Xi Jinping hat ein ProblemÂ
Seine Partei hat China reicher, aber auch ungerechter gemacht. Heute geben immer mehr Chines*innen dem System die Schuld

Manche Menschen in China sind ĂŒberall und trotzdem unsichtbar. Zum Beispiel sogenannte Baoâan: Das sind einfache, schlecht bezahlte Sicherheitsmitarbeiter*innen in Wohn- oder BĂŒrogebĂ€uden. Auf der Videoplattform Douyin hat ein solcher Baoâan kĂŒrzlich fĂŒr Furore gesorgt (Opens in a new window): In einem Video erzĂ€hlt der freundlich lĂ€chelnde Mitarbeiter einer Tempelanlage, er sei dankbar fĂŒr die gestiegenen Besucherzahlen. Denn dadurch sei sein Lohn gestiegen, auf 2.200 RMB. Das sind umgerechnet etwa 290âŹ.
Das Video ging sofort viral. âNur 2.200 RMB???â empörten sich viele User. Die niedrige Bezahlung des Mitarbeiters wurde heiĂ diskutiert auf Weibo, dem chinesischen Twitter. Nur wenige Tage spĂ€ter berichtete derselbe Mitarbeiter, er sei gefeuert worden: âSie wollen nicht lĂ€nger, das ich zur Arbeit komme. Ich bin sehr traurig. Ich werde niemals eure UnterstĂŒtzung vergessen.âÂ
Warum erzĂ€hle ich dir diese Geschichte? Weil sie verdeutlicht: In der chinesischen Bevölkerung entwickelt sich gerade ein neues Bewusstsein fĂŒr Ungerechtigkeit. Viele Menschen in China wissen, dass kein Land so schnell so wohlhabend geworden ist. Und dass heute das reichste 1 % (Opens in a new window) der chinesischen Bevölkerung fast ein Drittel des gesamten Privatvermögens besitzt. Warum löst diese Ungerechtigkeit genau jetzt Empörung aus? Und ist das ein Problem fĂŒr die Kommunistische Partei? Darum geht es in diesem Text.
Wie China den Mao-Anzug gegen business casual eintauschte
âWenn du dich genug anstrengst, kannst du alles schaffen.â Klingt ziemlich amerikanisch, aber dieser Ăberzeugung vertrauten bisher auch die meisten Chines*innen. Das zeigt eine Untersuchung (Opens in a new window) des Research Center for Contemporary China (RCCC) der Beijing UniversitĂ€t. Forscher*innen befragen Chines*innen dort regelmĂ€Ăig zu sozialer Gerechtigkeit. Zum Beispiel: Warum sind manche Menschen in China arm? 2004 und 2014 antwortete ein GroĂteil: Armen Menschen mangele es an FĂ€higkeit, Einsatz oder Charakter. FĂŒr den eigenen Erfolg ist jeder selbst verantwortlich, glaubte man also in China. Und das hat etwas mit Chinas Aufstiegsgeschichte zu tun.
Als Staatschef Deng Xiaoping Anfang der 1980er Jahre den Weg fĂŒr die Privatwirtschaft freimachte, brach Tatendrang in der chinesischen Gesellschaft aus. An jeder Ecke eröffneten frischgebackene Unternehmer*innen Friseursalons, schmorten Lammkebabs oder verschacherten aus Hongkong importierte Kassettenrekorder. Chinas Gesellschaft war berauscht von xiangqiankan, ein Wortspiel, das einerseits bedeuten kann: Nach vorne schauen. Oder: Aufs Geld schauen. Zwar lebte 1987 immer noch ĂŒber die HĂ€lfte der chinesischen Bevölkerung (Opens in a new window) unter der absoluten Armutsgrenze. Trotzdem fĂŒhlten viele: Die Welt steht mir offen. Ich kann Geld verdienen, womit ich will. Und ich kann es ausgeben, wofĂŒr ich will.Â
Wie eine kommunistische Partei die Reichen reicher machte - und die Armen arm lieĂ
In den 1980ern gab es nur eine Sache, die schneller wuchs als das BIP: die Kluft zwischen Arm und Reich. DafĂŒr ist auch die Kommunistische Partei verantwortlich: Schulterzuckend verkĂŒndete Staatschef Deng Xiaoping (Opens in a new window), einige mĂŒssten nunmal âzuerst reich werdenâ. Deng verhinderte zwar eine schockhafte Preisliberalisierung (Opens in a new window) wie in Russland, die in China zu einer noch gröĂeren Katastrophe gefĂŒhrt hĂ€tte. Aber mit zwei MaĂnahmen zementierte die Kommunistische Partei die Ungleichheit in der chinesischen Gesellschaft:
Erstens behielt sie das hukou-System bei. Das ist eine Haushaltsregistrierung (Opens in a new window), die den Zugang zu Sozialleistungen an den Geburtsort bindet. UrsprĂŒnglich sollte die hukou-Registrierung die massenhafte Abwanderung der Landbevölkerung in die StĂ€dte verhindern. Heute treffen die Folgen vor allem Wanderarbeiter*innen, die von stĂ€dtischen Schulen und Gesundheitsvorsorge ausgeschlossen sind und kaum Chancen haben, in besser bezahlte Jobs aufzusteigen.
Zweitens fĂŒhrte sie nie ein Steuersystem ein, das das entstehende Vermögen vernĂŒnftig besteuerte (Opens in a new window). Chinas Steuersystem fuĂt auf der Besteuerung von Unternehmen. Denn als die Partei wĂ€hrend der Ăffnung das Steuersystem komplett neu aufbauen musste, besaĂ die Bevölkerung schlicht kein nennenswertes Vermögen, das man hĂ€tte besteuern können. Heute gibt es zwar eine Einkommenssteuer. Aber an das richtige Vermögen traut sich die Kommunistische Partei nicht: Immobilien oder Erbe werden kaum oder gar nicht besteuert, auch weil das viele Regierungsbeamte in Schwierigkeiten bringen wĂŒrde.
Aber das alles war in den 1980ern nicht wichtig. Denn China wuchs so schnell, dass jeder profitierte. Und so lange jeder profitierte, kĂŒmmerte die Ungleichheit keinen. Was stattdessen wichtig war: Ein jĂ€hrliches BIP-Wachstum um die 10 Prozent, das der Kommunistischen Partei LegitimitĂ€t verschaffte. Als Landwirt selbst entscheiden zu können, ob man Reis oder Baumwolle anbaute. UniversitĂ€ten und Schulen, die wieder öffneten. Und das GefĂŒhl, das eigene Schicksal selbst in die HĂ€nde nehmen zu können. Diese Aufbruchszeit hat bei vielen die Ăberzeugung verankert: Wer stets an seinen eigenen FĂ€higkeiten arbeitet, kann alles erreichen.Â
Von diesem Optimismus zehrte China jahrzehntelang. Doch heute verkĂŒnden junge Chines*innen auf sozialen Netzwerken: âIch wollte heute fĂŒr den Sozialismus kĂ€mpfen. Aber das Wetter ist so verdammt kalt, dass ich nur im Bett liegen und auf meinem Handy spielen kann.â Was ist aus dem Tatendrang der 1980er geworden?
It never rains in Dalifornia
Stell dir vor, du sitzt im Kino. Der Film geht gerade los, als die Zuschauer*innen in der ersten Reihe aufstehen, um einen besseren Blick auf die Leinwand zu haben. Also steht die zweite Reihe auch auf. Und die dritte, und schlieĂlich der ganze Saal, bis niemand mehr einen Blick auf den Film hat.Â
UngefĂ€hr so geht es gerade vielen jungen Erwachsenen in China. Sie leiden an neijuan (Opens in a new window), ein Online-Hashtag, der ĂŒbersetzt etwa âRolle inwĂ€rtsâ bedeutet. Er beschreibt das GefĂŒhl, in einem sich immer schneller drehenden Hamsterrad festzustecken, ohne etwas zu erreichen. Nach einem zermĂŒrbenden Leistungswettbewerb in Schule und Studium stehen derzeit um die 20 Prozent (Opens in a new window) der jungen Chines*innen offiziell ohne Job da, die echte Zahl liegt vermutlich noch höher. Diejenigen, die einen Job ergattern, erinnert die Arbeitskultur vieler Firmen ans âSchnittlauch schneiden (Opens in a new window)â - fĂ€llt jemand aus, wĂ€chst der nĂ€chste sofort nach.
Dazu Ăberalterung, Immobilienkrise und die Covid-Pandemie: Das verunsichert eine Gesellschaft, die jahrzehntelang nichts anderes kannte als höher, schneller, weiter. Besonders unter jungen Erwachsenen hat kaum jemand noch den Eindruck: Mein Schicksal liegt in meinen HĂ€nden.
Wer kann, checkt aus: Gelangweilte, junge Chines*innen flĂŒchten in Hippie-Communities wie Dalifornia (Opens in a new window) im SĂŒden Chinas oder gehen mit Tausenden anderen auf nĂ€chtliche Fahrradtouren (Opens in a new window). Immer mehr Chines*innen versuchen ihr GlĂŒck im Lotto (Opens in a new window) oder verlassen gleich das Land, zum Beispiel in Richtung USA: 37.000 Chines*innen reisten (Opens in a new window) 2023 ĂŒber die SĂŒdgrenze in die USA ein, zehnmal so viel wie im Jahr davor.
Wer nicht auschecken kann, verfĂ€llt einer Art Online-Fatalismus: Junge Menschen in China sind chronically online und dokumentieren auf Weibo und Co, wie sie flachliegen (Opens in a new window), verrotten (Opens in a new window), weglaufen (Opens in a new window) oder âes buddhistisch nehmen (Opens in a new window)â. Mit diesen Hashtags halten junge Chines*innen ihren Ausstieg aus dem Hamsterrad fest.
Xi Jinping hat von Flachliegen keine Ahnung
âFlachliegenâ und Co sind derzeit eher Online-Rhetorik als eine Bewegung, die auf die StraĂe ĂŒberzugreifen droht. Aber als das RCCC 2023 erneut Chines*innen zu sozialer Gerechtigkeit befragte (Opens in a new window), war sich ein GroĂteil jetzt sicher: Die Armut in China liegt an ungleichen Möglichkeiten und einem ungerechten Wirtschaftssystem.
Das heiĂt: Immer weniger Chines*innen glauben noch, dass sie alles schaffen können, wenn sie nur hart genug dafĂŒr arbeiten. Und immer mehr Chines*innen glauben, hinter Armut steckt strukturelle Ungerechtigkeit. FĂŒr sie ist das System schuld. Und das bereitet der Kommunistischen Partei ziemlich sicher schlaflose NĂ€chte. Denn in China bedeutet Systemkritik de facto Kritik an der Partei. Und die ist offensichtlich komplett planlos (Opens in a new window), wie man mit einer desillusionierten Jugend umgeht.Â
Xi Jinping fiel zum Frust junger Erwachsener bisher nichts Besseres ein als der vĂ€terliche Appell (Opens in a new window), den âanspruchsvollen Lebensstil und die selbstzufriedene Haltungâ aufzugeben. Gegen die Kluft zwischen Arm und Reich ist die Kommunistische Partei bisher höchstens kosmetisch vorgegangen: Zum Beispiel verbietet (Opens in a new window) sie das Protzen mit dem eigenen Reichtum und manipuliert (Opens in a new window) die Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit.
Ob aus âFlachliegenâ irgendwann mehr wird als nihilistische Online-Rhetorik und versprengte Hippie-Communities? Das ist gerade noch schwer zu sagen. Ziemlich sicher ist aber: Selbst wenn die Kommunistische Partei einen Plan zur Rettung der Wirtschaft ausgeheckt hat - sie ist verdammt schlecht darin, diesen an ihre Bevölkerung zu vermarkten.
Der entlassene Sicherheitsmitarbeiter der Tempelanlage ist ĂŒbrigens selbst eine kleine Attraktion geworden. Das Video ĂŒber seine Entlassung löste einen Shitstorm aus, der das lokale TourismusbĂŒro zwang, zurĂŒckzurudern. Man habe den Sicherheitsmitarbeiter lediglich âeinige Tage freigestelltâ, verkĂŒndete es, nicht gefeuert.
âMit Sicherheit đ
â kommentierten viele, âganz einfach nur ein MissverstĂ€ndnis.â
Hast du schon mal von âFlachliegenâ oder der âRolle inwĂ€rtsâ gehört?
Und glaubst du, die Kommunistische Partei schafft es, das Ruder in der Wirtschaft rumzureiĂen? Ich bin gespannt, was du denkst. FĂŒr Fragen oder Feedback kannst du einfach auf diese Mail antworten.