Vor ein paar Tagen habe ich in einem Hotel übernachtet. Beim Frühstück saß ich zwei Tische neben einem älteren Mann, der seinen Laptop vor sich stehen hatte. Während ich frühstückte, tippte er in seinen Laptop. Er war wirklich ein älteres Modell, also der Mann, der Laptop aber auch. Ich finde ältere Menschen an Computern immer irgendwie rührend, deshalb habe ich ab und zu rübergeschaut und mich gefreut. Zufällig sind der Mann und ich dann beide in einem Aufzug gelandet und ich konnte nicht anders, als ihm ein Kompliment zu machen: “Schicke Hosenträger.” Ich finde nicht nur alte Leute an Computern toll, sondern auch Hosenträger. Er hat sich gefreut, sagte “Oh, Dankeschön”, zuppelte ein bisschen an den Hosenträgern und wurde rot.
Kurz danach schrieb ich einer Freundin: “Wenn ich nicht mehr arbeiten müsste, würde ich in Seniorenheimen mit den Leuten Karten spielen und ihnen Komplimente machen.” Ich spreche total gern mit älteren Menschen, das war schon immer so. Eine zeitlang hat meine Mutter in einem Seniorenheim gearbeitet und habe sie dort manchmal besucht. Das fand ich toll. (Die Menschen dort auch.) Und besonders toll war es, wenn ich den Menschen gesagt habe, was ich süß oder hübsch an ihnen finde. Ich könnte mir deshalb wirklich gut vorstellen, das ein paar Mal die Woche zu machen. Den Leuten im Seniorenheim würde es gut tun und mir auch.
Stattdessen leben wir im Kapitalismus, ich muss für mein Kind und mich Geld verdienen und komme nicht einmal dazu, endlich wieder zu tanzen, was ich seit Jahren machen will. Hier, im Kapitalismus, kann ich es mir nicht leisten, mal eine Woche (außer Sommerurlaub, den versuche ich wenigstens eine Woche zu machen) nicht zu arbeiten. Wenn ich nicht arbeite, verdiene ich kein Geld. Ich kann mir nicht leisten, kein Geld zu verdienen. Und deshalb kann ich mir auch nicht leisten, mit älteren Leuten Karten zu spielen und ihnen Komplimente zu machen.
Utopie und Alltag, so heißt dieser Newsletter. Und genau hier, im Aufzug des Hotels mit dem Herrn mit den Hosenträgern, treffen beide aufeinander. In meiner Utopie spiele ich Karten und mache Komplimente, im Alltag mache ich ein Kompliment und muss dann weiter an meine Arbeit. Aber wie wäre das, wenn es anders wäre? Ein bisschen von der Utopie träumen, dafür muss Zeit sein. Leider haben dafür nicht alle Zeit – eines der größten Probleme unserer Zeit. Genau dazu habe ich gerade einen Text geschrieben. Das Zentrum für neue Sozialpolitik hat mich angefragt und ich konnte den Text erst nach der Deadline abgeben.
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Seit vier Wochen soll ich diesen Text abgeben. Schreiben ist mein Beruf und ich mache ihn gern, meistens. Diesen Text möchte ich schreiben, weil ich ihn wichtig finde. Aber: Ich hatte keine Zeit. Immer war irgendwas – andere Jobs, mein Kind, die Sommerferien, eine Krankheit und dann: Urlaub. Ein Wort, das in meinem Leben noch nicht so lange existiert. Genau wie Zeit. Das Wort existiert zwar in meinem Leben, aber die Zeit für mich, zum Beispiel im Urlaub, die ist bei mir noch immer die absolute Ausnahme. Viele Menschen können von dieser Zeit, Zeit für sich, nur träumen.
Sara aus Düsseldorf, die aus Brasilien nach Deutschland kam und als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern als Haushaltshilfe aarbeitet. Zeit für sich hat sie nie. Die Häuser von reichen Menschen, die sie an sieben Tagen die Woche putzt, gehen vor. Ihr Geld verdient sie nicht nur für sich und ihre Kinder, sondern auch, um ihre Herkunftsfamilie in Brasilien zu unterstützen.
Momo aus Leipzig, die als Busfahrerin tätig ist und deren Arbeitstag oft morgens um 2:48 Uhr startet. Wenn ihre Kinder abends mit ihr Zeit verbringen wollen, muss sie schlafen. Sie arbeitet dann im verkürzten sogenannten „Muttidienst“ – die Stunden muss sie mit Frühschichten wieder aufholen.
Simone aus München, die sich rund um die Uhr um ihren kranken und behinderten Sohn kümmert. Rund um die Uhr bedeutet: 24 Stunden, jeden Tag, ohne Pause. Sie kümmert sich um ihn und niemand kümmert sich um sie. Sie würde gern Erwerbsarbeiten, aber wann soll sie das machen, neben 24-Stunden-Pflege?
Sie alle hätten diesen Text schreiben sollen, denn sie bleiben im Diskurs um Zeit und Gerechtigkeit unsichtbar. Sie haben keine Zeit für solche Texte. Und sie haben keine Zeit für sich selbst.
aus: ZEIT: 12 Perspektiven auf eine vernachlässigte Ressource (Öffnet in neuem Fenster)
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Auf Instagram habe ich meine Follower*innen gefragt, was sie tun würden, müssten sie nicht mehr arbeiten. Ein bisschen Zeit für Utopie muss sein. Eine Auswahl der Antworten (es kam über 100):
mich ausruhen, mehr rausgehen
weniger arbeiten, wieder mehr Freund:innenschaften haben
Leuten einfach zuhören
mich meinem Jugendhobby Astronomie wieder mehr widmen
jeden Tag für andere kochen
Fahrrad fahren und Brote backen
Neugeborene, die darauf angewiesen sind, kuscheln, als ehrenamtliche Kuschlerin
immer ausschlafen
Lesepatin werden
ein Café eröffnen
Leute coachen (zertifiziert!) und ihnen bei Bewerbungen helfen
ehrenamtliche Naturschutzarbeit leisten oder Fridays for Future unterstützen
Kulturveranstaltungen besuchen und dabei ein kostenfreies Begleitangebot für Menschen mit Behinderung etablieren
für den Stadtrat kandidieren, Lobbyarbeit für Alleinerziehende
einen internationalen Lesekreis gründen
Strickmuster für große Größen entwerfen
vorlesen
trotzdem arbeiten, aber nur drei Tage die Woche – ich liebe meinen Job mit Krippenkindern
ehrenamtlich die DLRG unterstützen und Menschen zu Autismus beraten
auf die Kinder anderer aufpassen
viele Kinder bekommen
Menschen dabei unterstützen, die Gräber ihrer Liebsten zu bepflanzen und zu pflegen
mich um Tiere kümmern und mich im Tierheim engagieren
einen Hund adoptieren, als Besuchshund ausbilden lassen und Kitas und Pflegeheime besuchen
bastel und die ganze Bude vollschnipseln
mich politisch engagieren
mehr lesen und mit den Kids meiner Friends auf dem Spielplatz Quatsch machen
Supperclub eröffnen
Bäume pflanzen und in der Suppenküche helfen
Kultur und Gemeinschaft gestalten, wo es bisher nur wenig gibt
Elternzeit fürs Pre-Teen-Kind nehmen
schwerkranken Kindern und ihren Familien als Hilfe beistehen
aufs Meer schauen
mich noch mehr politisch engagieren und meinen Kindern morgens Pancakes backen
ein solidarisches Café bei uns auf dem Dorf betreiben – für alle
mehr theoretische Werke zu Feminismus lesen und mich politisch einmischen
Medizin studieren und dann ehrenamtlich Menschen versorgen
nicht so ausbrennen, mehr Energie für meine Kids, gutes Essen, Kunst und Ehrenamt haben
singen
im Altenheim oder Hospiz helfen
mein Zuhause endlich nach meinen Wünschen gestalten
viel mehr Zeit mit Care-Arbeit verbringen (oder ist die auch Arbeit?)
Dinge reparieren
in der Schulbücherei mitarbeiten
spazieren gehen
kostenlose Yoga-Stunden geben – für alle, queer, behindert etc.
mit Kindern Demoplakate malen und ihnen die Vielfalt der Natur in der Stadt zeigen
Geschichten erzählen
Kreatives-Schreiben-Kurse für Kinder anbieten
mich um wohnungs- und obdachlose Menschen kümmern
meine Straße aufräumen
meinen Garten besser pflegen und einen anderen auch noch ehrenamtlich schön machen
Bücherschränke betreuen
alle notwendigen gesundheitlichen Untersuchungen nachholen
mit und ohne Kind reisen
mich mit random Menschen unterhalten
Was würdest du tun, wenn du nicht mehr arbeiten müsstest?
Wenn du mich und meine Arbeit unterstützen möchtest, freue ich mich über ein Abo (ohne Geld) oder eine Mitgliedschaft (mit Geld) bei Utopie + Alltag.