Warum wir lesen sollten, auch wenn wir vieles wieder vergessen

Eine alte Sufi-Weisheit - neu geschrieben von Gudrun Anders
„Meister, ich habe unzählige Bücher gelesen, doch die meisten davon sind mir wieder entfallen. Wenn das Wissen doch einfach wieder aus meinem Kopf verschwindet, wozu soll ich dann überhaupt lesen?“ Die Frage eines jungen, aufrichtig neugierigen Schülers durchbrach die Stille des alten Sufi-Klosters und hallte in der weiten Halle wider.
Es war eine Frage, die viele von uns sich schon einmal gestellt haben, besonders in einer Zeit, in der Informationen im Überfluss vorhanden sind und das Gefühl, nicht alles behalten zu können, oft überwältigend ist. Der weise Meister, dessen Augen so alt waren wie die Geschichten, die er lehrte, blickte den Schüler schweigend an, ein leichtes, wissendes Lächeln umspielte seine Lippen.
Schließlich durchbrach er die Stille mit einer scheinbar einfachen Bitte: „Ich habe Durst, mein Sohn. Bring mir Wasser – aber benutze dieses alte Sieb.“ Dabei reichte er dem Schüler ein abgenutztes, grobmaschiges Sieb, dessen Oberfläche von Schmutz und den Spuren vieler Jahre gezeichnet war.
Der Schüler war sichtlich verwirrt. Wasser mit einem Sieb? Das schien eine unmögliche Aufgabe zu sein. Wie sollte er auch nur einen Tropfen halten, wenn das Wasser doch sofort durch die Löcher rinnen würde? Doch aus Respekt vor seinem Meister nahm er das Sieb entgegen und eilte zum Brunnen.
Er versuchte es. Einmal. Das Wasser floss augenblicklich hindurch. Er versuchte es noch einmal, schneller, mit noch größerer Entschlossenheit. Er rannte, so schnell er konnte, in der Hoffnung, dass die Geschwindigkeit das Wasser im Sieb halten würde. Er versuchte sogar, die Löcher mit seinen Fingern zu verstopfen, doch es war vergeblich. Das Wasser entwich unaufhaltsam.
Nach zahllosen Versuchen, erschöpft und von tiefer Verzweiflung gezeichnet, kehrte er zum Meister zurück. „Meister“, keuchte er, die Schultern gesenkt, „ich habe versagt. Es ist unmöglich, Wasser mit einem Sieb zu halten.“
Der Meister nickte sanft und sah den entmutigten Schüler mit mitfühlendem Blick an. „Du hast nicht versagt, mein lieber Schüler“, erwiderte er mit ruhiger Stimme. „Schau dir das Sieb an.“
Der Schüler hob das alte Sieb hoch und staunte nicht schlecht. Das einst schmutzige, graue und abgenutzte Sieb glänzte nun. Jeder einzelne Gang zum Brunnen, jeder Versuch, das Wasser zu schöpfen, hatte seine Wirkung getan. Das fließende Wasser hatte den Schmutz abgewaschen, die Ablagerungen entfernt und die Oberfläche des Siebes gereinigt. Es war sauber, so sauber wie es lange nicht mehr gewesen war.
„Genau darum geht es beim Lesen“, erklärte der Meister. „Es ist nicht entscheidend, dass du jedes Wort, jeden Satz und jedes Detail auswendig lernst. Es ist nicht wichtig, dass das Wissen, das du aufnimmst, in deinem Gedächtnis verweilt, wie Wasser in einem vollen Krug. Dein Geist ist wie dieses Sieb. Wenn du liest, auch wenn du denkst, dass das Wissen einfach wieder durch deine Gedanken fließt, ohne Spuren zu hinterlassen, wird dein Geist gereinigt. Ohne dass du es bewusst merkst, wirst du verwandelt. Dein Denken wird klarer, deine Perspektiven erweitern sich, und dein Inneres wird geläutert. Das ist der wahre Sinn des Lesens – eine Transformation, die weit über das bloße Behalten von Fakten hinausgeht.“
Diese zeitlose Sufi-Weisheit erinnert uns daran, dass der Wert des Lesens nicht allein im Speichern von Informationen liegt. Es ist ein Prozess der stillen Reinigung und Veredelung unseres Geistes.
Was denkst du darüber: Hast du auch schon ähnliche Erfahrungen gemacht, bei denen das Lesen – oder vielleicht ja auch das Schreiben – dich auf eine Weise verändert hat, die du nicht sofort (be-)greifen konntest?