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Kurven

Im Wald. In den Blättern wohnt noch die Kühle. Hinter drei Kurven. Ein Hund. Er bellt den Morgen an. Vom Besitzer keine Spur. Eine Stimme ruft: „Komm her!“ Sie klingt weit. Zu weit für mein Gefühl. Nichts fürchte ich mehr als herrenlose Hunde. Das Tier ignoriert die Rufe. Dankbar, dass es nicht über meine Waden herfällt, laufe ich weiter. Die Schritte verhallen. Das Augustgrün verschluckt mich. In der nächsten Kurve bin ich weg.

An diesem Morgen fühle ich mich wie ein Bierlaster auf platten Reifen. In wenigen Wochen werde ich 60 und ich vermisse mein altes Läuferleben. Gern würde ich wieder morgens um halb fünf aus dem Bett springen, mir einen Kaffee reinziehen, meine Laufklamotten überwerfen und vor der Arbeit locker zweimal um die Alster laufen. Wenn ich heute in meine Joggingschuhe schlüpfe, brauchen meine Knochen ein intensives Warmmachen. Seit drei Jahren geht das schon so. Nach einer Oslo-Reise bekam ich eine Gelenkentzündung in meinem Knie. Eine Kniearthrose, die ich vorher kaum spürte, wurde jetzt mein neuer Partner. Das Treppenheruntersteigen wurde zur Qual. Doktor Google und Doc ChatGPT bescheinigten mir, dass ich im Eimer bin. Nie wieder laufen lautete ihr Urteil. Innerlich stellte ich mich schon aufs Rennradfahren ein und dachte über einen Umzug in eine altengerechte Wohnung nach. Meine Orthopädin und mein Physio erhoben Einspruch gegen die Ärzte aus dem Silicon Valley. Sie empfahlen mir, meine Mobilität und Stabilität weiter zu verbessern. Seitdem hat sich unser Esszimmer in ein Turnzimmer verwandelt. Hanteln, Yogamatten, Gymnastikbänder, Wackelbrett und ein übergroßer blauer Fitnessball sind jetzt unsere Stammgäste. Wann das Bücherregal einer Sprossenwand weichen muss, ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Übungen zeigen Wirkung. Ich bin wieder unterwegs. Viel langsamer als früher, aber ich komme voran.

In meinem Atem mischt sich ein fremdes Schnaufen. Links überholt mich ein Läufer. Ganz in Schwarz gekleidet, mit verspiegelter Laufbrille und Kopfhörern. Im Kampfpilotenmodus jagt er an mir vorbei. Früher war ich auch so drauf.

Zur Jahrtausendwende begann ich mit dem Lauftraining. Jeden Tag flitzte ich durch Hamburg. Zweimal im Jahr einen Marathon, dazwischen Halbmarathons und Zehnkilometerläufe. Ich wurde zum Dauerläufer. Aus Rausch wurde Wahn. Meine Laufschuhsammlung wuchs. Von jeder Marathonmesse schleppte ich tütenweise neue Funktionskleidung heim. In langweiligen Meetings studierte ich Trainingspläne. Stopfte Energygels in mich hinein. Übernahm seltsame Methoden zur Leistungssteigerung. So las ich in einem Sportmagazin, dass japanische Athleten ihre langen Läufe, die sogenannten Long Jogs, in Industriegebieten machen würden, weil sie sich an die Ödnis eines Marathons gewöhnen wollten. Die monotone Vorbereitung soll die Euphorie bremsen, weil sie der erste Schritt in die Frustration ist. Wie oft habe ich Läufer und Läuferinnen dabei beobachtet, wie sie angepeitscht vom Publikum im Rausch durchgestartet sind, um dann auf der Hälfte der Strecke auf einer Verkehrsinsel zu stranden. Ich übernahm die Idee der Japaner und lief stattdessen in einem kleinen Park in meinem Viertel. Einen Morgen und einen Vormittag drehte ich abwechselnd mit und gegen den Uhrzeigersinn meine Runden. Mehr Zen ging nicht. Ein älterer Herr hielt mich mittags an und erkundigte sich, ob es mir gut gehe, denn er hätte mich schon beim Brötchenholen beobachtet.

Viele gute Erinnerungen verdanke ich dem Marathonlaufen. Nachdem ich das erste Mal die 42 Kilometer in Hamburg absolviert hatte, wurde ich getauft, weil ich eine Wette gegen einen Pastor verloren hatte. Als er endlich nach mir ins Ziel ankam, segnete er eine Hella-Mineralwasserflasche – aus Versehen hatte er seine Laufflasche mit geweihtem Jordanwasser ausgetrunken – und taufte mich. Und vor 22 Jahren beschloss ich, kurz vor dem Ziel des München-Marathons meiner Frau einen Heiratsantrag zu machen. Voller Endorphine kniete ich mich im alten Olympiastadion hin und bat sie, meine Frau zu werden. Sie sagte ja. Wie ich wieder hochkam, weiß ich nicht mehr.

“Wenn ich hier vom Laufen schreibe, muss ich von meinem wichtigsten Lauf erzählen. Es ging nicht um Medaillen oder Urkunden. Es ging um das Leben meiner Mutter.”

Die langen Strecken gehören der Vergangenheit an. Mir ging nicht die Luft aus. Ich konnte mich nicht an die Langeweile gewöhnen. Selbst das monotone Laufen im Park half mir nicht weiter. Außerdem fand ich es philosophisch fragwürdig, wenn Start und Ziel dicht beieinanderliegen. Immer im Kreis zu laufen, fand ich doof. Wie Sisyphos kam ich mir vor. Vorankommen sieht für mich anders aus. Nach der vielen Quälerei löste sich meine Geometrie auf.

Heute laufe ich nur zu meinem Vergnügen. Ich bin es nicht leid. Das Aushalten von Widrigkeiten fasziniert mich weiterhin. Mal ist es ein Umweg, weil eine Brücke gesperrt ist oder eine Socke fängt plötzlich an zu scheuern. Wenn ich hier vom Laufen schreibe, muss ich von meinem wichtigsten Lauf erzählen. Es ging nicht um Medaillen oder Urkunden. Es ging um das Leben meiner Mutter.

Als ich zehn Jahre alt war, wohnte ich 1975 mit meiner Familie in Duisburg. Meine Mutter musste meine Schwestern und mich allein durchbringen. Sie kellnerte in einem Gasthaus, das unserem Vermieter gehörte. Er behielt den halben Lohn ein, weil er die Miete gleich abzog. Zusätzlich ging sie nebenbei putzen. Es wurde ihr zu viel. Außerdem wollte sie selbst entscheiden, wofür sie ihr Geld ausgab. Sie kündigte. Natürlich blieb das nicht ohne Konsequenzen für uns. Wir wurden lästig. Täglich gab es Stress mit ihm.

Sie arbeitete hart, aber es reichte nicht. „Zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel“, sagte sie immer. Eines Tages konnte sie nicht mehr. Erschöpft lag sie in ihrem Bett und stand nur auf, um blutige Handtücher auszuwaschen. Mir erklärte sie, das würde schon wieder vorbeigehen. Ich wollte unseren Vermieter um Hilfe bitten, aber sie verbot es mir. Am nächsten Morgen war sie kaum ansprechbar. An diesem Tag ging ich nicht in die Schule, weil ich meine beiden Schwestern und meine Mutter versorgte, die von Stunde zu Stunde schwächer wurde. Abends lag sie nur noch da und röchelte. Durch die vielen Umzüge hatten wir kaum Freunde, und zu unseren Verwandten hatte meine Mutter keine Verbindungen mehr. Ein Telefon besaßen wir damals nicht, daher schrieb sie mit letzter Kraft einen Zettel und drückte mir ihn in die Hand: „Lauf zur nächsten Polizeiwache! Los, lauf! Lauf! Oder willst du für immer ins Heim?“ Ich erschrak und weinte. „Weinen hilft uns nicht! Lauf endlich los!“ Sie sank wieder in ihre Kissen. Ich zog mich an und beruhigte meine beiden kleinen Schwestern. Weinend stürzte ich mich in die Dunkelheit. Ich musste meine Mama retten.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich durch die Straßen rannte, bis ich die Polizeiwache erreichte, aber für mich war es der längste Lauf meines Lebens. Immer wieder hielt ich an, weil meine Lunge brannte. Mein Herz schlug nicht mehr in der Brust, es schlug in meinem Mund. Endlich erreichte ich die Wache. Gott sei Dank hatte meine Mutter mir den Zettel mitgegeben, denn die Polizisten konnten sich aus dem Geheule, das sich mittlerweile in ein Gekreische verwandelt hatte, keinen Reim machen. Sie lasen ihn durch, beruhigten mich und fuhren mit mir in unsere Wohnung. Wenig später kam der Notarzt. Wir Kinder kamen in ein Heim. Die Erzieher erzählten uns, dass meine Mutter sehr krank war und Zeit braucht, bis sie wieder gesund ist.

Später erklärte sie uns, dass sie einen Blutsturz hatte und wahrscheinlich nur überlebt hat, weil ich so schnell gelaufen bin. Ich habe durchgehalten, darauf war ich stolz. Ich dickes Kind hatte meine Mutter gerettet. Die ersten Lektionen als Läufer habe ich in dieser Nacht gelernt. Ausdauer kann nicht schaden und hinter jeder Kurve warten neue Fragen auf dich, die beantwortet werden wollen.

Und während ich mein Waldbad genieße und die Ereignisse aus meiner Kindheit an mir vorbeihuschen, stelle ich fest, dass der deutsche Begriff „Ausdauer“ ein semantisches Paradox ist. Das „Aus“ steht im Grunde für etwas, das vorbei ist. „Dauer“ dagegen bedeutet, dass etwas fortbesteht. Wie kann etwas beendet sein und gleichzeitig weitergehen? Ein seltsames Wort. Je länger ich es betrachte, finde ich, dass es wenig innerliche Beweglichkeit zulässt.

Das gedankliche Abschweifen mag ich, wenn ich im Flow bin. In meinem Hirn verbinden sich längst verlorengeglaubte Pfade mit neuen Wegen. Mit jedem Schritt bekommen Dinge ein anderes funkeln. Aber noch mehr als das Grübellaufen, liebe ich das Draußensein. Stadt oder Wald ist mir egal. Beides hat seinen Reiz. Ich laufe bei Regen über matschige Feldwege oder in der Mittagssonne durch Eigenheimgegenden. Das Schönste ist aber der Nebel. Für mich gibt es nichts Schöneres, als durch den Schleier zu joggen, der sich weigert, mir die komplette Welt zu zeigen. Alles muss ich im Kopf ergänzen. Wer eine Schwäche für klare Sicht hat, sollte lieber einen Hallensport machen. Heruntergefallene Tannenzweige versperren meinen Weg. Sie greifen nach meinen Füßen. Harz tritt aus ihren Wunden. Tannenaromen erfüllen die Luft. Ein warmer Duft. Ein Aroma, das mich an George Büchners gleichnamige Erzählung und den Helden Lenz erinnert. Lenz, der im „Jänner“ durchs Gebirg ging. „Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte.“ Das wäre ein Lauf nach meinem Geschmack. Die hohen Farne, den Matsch und das feuchte Laub vor der Nase und dann orientierungslos durch vergessene Sommer rennen.

Meine Knie melden sich. Ich horche in mich hinein. Die Beine haben genug. Es geht zurück. Für ein paar Kudos auf Strava wird es reichen. Wenn mich jemand fragt, was ich am Laufen mag, dann antworte ich, dass ich für einen Moment verschwinden kann. Nicht mehr da zu sein, ist ein schönes Gefühl, und sei es nur für eine Kurve.

Die Episode über meine Mutter stammt aus einem Blog-Post, den ich vor über 20 Jahren veröffentlicht habe. Ich habe den Text ein wenig überarbeitet. Damals begann ich nicht nur mit dem Marathontraining, sondern auch mit dem Schreiben. Tatsächlich ging es bei meiner ersten Veröffentlichung ums Laufen. Scheint mein Lebensthema zu sein.

Für die Leser und Leserinnen von Ponysülze habe ich zusätzlich noch einen Blog eingerichtet, wo du zwischen meinen Newslettern vorbeischauen kannst. Es ist ein Sammelsurium aus Eindrücken und Empfehlungen. Ich dachte, das ist besser als ein zusätzlicher Newsletter oder Instagram. Komm gerne vorbei und schaut dich auf dem Ponysülze-Blog (Öffnet in neuem Fenster) um (Tipp: Nutze die Webansicht). Viel Spaß.

Vielen Dank für deine Geduld mit mir.

Liebe Grüße

Knuth

Kategorie Essay

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