Zum Hauptinhalt springen

Nachwende-Kinder können Transformation

KOLUMNE / LEBEN

Sie haben die DDR gerade noch erlebt, sind im Umbruch der 1990er Jahre aufgewachsen. Jetzt sind die Nachwendekinder in entscheidenden Positionen im Osten. Denn sie haben Kompetenzen erworben, die jetzt dringend gebraucht werden.

von Claudia Arndt

  1. Oktober 2024

Ich habe das Gefühl, meinen Vater überzeugt zu haben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt. Er ist jetzt im Die-Modus: Die da drüben, die Wessis, die anderen.“ So beschreibt Valerie Schönian in ihrem Buch „Ostbewusstsein (Öffnet in neuem Fenster)“ ein Gefühl, das uns Nachwendekindern vertraut ist: das Anders-Sein. Wir, die jungen Ostdeutschen um die 30, sind zwischen den Systemen groß geworden, leben fast ausschließlich im vereinten Deutschland und fühlen uns darin doch oft als die anderen“ Wer durch unser Leben will, muss durch unsere Zimmer – durch die Räume unserer Erinnerungen, Brüche und Hoffnungen.

Das Othering, also die negativ konnotierte Fremdzuschreibung, ist für viele von uns eine schmerzhafte Erfahrung. Wir werden oft anders beschrieben, als wir uns selbst wahrnehmen. Dieses Gefühl mag nachvollziehbar sein, doch es birgt die Gefahr, uns in der Rolle des Betroffenen festzuhalten und als handelnde Subjekte zu lähmen. Gerade die Nachwendekinder brauchen den Mut, das eigene Bild zu prägen und aktiv an der Gestaltung ihrer Zukunft mitzuwirken. Nur so können wir die Kluft überwinden und unsere Identitäten selbstbestimmt leben.

Dabei liegt der Vorteil genau darin, dass uns das Aufwachsen in den Umbruchsund Wendejahren mit erforderlichen Kompetenzen und Erfahrungen ausgestattet hat, um Transformation aktiv zu gestalten. Die Kinder der Wende, sind heute alt genug, um unsere Heimat selbstbewusst zu formen. Damit verbunden ist jedoch auch eine positive Besetzung des Ostdeutschseins, das durch die Nachwendekinder nun möglich wird. Viele von uns sind gut ausgebildet, haben die Welt gesehen und bringen Erfahrungen mit, die den eigenen Eltern oft verwehrt blieben. Wir haben die besten Voraussetzungen und verschiedene Identitäten, um anspruchsvolle Aufgaben zu übernehmen und Verantwortung in unserer Region zu tragen.

Resilienz und Transformationsfähigkeit

Der Osten braucht Persönlichkeiten, die weitreichende Pläne der Veränderung anbieten und für sie werben. Die Vorschläge entwickeln, die uns berühren und elektrisieren. Die der Region eine neue Identität geben - also eine bessere Fremdzuschreibung. Solche Persönlichkeiten übernehmen bereits wichtige Schaltstellen. Ob in der Politik, wie die 43-jährige Katja Dietrich, die demnächst ihr Amt als Oberbürgermeisterin von Weißwasser antritt. Oder als Schriftsteller wie der 30-jährige Lukas Rietzschel, der mit seinen Werken die ostdeutsche Wirklichkeit eindrucksvoll in die literarische Landschaft bringt. In der Musik thematisiert die in Altenburg geborenen Singer-Songwriterin Sarah Lesch, 38, soziale Gerechtigkeit und die Suche nach Identität.

Für sie alle ist die Sozialisation im Osten kein Malus mehr. Warum auch? Die Kindheit und Jugend in den turbulenten 1990er Jahren haben ihre Sicht auf die Welt geformt. Mit der Wiedervereinigung blühte nicht nur das Konsumverhalten auf und brachte ein noch nie gekanntes Spektrum an Waren mit sich, sondern auch Gewalt, Resignation und Hilflosigkeit im Umgang mit den neuen Strukturen. Aus diesen Erfahrungen wuchsen auch Resilienz und die Fähigkeit, Transformation aktiv zu gestalten. Ein Potenzial, das heute für die Zukunft ganzer Regionen wie der Lausitz genutzt wird.

Der Diskurs konzentriert sich häufig stark auf die Frage der ostdeutschen Identität. Doch die Anerkennung dieser Identität sollte kein Selbstzweck sein. Stattdessen kann sie als Ausgangspunkt dienen, um den Blick auf historische Aufarbeitung zu lenken, strukturelle Probleme sichtbar zu machen und mehr zu bieten, als nur die Aussage „Ich bin ostdeutsch, erkennt das bitte an.“

Das Ziel sollte vielmehr sein, übersehene Lebenswelten sichtbar zu machen, die in der allgemeinen Erzählung oft zu kurz kommen. Dabei ist es wichtig, nicht in eine Opferkonkurrenz zu verfallen oder schwierige Erfahrungen gleichzusetzen, sondern eine differenzierte und offene Auseinandersetzung zu fördern.

Euphorie und Enttäuschung machen stark

Nachwendekinder hören oft: „Ihr habt die DDR ja gar nicht wirklich erlebt!“ Doch das Leben in der DDR endete nicht einfach mit dem Systemwechsel. In dieser Übergangsphase wuchsen wir auf, in einer Welt, in der sich alles zu ändern schien: von Vita-Cola zu Coca-Cola, von Nicki zu T-Shirt, von Brause zu Limo, von Anorak zu Jacke. Wir haben gelernt, dass blühende Landschaften auch auch unfertige Entfaltungsräume sein können - wie eine leer stehende Villa, die wir mit unseren Freunden zu einem Kulturzentrum umfunktionieren. Unsere Kindheit war geprägt von einem sozialistischen Umfeld und den Erfahrungen unserer Eltern, die sich nach der Euphorie der Wende in einem neuen Überlebenskampf wiederfanden und ihr Leben von Grund auf neu ordnen mussten.

In dieser Haltung hat eine Gruppe von fünf Künstler:innen ein autobiografisches Workshop-Labor (Öffnet in neuem Fenster) gegründet. Sie laden Nachwendekinder dazu ein, ihre ostdeutsche Identität durch Tanz, Theater, Video und Text zu erforschen. Ziel ist es, biografische Spuren mit aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen zu verknüpfen und herauszufinden, welche besonderen Kompetenzen und Perspektiven aus dieser besonderen Prägung entstehen. Interessant ist, was dabei herauskommt. Offenbar setzt die Erfahrung von Sozialismus, Kapitalismus und der Wende dazwischen nicht nur emotionale Betroffenheit frei, sondern auch besondere Kompetenzen.

In Köln ging im September Projekt „Ostbegegnungen (Öffnet in neuem Fenster)“ an den Start. Es basiert auf einer künstlerischen Recherche in zwei Workshoplaboren in Köln und Weimar. Im kommenden Jahr will das Projekt durch eine Performance Sichtbarkeit für die vielperspektivischen Erfahrungen der Nachwendekinder schaffen.

Wir Nachwendekinder haben gelernt, uns in einem hybriden Umfeld zu bewegen, das aus Fragmenten zweier Welten besteht. Diese Erfahrungen haben uns zu kritischen, anpassungsfähigen Menschen gemacht, die kreativ mit Veränderungen umgehen. Und nun stehen wir an der Schwelle zu einer Zukunft, die wir mitgestalten können, indem wir aus den Lektionen der Vergangenheit schöpfen. 


Kategorie Köpfe und Stimmen