Der Wels, das Netz und die Rückkehr der Menschlichkeit im Algorithmus

Der Fisch war zwei Meter lang, wog 90 Kilo und hieß – wie alle Archetypen – einfach nur „der Wels“. Dass er Ende Juni 2025 von der bayerischen Polizei erschossen wurde, weil er beim Burning Beach Festival inmitten technoider Ekstase ein paar Badegäste biss, ist tragisch. Dass er wenige Stunden später auf X (ehemals Twitter) zur Legende wurde, ist – bei aller Skurrilität – aufschlussreich. Denn der „Wels von Brombachsee“ wurde nicht nur Meme, er wurde Metapher. Und damit das, was das Internet in seinen besten Momenten immer war: ein Raum kollektiver Bedeutungsproduktion – zwischen Absurdität, Anarchie und affektiver Aufladung.
Es war kein politischer Skandal, keine internationale Krise, kein Krieg, der die Timelines dominierte. Es war ein Fisch.
Kein Feed ohne Fisch
Innerhalb weniger Stunden war „der Wels“ omnipräsent. Keine Timeline ohne satirische Zeichnungen, Gedenkposts, Deep-Fake-Bilder oder ironisch überhöhte Nachrufe. Man erklärte ihn zur Märtyrerfigur, zum Tier-Äquivalent von Che Guevara, zur Wasserbombe gegen die vermeintliche Polizeigewalt. Nutzer beschrieben ihn als letzten Verteidiger seines angestammten Biotops, als tragisch gefallenen Familienvater, als Opfer der menschlichen Invasion.
Die Meme-Ökonomie schlug Wellen: Ein Nutzer schrieb sarkastisch, „die tun so als wäre das ein bewaffneter serienmörder, bro es war NICHT nötig den zu erschießen?????“ – ein Tweet, der Hunderttausende erreichte, weil er alles enthielt, was das digitale Bewusstsein unserer Gegenwart bewegt: absurde Realität, moralische Empörung, sprachliche Verdichtung, kollektiven Humor.
In diesem Wels, so grotesk das klingt, spiegelte sich eine kollektive Sehnsucht: nach etwas anderem. Nach einem Thema, das niemandem wehtut – und doch alles sagt.
Das Internet als Ursuppe der Bedeutung
Der Fall des Welses steht emblematisch für die anthropologische Tiefenstruktur digitaler Kommunikation. Er zeigt, worum es im Internet ursprünglich ging: die Umcodierung der Realität durch Partizipation. Was in Zeitungen noch als Tierzwischenfall verhandelt wird, verwandelt sich im Netz in ein polymorphes Sinnsystem: Der Wels wird Symbol, Vehikel, Projektionsfläche.
Was bedeutet das? In einer digitalen Öffentlichkeit, die zunehmend durch kontrollierte Diskurse, orchestrierte Empörungsroutinen und moralisch abgesicherte Sprachregelungen geprägt ist, wirkt der Wels wie ein Reset-Knopf. Er befreit das Netz – für einen kurzen Moment – von Ernst, Pathos, Polarisierung. Der Wels erinnert daran, dass der Homo digitalis auch ein Homo ludens ist: ein spielendes, lachendes, ironisches Wesen.
Inmitten von Gaza, Trump, DSA, China, Ukraine, Klima, NATO und digitaler Überwachung wirkt dieser kollektive Fokus auf ein Tier wie ein befreiender Reflex. Der Wels unterbricht den Strom der Apokalypsen.

Zwischen Algorithmus und Anarchie: Warum der Wels wichtig ist
Was viele übersehen: Der virale Wels ist nicht nur ein Twitter/X-Gag – er ist auch ein Indikator. Er zeigt, dass algorithmische Kommunikation, so sehr sie unsere Wahrnehmung formt, nicht alles kontrollieren kann. Denn der Wels war kein „Trend“, kein Paid Content, keine politische Agenda. Er war ein Zufall. Und genau das macht ihn gefährlich für jede Form von digitaler Steuerung.
Der Wels hat sich nicht optimiert. Er wurde nicht „designed for engagement“. Er war einfach da. Und das Netz – dieser riesige postmoderne Resonanzraum – hat ihn angenommen, umgedeutet, mythologisiert.
In dieser Aneignung liegt eine Form von Freiheit: eine algorithmusresistente Restenergie, die beweist, dass Community noch existiert – nicht als Marketing-Claim, sondern als lebendige Praxis.
Der Wels als semiotisches Wunder: Meta-Meme, Medienkritik, Menschenbild
Dass der Wels zur Projektionsfläche politischer Satire wird – etwa durch Tweets wie „Erst den Wels erschossen, dann eine Tür totgeprügelt – was kommt als nächstes, Polizei Bayern?“ – zeigt die tiefe Ironisierung des öffentlichen Diskurses. Der Wels wird zur Kritikfigur, zur Chiffre für staatliche Überreaktion, zur Allegorie des übergriffigen Sicherheitsstaates.
Zugleich ist der Wels eine Art Kulturkritik an uns selbst. An unserer Neigung, aus jedem Vorfall ein Narrativ zu formen. An der Geschwindigkeit, mit der sich Empörung, Solidarität und Sarkasmus überlagern. Und an der Frage, wie wir mit dem Nicht-Menschlichen umgehen – ob Fisch, Vogel, Algorithmus oder Baum.
Denn das Erschießen eines Tieres, das möglicherweise nur seine Brut verteidigt, wird hier zum Trigger: für Tierethik, Naturromantik, Staatskritik, postironische Medienpraxis.

Der Wels lebt – im Netz
Der Wels ist tot. Aber auf X lebt er weiter – als Meme, als Symbol, als digitale Volkssage. Und das ist keine Bagatelle. Es ist ein Kulturphänomen, das uns mehr sagt als so manche Leitartikel.
Denn es zeigt: Das Internet ist noch nicht tot. Noch nicht vollständig katalogisiert, reglementiert, ausgehöhlt.
Es lebt – wenn auch nur für Momente – durch Ereignisse wie diese: sinnlos, emotional, kollektiv.
Der Wels erinnert uns daran, dass echte Öffentlichkeit nicht durch Richtlinien entsteht, sondern durch Resonanz.
Und manchmal braucht es dafür eben keine Petition, keinen Skandal, keinen Journalisten – sondern nur einen überforderten Fisch.