sind:
Selbstbezogenheit (Egozentrik): Süchtige sind notorische Egozentriker. Sie können keine Rücksicht auf andere nehmen, weil alles auf sie selbst bezogen ist ("pseudopodisches Ego"). Dies führt dazu, dass sie die Bedürfnisse anderer ignorieren und alles als Angriff oder Unterstützung für sich selbst interpretieren.
Kontrolle – eine Illusion: Das Suchtsystem ist von einem verzweifelten Bedürfnis nach Kontrolle durchdrungen. Menschen versuchen, sich selbst, andere und sogar die Welt zu beherrschen, obwohl dies eine Illusion ist. Liebe wird mit "Kontrolle über jemanden haben" oder "von jemandem kontrolliert werden" verwechselt. Dieser ständige Versuch der Kontrolle führt zu chronischem Stress, Anspannung und kann körperlich zugrunde richten.
Unehrlichkeit als Norm: Jede Sucht unterbindet den Kontakt zwischen dem Menschen und seinen Gedanken und Gefühlen. Dies führt zu Selbsttäuschung, Lügen und Verleugnung gegenüber sich selbst, anderen und der Welt. Die Gesellschaft hat Unehrlichkeit zur Norm erhoben; sie ist alltäglich und akzeptiert, auch wenn sie nicht offensichtlich ist.
Verwirrung als strategisches Element: Verwirrung ist nicht nur ein Merkmal, sondern entscheidend im System, da sie uns ohnmächtig und kontrollierbar hält. Verwirrte Personen sind leichter zu überwachen, und chaotische Gesellschaften sind leichter zu kontrollieren. Sie bewahrt uns vor Unwissenheit und hält uns davon ab, Verantwortung zu übernehmen oder das System in Frage zu stellen.
Mangelmodell und Nullsummen-Modell: Das System basiert auf der Annahme, dass das Vorhandene nicht ausreicht ("mehr ist besser"). Dies führt zu Horten und Konkurrenz. Nach dem Nullsummen-Modell bedeutet der Erfolg eines anderen, dass für mich weniger übrig bleibt, was Neid und die Unfähigkeit, Erfolge anderer zu feiern, hervorruft.
Verlust von Lebendigkeit und Gefühlsstarre: Das Leben im Suchtsystem lässt die Fähigkeit verkümmern, Lebendigkeit und die Außergewöhnlichkeit einfacher Dinge wahrzunehmen. Menschen schotten sich von ihren Gefühlen ab, was eine Überlebensstrategie ist. Dies führt dazu, dass sie nur noch "aus dem Kopf heraus" leben, begleitet von Gedankenchaos und Misstrauen gegenüber eigenen Gefühlen. Extreme Situationen oder "Kicks" werden gesucht, um überhaupt noch etwas zu spüren.
Ethische Verwahrlosung: Der innere moralische Kompass geht verloren, was zu "spirituellem Bankrott" führt. Lügen, Betrügen und Stehlen werden zur Norm, wenn sie dem System nützen – "selbst Massenmord ist entschuldbar". Spiritualität wird rationalisiert und objektiviert, was eine Trennung vom spirituellen Selbst bewirkt.
Gestörte Denkprozesse: Das Denken im Suchtsystem ist oft irrational, paradox und "kaputt" ("stinkin' thinkin'"). Es ist von Vermutungen, Verleugnung und Perfektionismus geprägt. Das System fördert lineares, logisches Denken der linken Gehirnhälfte, was die Illusion der Kontrolle verstärkt, während vielfältiges Denken unterdrückt wird.
Abhängigkeit und "Geisel-Entführer-Beziehungen": Beziehungen im Suchtsystem sind von Abhängigkeit geprägt, in denen sich Menschen gegenseitig kontrollieren und aussaugen. Diese Beziehungen sind oft "trostlos und lebensfeindlich" und ähneln "Geisel-Entführer-Beziehungen", da die "Geisel" (der abhängige Partner) nicht freiwillig in der Beziehung ist, aber glaubt, ohne den anderen nicht existieren zu können.
Angst: Angst ist die Grundlage des Suchtsystems und die Wurzel vieler seiner Merkmale. Sie führt zu ständigen Kontrollversuchen und zur Einnahme suchterzeugender Substanzen oder Prozesse, um die eigene Wahrnehmung des Schreckens zu blockieren.
Prozesse des Suchtsystems
Die Prozesse sind die "geheimen, unsichtbaren Kräfte" des Systems, die zu seinem Fortbestehen beitragen und mächtiger sind als Inhalte oder Rollen.
Prozess des Versprechens: Das Suchtsystem hält sich durch Versprechungen aufrecht (z.B. ewiges Leben, alles wird gut, der Partner wird sich ändern). Dies lenkt von der Gegenwart ab und ermöglicht es den Menschen, in destruktiven Mustern zu verharren.
Prozess der Vereinnahmung (Pseudopodisches Ego): Das Suchtsystem "kolonisiert" andere Systeme, indem es sie umschließt und sich einverleibt. Es absorbiert sogar positive Energien und Ideen, die aus dem Lebensprozesse-System kommen, und deklariert sie als seine eigenen, um sich selbst am Leben zu erhalten.
Prozess der Fremdbestimmtheit (Außenorientierung): Das Selbstbild wird durch äußere Faktoren (Familie, Schule, Kirche) bestimmt, und man sucht Bestätigung von außen. Dies führt dazu, dass die innere Stimme ignoriert und das eigene Potenzial nicht entfaltet wird.
Prozess der Außerkraftsetzung: Das System erklärt alles, was seinem Wissen, Verständnis oder seiner Kontrolle entzieht, für nicht-existent. Dies führt zum Verlust umfangreicher Wissensbereiche und zur Unterdrückung von abweichenden Realitäten und Wahrnehmungen.
Prozess der Diffamierung/Konstruktion eines "persönlichen Konfliktes": Individuen oder Ideen, die das System bedrohen, werden diskreditiert, ihre Glaubwürdigkeit wird in Frage gestellt, und sie werden als "Nichts" erklärt, oft durch persönliche Angriffe statt sachlicher Auseinandersetzung.
Prozess des Dualismus: Das Denken in "entweder/oder" (richtig/falsch, gut/schlecht) ist fundamental für das Suchtsystem. Es vereinfacht eine komplexe Welt, um die Illusion der Kontrolle aufrechtzuerhalten, und verhindert die Entwicklung von Alternativen oder das Erkennen von "sowohl als auch".
Die Baustein-Theorie: Schaef beschreibt Dualismen als miteinander verbundene "Bausteine" (z.B. Machtlosigkeit und Kontrolle, Unehrlichkeit und Nettsein). Um aus dem Suchtsystem auszubrechen und zu heilen, müssen beide Seiten eines Bausteins gleichzeitig abgelegt werden, da sie sich gegenseitig bedingen und festhalten.
Genesung und Systemwechsel
Genesung von Sucht ist möglich, sowohl auf individueller als auch auf systemischer Ebene. Der Weg führt aus dem Suchtsystem heraus und hinein in das Lebensprozesse-System, das für Fruchtbarkeit, Lebendigkeit, Empfindsamkeit, echte Sicherheit, Verbundenheit und Geborgenheit steht.
Wichtige Schritte zur Genesung sind:
Die Rolle der Namengebung: Die Realität der Sucht und des Systems beim Namen zu nennen, ist entscheidend. Dies ist ein Bekenntnis, das die Kraft zurückgibt, die in der Verleugnung gebunden war.
Eingeständnis der Machtlosigkeit: Der erste Schritt der Anonymen Alkoholiker, die Machtlosigkeit gegenüber der Sucht zuzugeben, ist entscheidend. Dies ist nicht gleichbedeutend mit persönlicher Ohnmacht, sondern dem Loslassen der illusorischen Kontrolle.
Den "trockenen Rausch" überwinden: Abstinenz allein reicht nicht aus; man kann abstinent sein und trotzdem die Merkmale des Suchtsystems leben ("trockener Trinker"). Genesung ist ein fortlaufender Prozess, der Zeit und Arbeit erfordert.
Systemwechsel: Die Lösung besteht darin, sich vom Suchtsystem als Bezugspunkt zu lösen. Es geht nicht darum, es zu bekämpfen, sondern es als irrelevant zu betrachten: "Wir passen uns in dieses System nicht mehr ein, aber wir bekämpfen es auch nicht; es hat einfach keine Bedeutung mehr".
Integration von Nüchternheit, Prozess und Spiritualität: Diese drei Konzepte sind für Schaef im Grunde ein und derselbe Prozess, der die Grundlage für ein gesundes Leben bildet.
Individuelle und systemische Veränderung: Da das Individuum das System widerspiegelt und umgekehrt (Hologramm), führen Veränderungen im Einzelnen zu Veränderungen im System, und Systemveränderungen ermöglichen dem Einzelnen mehr Freiheiten.
Realität akzeptieren: Das Suchtsystem ist ein illusionäres System, das uns dazu zwingt, die Realität zu leugnen. Der Weg zur Genesung erfordert, "zu sehen, was wir sehen, und zu wissen, was wir wissen".
Überwindung der drei "gefährlichen Prozesse": Dualistisches Denken, Unehrlichkeit und Kontrolle sind die Kernprozesse, die uns immer wieder in suchthaftes Verhalten zurückstoßen. Sie müssen bewusst abgelegt werden.
Das Suchtsystem ist ein geschlossenes System, das sich selbst auf komplizierte Weise erhält und in sich verstrickt ist. Es kann nicht in Teilen behandelt werden; nur eine ganzheitliche Genesung durch einen Systemwechsel ist der Weg zu einem wirklich lebendigen, freien und verbundenen Dasein.
Eine 8-Seiten Zusammenfassung findest du auch hier
https://www.grin.com/document/96467#suchtsystem (Öffnet in neuem Fenster)