Die neue Architektur der Wahrheit
Die Geschichte der Zensur war stets eine Geschichte ihrer Verkleidungen. Vom kirchlichen Index über die politischen Verbote der Moderne bis hin zu den algorithmischen Filtern unserer Tage hat sie ihre Gestalt verwandelt, aber nie ihre Funktion: die Kontrolle dessen, was gesagt werden darf – und was nicht. Während in den USA Enthüllungen wie die Twitter-Files eine öffentliche Debatte über informelle Zensur durch staatlich-technologische Kollaborationen ausgelöst haben, bleibt ein äquivalenter Diskurs in Europa weitgehend aus. Und das aus gutem Grund: In der Europäischen Union wurde das, was in Amerika skandalisiert wird, normiert. Was dort geleakt wird, ist hier Gesetz.
Im Zentrum steht der Digital Services Act (DSA), der das Rückgrat eines formalisierten Netzwerks aus EU-Institutionen, Tech-Konzernen, NGOs und sogenannten „Trusted Flaggers“ bildet – ein Netzwerk, das zunehmend wie eine supranationale Wahrheitsarchitektur funktioniert. Es ist das, was der frühere US-Diplomat Mike Benz als den „Censorship Industrial Complex“ bezeichnet hat – ein industriell bürokratisiertes Wahrheitsregime, das durch seine Legalität jene Kritik immunisiert, die es in freien Gesellschaften eigentlich provozieren müsste.
Von der Informalisierung zur Institutionalisierung
Die politische Ökonomie der Zensur hat sich gewandelt. Was in den Vereinigten Staaten als Staatstrojaner der Wahrheit informell durch Regierungsstellen wie FBI oder DHS mit Plattformen wie Twitter und Facebook verhandelt wurde – etwa in den Enthüllungen der Twitter-Files –, wurde in Europa zu einer gesetzlich kodifizierten Infrastruktur. Der DSA ist in dieser Hinsicht kein Akt der Deregulierung, sondern der juristisch getarnten Re-Regulierung öffentlicher Diskurse.
Das Prinzip der „Trusted Flaggers“ – NGOs und Organisationen mit privilegiertem Meldezugang zu Plattformen – schafft ein Zwei-Klassen-System in der digitalen Öffentlichkeit: Während gewöhnliche Nutzer in langwierige Moderationsprozesse verwiesen werden, besitzen zertifizierte Wahrheitsagenturen einen Direktkanal zur Zensur. Dieser strukturelle Zugriff wurde nicht etwa als Notstand eingeführt, sondern als angebliche Sicherheitsmaßnahme zur „Schaffung vertrauensvoller Räume“ – eine Orwell’sche Umkehrung, bei der Kontrolle als Fürsorge erscheint.
Was in den USA durch Gerichtsverfahren wie Missouri v. Biden und journalistische Aufklärung ans Licht kam, wird in der EU durch Richtlinien und Ausschüsse verwaltet, gefördert und legitimiert. Diese Bürokratisierung der Zensur ist gerade deshalb so gefährlich, weil sie sich jeder moralischen Entrüstung entzieht: Sie ist nicht Skandal, sondern Verwaltung. Nicht Kontrollverlust, sondern Kontrollarchitektur.
Die Logik des Legalen: Warum Europa schweigt
Warum also gibt es in Europa keinen vergleichbaren Aufschrei wie in den USA? Die Antwort liegt weniger im politischen Bewusstsein als in der juristischen Konditionierung des europäischen Diskurses. Wo in den Vereinigten Staaten der Erste Verfassungszusatz jede staatliche Einflussnahme auf den öffentlichen Diskurs per se problematisiert, wurde in Europa eine Kultur der „verantwortungsvollen Kommunikation“ institutionalisiert – mit wachsender Akzeptanz für die Idee, dass Wahrheit ein verwaltbares Gut sei.
Die Verschmelzung von Regierung, Zivilgesellschaft und Plattformökonomie zu einer moraltechnokratischen Allianz hat eine Öffentlichkeit erzeugt, die immer weniger durch Debatte und immer mehr durch Prävention definiert ist. Dass die EU im Jahr 2025 laut Recherchen von Mike Benz über 735 Millionen Dollar in über 350 Zensurprojekte investierte – finanziert durch öffentliche Gelder und umgesetzt durch NGOs und Universitäten – zeigt nicht nur die institutionelle Dichte des Systems, sondern auch seinen ideologischen Selbstanspruch: Nicht der Markt der Meinungen entscheidet, sondern der Beirat der Expertokratie.
Die Sprache der Regulierung spricht nicht mehr von Verbot, sondern von „Sicherheit“, „Transparenz“ und „Vertrauenswürdigkeit“. Doch hinter diesen semantischen Nebelwänden verbirgt sich eine strategische Verlagerung demokratischer Aushandlung: Was nicht als legitim angesehen wird, verschwindet – algorithmisch, administrativ, leise. Europa hat die Scham durch Struktur ersetzt.
Die Rückkehr der Kontrollgesellschaft
Man sollte sich keine Illusionen machen: Der europäische CIC ist keine Reaktion auf technologische Herausforderungen, sondern eine Wiederkehr eines alten politischen Reflexes im digitalen Gewand. Die Vorstellung, dass Meinungsfreiheit in digitalen Räumen „neu gedacht“ werden müsse, ist dabei nichts anderes als eine rhetorische Tarnung für das Projekt, die Öffentlichkeit von einer Arena in einen Kurort umzuwandeln: hygienisch, bereinigt, mit Informationsmassage und diskursiven Sicherheitskräften.
Die Beispiele häufen sich: In Rumänien dürfen Behörden Social-Media-Posts ohne Gerichtsbeschluss löschen. In Brüssel wird der Disinformation Code durch „durchsetzbare Maßnahmen“ ergänzt, die Plattformen zur Vorzensur verpflichten. In Deutschland wird die Kooperation mit NGOs wie HateAid oder Correctiv zur „Verteidigung der Demokratie“ nicht mehr debattiert, sondern vorausgesetzt. Der Begriff der „Desinformation“ fungiert dabei wie ein intellektueller Generalschlüssel – ideologisch dehnbar, juristisch mobilisierbar, gesellschaftlich verinnerlicht.
Besonders perfide ist die Tatsache, dass viele dieser Maßnahmen durch akademische Legitimation gedeckt werden. Universitäten und Forschungsinstitute dienen nicht mehr als Orte unabhängiger Analyse, sondern werden – bewusst oder unbewusst – Teil eines Konsenses, der in seinen Grundannahmen nie demokratisch legitimiert wurde: Dass Desinformation ein objektiv identifizierbares Phänomen sei. Dass Plattformen neutrale Moderationsinstanzen sein könnten. Dass die Gesellschaft geschützt werden müsse – vor sich selbst.
Das technokratische Menschenbild
Im Zentrum des CIC steht eine technokratische Anthropologie: Der Mensch ist kein autonomes, urteilsfähiges Subjekt, sondern ein potenziell desinformiertes Risiko. In diesem Menschenbild – halb Kind, halb Gefahr – wird die Idee des mündigen Bürgers ersetzt durch den schutzbedürftigen Kommunikationskonsumenten. Diese Infantilisierung der Öffentlichkeit – gut gemeint, paternalistisch ausgeführt – ist das eigentliche Warnsignal der neuen Informationsordnung.
Die Frage ist nicht, ob es Zensur gibt, sondern wie tief sie in unsere kognitiven Infrastrukturen eingreift. Wer definiert, was gesehen, gesagt, geglaubt werden darf? Wer bestimmt, was „schädlich“ ist? Und wer überwacht die Überwacher? In einer Zeit, in der jede Plattform, jeder NGO-Bericht, jede „Faktenprüfung“ Teil eines großen regulatorischen Gesamtapparates ist, müssen diese Fragen nicht nur gestellt, sondern radikal neu beantwortet werden.
Europa am Vorabend der Epistemokratie
Der europäische Censorship Industrial Complex reduziert den Menschen auf ein zu schützendes Objekt diskursiver Hygiene. Wahrheit wird hier nicht mehr durch Argumentation erzeugt, sondern durch Klassifikation. Die Öffentlichkeit wird zur Zonenverwaltung, die Demokratie zur Wahrheitsverwaltung.
Europa steht am Scheideweg: Will es eine Gesellschaft der offenen Debatte bleiben – mit all ihren Risiken, Brüchen und Zumutungen? Oder transformiert es sich in eine diskursive Verwaltungsunion, in der Meinungsfreiheit zur formalen Hülse einer moralisch lizenzierten Rede wird?
Die Tatsache, dass 735 Millionen Dollar in Zensurprojekte fließen – und dass dies nicht in Tagesschau, ZEIT oder FAZ zum Aufmacher wird – ist kein Skandal. Es ist die neue Normalität. Und das ist der eigentliche Skandal.