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Die Unberührbare – Ursula von der Leyen, das Misstrauensvotum und das Ende europäischer Verantwortlichkeit

Es gibt politische Systeme, die aus ihren Krisen lernen – und es gibt die Europäische Union. Wo in früheren Demokratien Misstrauensvoten Symbol für institutionelle Hygiene waren, verkommt der Mechanismus im Brüsseler Machtkartell zur rituellen Farce. Im Zentrum: eine Frau, die mehr Skandale ausgesessen als gelöst hat. Ursula von der Leyen, die ewige Überlebende, steht wieder einmal zur Disposition – und wieder ist das System bereit, sie durchzuwinken. Dabei steht längst nicht mehr ihre Eignung zur Debatte, sondern die Frage, ob es in Europa überhaupt noch politische Konsequenzen gibt.

Die Immunität der Macht

Ursula von der Leyen ist eine politische Figur der europäischen Postdemokratie: uneindeutig legitimiert, institutionell unverwundbar, öffentlich distanziert. Dass gegen sie nun ein Misstrauensvotum im Europäischen Parlament läuft – initiiert vom rumänischen MEP Gheorghe Piperea – ist nicht nur ein spätes Aufbegehren, sondern ein Weckruf aus dem Wachkoma der Brüsseler Konsensmaschine. Es ist ein Misstrauensvotum, das weniger auf Erfolg als auf Aufklärung zielt – und doch notwendiger ist denn je.

Denn seit Jahren lebt von der Leyens Kommission von einer doppelten Immunität: institutionell gegen Widerspruch abgeschirmt, moralisch durch das Framing der „Krisenpolitik“ geweiht. Unter dem Mantel der Stabilität wurden Milliarden bewegt, demokratische Verfahren umgangen und parlamentarische Kontrolle in die symbolische Bedeutungslosigkeit verschoben. „Wir fahren mit 200 km/h gegen die Wand“, sagt Piperea. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die Wand ist längst durchbrochen – nur das System tut so, als sei nichts passiert.

Pfizergate – das Schweigen als Strategie

Der schwerwiegendste Vorwurf ist nicht die Tat, sondern das Verschwinden der Verantwortung. Seit 2021 verfolgt die Öffentlichkeit den Skandal um die geheim gehaltene SMS-Kommunikation zwischen von der Leyen und Pfizer-CEO Albert Bourla – ein Vorgang, der in jeder nationalen Demokratie mindestens zum Rücktritt führen müsste. Doch in Brüssel? Nicht einmal ein Auftritt im Untersuchungsausschuss. Keine SMS. Keine Protokolle. Keine Erinnerung. Eine demokratische Blackbox in Milliardenhöhe.

Dass der Europäische Rechnungshof die Verweigerungshaltung der Kommission in seinem Prüfbericht deutlich kritisierte, ist Teil eines Trends: Der Kontrollapparat funktioniert nur noch in Form symbolischer Fußnoten. Die politische Elite Europas hat gelernt, dass Konsequenz durch Krisennarrative ersetzt werden kann. Wer Impfstoffe bestellt, darf lügen, löschen, leugnen – solange er dabei auf der „richtigen Seite der Geschichte“ steht.

Der Recovery-Fonds – das Märchen von der Resilienz

Das zweite Beispiel für systematisches Politikversagen ist der Umgang mit dem sogenannten Recovery and Resilience Facility – einem 650 Milliarden Euro schweren Corona-Aufbaufonds, der unter maximalem Zeitdruck und minimaler Kontrolle durchgewunken wurde. Stand Juni 2025: Nur knapp die Hälfte der Mittel wurde ausgeschüttet. Die Frist läuft Ende 2026 ab. Von einem europäischen „Resilienzplan“ bleibt wenig – außer dem Verdacht, dass die EU zunehmend zur Verteilstation politisch geframter Haushaltskosmetik geworden ist.

Piperea spricht von „Missmanagement“. Das ist höflich. Die Realität ist schlimmer: Ein finanzpolitischer Pyrrhussieg, bei dem sich Brüssel selbst als strategischer Staat inszeniert, aber operativ auf Sicht fährt. Was fehlt, ist nicht Geld, sondern Transparenz, Kontrolle, Verantwortlichkeit.

Warum niemand gehen muss

Warum hält sich Ursula von der Leyen trotz dieser Skandale? Die Antwort ist so banal wie erschütternd: Weil es niemanden gibt, der sie ersetzen darf – nicht ohne das ganze Kartenhaus mit einzureißen. Ihr Mandat wurde nie durch eine breite demokratische Debatte legitimiert, sondern durch die Gnade der Großen Koalition der EU-Politik: Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale, mal ergänzt durch Grüne oder Konservative, je nach Wetterlage.

Diese Koalition der Zweckmäßigkeit sieht in einem Sturz von der Leyens nicht etwa die Chance zur Reform, sondern ein Risiko für den eigenen Einfluss. Die Stabilität der Institution wird höher bewertet als deren Glaubwürdigkeit. Und so geschieht, was in postdemokratischen Strukturen immer geschieht: Das System schützt sich selbst – durch Symbolpolitik, durch Verschleppung, durch moralisches Pathos.

Der Sommer der Abrechnung?

Piperea spricht von einem „heißen Sommer“. Doch heiß wird es nur für jene, die noch an politische Verantwortung glauben. Denn selbst wenn das Misstrauensvotum scheitert – und das wird es aller Wahrscheinlichkeit nach –, bleibt die zentrale Frage im Raum: Wer kontrolliert eigentlich noch die Exekutive Europas?

Die EU hat sich mit von der Leyen eine Führungsfigur geschaffen, die sinnbildlich für den Wandel von der Demokratie zur Governance steht: keine Öffentlichkeit, keine Rechenschaft, keine Reue. Nur Management. Nur Kommunikation. Nur Macht.

Das eigentliche Drama liegt also nicht in ihrer Person, sondern in der Systemarchitektur, die solche Karrieren nicht nur ermöglicht, sondern belohnt. Wer treu zur Linie bleibt, wer moralisch aufgeladen kommuniziert, wer seine Skandale in humanitäre Erzählungen verpackt – der bleibt. Der wird sogar wiedergewählt.

Plädoyer für einen Bruch

Was also tun? Der Skandal um Ursula von der Leyen ist kein Einzelfall, sondern Symptom. Es braucht mehr als ein Misstrauensvotum. Es braucht einen politischen Mentalitätswechsel: hin zu echter parlamentarischer Kontrolle, zu personalisierter Verantwortung, zu institutioneller Demut. Und ja – zu Rücktritten, wenn sie nötig sind.

Die Demokratie lebt vom Skandal, aber sie stirbt am folgenlosen Skandal. Ein System, in dem niemand mehr Konsequenzen für politisches Versagen tragen muss, ist kein demokratisches System mehr. Es ist ein Selbstbedienungsladen der Immunisierten.

Die EU steht am Scheideweg: Will sie eine demokratische Gemeinschaft bleiben, muss sie den Mut zur Selbstreinigung finden. Und der beginnt – mit der Frage, ob Ursula von der Leyen noch tragbar ist.

Die Antwort ist längst gefallen. Nur die Institution schweigt.

Topic Gesellschaft

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