Der Stress mit dem Spaß
Wolf Hall 2te Staffel/Da Empoli Raubtiere/Mit Herz am Herd

Zuerst fiel es mir auf dem Bürgersteig auf: Gruppen von Freunden, Familien oder Weggenossen gehen nicht mehr zu zweit hintereinander, sondern zu viert oder fünft über die gesamte Breite des Bürgersteigs. Maximal ausnutzen.
Gefährlicher wird diese Praxis auf vielbefahrenen Radwegen, etwa jenem, der in den Ferien zum Strand führt. Freunde, Familien und andere fahren nebeneinander, um sich besser unterhalten zu können. Gegenverkehr - huch - ist dann eine kurioser Zwischenfall und nichts, womit man zu rechnen hätte. Manchmal geht es auch nicht um Konversation, sondern um Erziehung: Vater auf großem Rad fährt neben dem Kind her und gibt Anweisungen Nonstop. Gegenverkehr weicht nachsichtig aus.
Zunächst traute ich meinen Eindrücken nicht. Vielleicht waren das alles nur Einzelfälle. Und schlimm war es nicht. Aber wie das so ist: Je mehr ich darauf achtete, desto mehr fand ich solche Fälle: Ein gemeinschaftlich genutztes Schwimmbecken wird zum Spielfeld für ein Wasserballspiel, auch wenn andere lieber Bahnen schwimmen möchten. In der Badezone am Ufer des Ozeans werden die Bodyboards ausgepackt und kreuz und quer gesurft, auch wenn viel los ist, auch wenn man das nicht gut beherrscht. Weichen die anderen, die nur schwimmen wollen, eben aus, Pech.
In der Bahn wird der öffentliche Raum kurzerhand privatisiert. Hat eine Clique Spaß, muss sich eine Familie über Fahrpläne und alles mögliche andere unterhalten, dann werden alle anderen zu stummen Statisten. Maximaler fun.
Ich hab mich gefragt, woher dieser Wandel kommt. Einmal hat es bestimmt mit dem Rückgang der Zahl der Kinder zu tun. In meiner Kindheit waren es einfach zu viele, man musste Platz machen. Das war ungefähr der wichtigste Grundsatz, der Kindergarten und Grundschule regierte: Bloß die anderen durchlassen, keinen Stau verursachen und keinen Unfall. Im Schwimmbad regiert tausend regeln das Miteinander, die wichtigste aber das unbedingt absolute Verbot, von den Seiten ins Becken zu springen. Ich habe mir nie vorgestellt, welche Strafen darauf stehen –Todesstrafe sicher noch zu mild– aber in meinem Leben bin ich nie von einem Seitenrand in ein Schwimmbad gesprungen. Nun machen das alle dauernd.
Nicht, weil sie unverantwortlich sind. Sie schauen schon kurz, dass die Bahn auch frei ist. Nicht, weil sie etwas Dummes machen möchten, sondern einfach, weil so ein Verhalten zu ihrer Idee von Spaß dazu gehört. In solchen Momenten, in denen sie einfach keine Rücksicht mehr nehmen möchten, geht es darum, den Willen zum fun zu demonstrieren.
Man kennt es aus amerikanischen Filmen, den Serien, den Videos: Maximaler fun ist maximale Regelübertretung. Eine andere Person im Bild, die die Kulisse vielleicht gerade anders nutzen möchte – das dämpft den maximalen Spaß. Das best life ist laut, enthemmt und grenzenlos – übrigens ein eindeutiges Missverständnis. Gerade in der Dosierung entfaltet sich das Glück.
Daher hat es mich auch nicht gewundert, dass einige InfluencerInnen nun Ärger mit dem Fiskus haben: Wer sein best Life lebt, macht keine Einkommenssteuererklärung – so ungefähr suggeriert es die digitale Glücksvorstellung.
Man macht eben jederzeit das Maximum aus allem und eigentlich ist dieser Aspekt auch nicht schlecht. Die Obsession mit Regeln war in meiner Zeit oft genug übertrieben.
Doch wenn alle so viel auf Bildschirme schauen, große und kleine, wird eine zweidimensionale Perspektive auf die Welt eingeübt. Dass da irgendwas hinter ihnen auf- oder überholen möchte, das gibt es in der digitalen Welt nicht. Sie hat immens viele Vorteile - aber Rücksicht kommt darin nicht vor.
Ich habe kaum Serien gesehen in den vergangenen Wochen, aber das wird sich bald wieder ändern, denn auf Arte.de (Öffnet in neuem Fenster) kommt endlich die zweite Staffel der Verfilmung von Hilary Mantels Trilogie – also das liest sich wie der Beginn einer kleinen Textaufgabe, ist aber ein Grund zur Freude. Wir begleiten das weitere Schicksal von Thomas Cromwell am Hofe Heinrich des Achten und ohne zu spoilern - es geht nicht so gut aus für ihn.
https://www.arte.tv/de/videos/122118-001-A/wolf-hall-staffel-2-1-6/ (Öffnet in neuem Fenster)Viel zu früh ist Mantel gestorben. Ich lese immer mal wieder in ihrem absolut singulären Werk, habe aber tatsächlich den dritten Band The Mirror and the Light noch nicht durch. Vielleicht regt mich die Serie noch zu nachholender Lektüre an.
Der miese Gipfel in Alaska erinnerte an die legendäre Four Seasons Gardening PK von Rudy Giuliani. Wir sahen Männer auf einem Parkplatz ohne Plan und spielen Weltgeschichte. Und scheitern. Wie wurde Politik nur zu so einer tristen Show?
Eines der wenigen aktuellen Sachbücher die ich diesen Sommer gelesen habe, ist von Guiliano da Empoli “L heure des prédateurs”. Ich mochte ja schon seinen Magier des Kreml sehr, weil er genau darstellte, wie das in Moskau so lief und noch läuft, mit der digitalen Propaganda, die uns bis heute verrückt macht.
Nun kommt er mit einem neuen essayistischen Panorama der Gegenwart und in Frankreich ist es schon erschienen. In Deutschland dann im September
https://www.beck-shop.de/da-empoli-stunde-raubtiere/product/38898663 (Öffnet in neuem Fenster)Er schöpft dazu aus seiner Erfahrung als Berater des einstigen italienischen Premiers Matteo Renzi oder von Reisen mit Emmanuel Macron. In seinen Geschichten geht es um die unglaubliche Naivität der traditionellen europäischen Politik angesichts von Mitbewerbern, die konsequent auf Systemwechsel und Machtstreben setzen. Besonders eindrücklich ist ein Abend bei den Obamas, an dem sich alle darin überboten, besonders woke und identätskomplex rüberzukommen.
Einen handlichen X-Punkte-Plan, um aus der politischen Misere herauszukommen, bietet er nicht, aber er illustriert anhand von Geschichten und Analogien, warum wir uns seit Jahren in einem falschen politischen Bezugsrahmen bewegen. Hochspannende und erhellende Lektüre.
Eine der stabilsten und sympathischsten Kochsendungen im deutschen Fernsehen kommt natürlich vom Saarländischen Rundfunk. In Mit Herz am Herd geht es nie um komplizierte Gerichte, es kommen keine Stars vor und teuer sind die Zutaten nicht, aber es ist alles voller guter Laune, die Gerichte gelingen fast jedem und sind die reine saarländische Freude
https://www.ardmediathek.de/video/mit-herz-am-herd/backhaehnchen-mit-omas-superfood-salat/sr/Y3JpZDovL3NyLW9ubGluZS5kZS9NSEFIXzEzMjAyNQ (Öffnet in neuem Fenster)Kopf hoch,
Ihr
Nils Minkmar
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