Fragwürdige Ermächtigung
KOMMENTAR / OSTDEUTSCHLAND AM TAG DER DEUTSCHEN EINHEIT
Die jüngsten Wahlen haben eines deutlich gemacht: Der Osten will mehr mitbestimmen. Doch die Politisierung und die Selbstermächtigung fallen nun Populisten in die Hände.
von Christine Keilholz
Oktober 2024

Nach den jüngsten Wahlen war wieder viel zu hören von den Besonderheiten des Ostens. Von den unterschiedlichen Ebenen, auf denen Politik und Bürger agieren und ihre Welt interpretieren. Zwischen Suhl und Guben gibt es jetzt noch mehr blaue Wahlkreise. Die rechtsextreme AfD beherrscht die Szene auch da, wo sie kein überzeugendes Personal vorweisen kann. Trotz wirtschaftlicher Erfolge und klaren Fortschritten sind viele Wählerinnen und Wähler von Ängsten getrieben, die schwer zu greifen sind.
Es ist schockierend, dass viele scheinbar keinen Wert darauf legen, von kompetenten Repräsentanten vertreten zu werden. Stattdessen fließen Stimmen an Parteien, deren programmatische Aussagen oft kaum mehr als intellektuellen Bodensatz darstellen. Für etablierte Parteien, die in der Vergangenheit maßgeblich zur positiven Entwicklung beigetragen haben, stellt sich die Frage, ob sie nicht stärker auf ihre Erfolge hätten hinweisen müssen.
Doch neben dieser berechtigten kritischen Sichtweise ist es wichtig, auch eine andere zuzulassen: Warum schaut man so düster in die Zukunft? Als Antwort reicht es nicht, von einem Gefühl des Abgehängtseins, Unsicherheit und Sorgen zu sprechen. Tatsächlich offenbart sich ein ganz anderes Phänomen: ein neues Selbstbewusstsein im Osten, das sich auf bemerkenswerte Weise äußert.
Avantgarde-Gefühl
Spätestens nach den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zeigt sich deutlich: Die Menschen in Ostdeutschland wollen heute eine eigene Marke im politischen Geschehen setzen. Junge Menschen, die verstärkt die AfD wählen, sind ein Indikator dafür. Es geht nicht nur um die schwierigen Erfahrungen der Eltern in der Nachwendezeit, die in der nächsten Generation nachhallen.
Es geht auch um etwas eigentlich Positives, nämlich um Selbstermächtigung. „Man fühlt sich eher als Avantgarde, nicht mehr als der Teil, der rückständig ist gegenüber dem Westen“, sagte der Soziologe Steffen Mau in einer Talk-Show. Selbst das Fahren eines Simson-Mopeds wird auf diese Weise zu einem politischen Statement, das das Anderssein betont. Es steht weniger für Ostalgie, mehr für eine ländliche Bodenständigkeit, die sich nicht reinreden lassen will. Ostdeutsche nehmen ihr politisches Schicksal zunehmend selbst in die Hand und verschaffen sich Gehör - auch wenn die Äußerungen nicht immer menschenfreundlich sind.
Das ist nicht zuletzt erkennbar an der gestiegenen Beteiligung an Wahlen. An den Landtagswahlen nahmen drei Viertel der Berechtigten teil, bei den Europawahlen Anfang Juni waren es knapp 70 Prozent. Das ist ein klares Zeichen für das gestiegene Interesse an politischer Mitgestaltung. Die Politisierung umfasst auch Gesellschaftsschichten, die sich bisher weitgehend vom politischen Geschehen ferngehalten haben. Allerdings kamen viele erstmals ins Wahllokal, um Populisten ihre Stimme zu geben.
Wunsch nach Teilhabe geweckt
Neben der politischen spielt auch die wirtschaftliche Anerkennung eine Rolle. Der Mittelstand, der die ostdeutsche Wirtschaft maßgeblich trägt, meldet sich zu Wort - und das durchaus laut und schrill. Nachdem drei Jahrzehnte lang die Industrie als Arbeitsplatz-Beschaffer im Fokus stand, fordern nun die kleinen und mittleren Unternehmen Anerkennung für ihre Rolle und ihren Beitrag zum Aufschwung.
Dazu gehören neben kleinen Handwerksbetrieben auch erfolgreiche Gründungen, die im Osten verwurzelt und organisch gewachsen sind. Der Mittelstand hat im Osten oft unter schwierigen Bedingungen neu aufgebaut und dabei Wachstum generiert, das dem Land dringend guttut. Nun, da die regional Wirtschaft durch den Kohleausstieg neu geordnet wird, wollen diese Unternehmen mitbestimmen.
In der Lausitz zeigt sich ein weiterer Aspekt des politischen Diskurses: Der Strukturwandel weckt den Wunsch nach Teilhabe - auch nach Widerspruch. Nach den Kommunalwahlen im Juni sehen sich Städte und Dörfer, die auf den Kohleausstieg angewiesen sind, in ihren Parlamenten mit starken politischen Kräften konfrontiert, die die alten Verhältnisse der Braunkohle-Zeiten beibehalten wollen.
AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) lehnen den Wandel ab und setzen stattdessen auf den Erhalt einer längst überholten Wirtschaftsstruktur. Bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen zeigte sich, dass mehr als 40 Prozent der Wähler Parteien unterstützen, die fossile Energien und den Import russischer Ressourcen beibehalten wollen. Dies bedroht die Fortschritte der Energiewende massiv.
Starke regionale Identität
Das neue politische Selbstbewusstsein droht den Populisten in die Hände zu fallen. Besonders besorgniserregend ist der Erfolg rechtsextremer Parteien, die sich als Hüter von Heimat und Industrie inszenieren, obwohl ihre Vorschläge nicht nur wirtschaftlich in eine gefährliche Richtung führen könnten. Das BSW, eine linke Partei mit nationalistischem Einschlag, tritt für die Bindung an Russland ein und versucht, Deutschland von seinen westlichen Partnern zu entfremden.
Das neue ostdeutsche Selbstbewusstsein ist einerseits Ausdruck einer starken regionalen Identität und eines wachsenden Einflusses in der deutschen Politik. Andererseits birgt es die Gefahr, von populistischen Kräften ausgenutzt zu werden, die keine tragfähigen Lösungen für die Zukunft anbieten.
Dennoch gibt es Lichtblicke. In Weißwasser im Kreis Görlitz gewann jüngst eine unabhängige Kandidatin die Oberbürgermeisterwahl. Katja Dietrichs Erfolg in einer vom Kohleausstieg massiv betroffenen Stadt zeigt, dass die ostdeutsche Identität sich weiterentwickelt. Es gibt nicht nur die trotzig-dystopische Haltung, die sich in der AfD-Zustimmung offenbart - es gibt auch ein optimistisches Anpackertum. Diese Identität ist nicht nur auf Erhalt fokussiert, sondern kann eine Quelle positiver Botschaften und einer neuen wirtschaftlichen Dynamik sein. Die kommenden Jahre werden entscheiden, ob der Osten den Wandel nutzt, um eine positive Zukunft zu gestalten. Oder ob er sich von destruktiven Kräften zurückwerfen lässt.