Skip to main content

🚹 ADHS bleibt unsichtbar – bis es im Klinikalltag explodiert

ADHS ist kein Randthema. Keine „Mode-Diagnose“. Keine Kinderkrankheit, die man „verwĂ€chst“.


Eine neue Meta-Analyse (Johnson et al., 2025, Molecular Psychiatry) zeigt: In psychiatrischen Kliniken ist ADHS allgegenwĂ€rtig – aber gleichzeitig wird es stĂ€ndig ĂŒbersehen, falsch erfasst oder in den Akten nicht dokumentiert.

Die Autor:innen haben 311 Studien ausgewertet, mit insgesamt 653.558 Kindern und 43.311 Erwachsenen. Das Ergebnis ist ein Weckruf:

  • Kinder: 32,4 % in klinischen Settings haben ADHS.

  • Erwachsene: 21,4 % in klinischen Settings haben ADHS.

  • Vergleich: In der Allgemeinbevölkerung liegt die PrĂ€valenz nur bei 2–4 %.

Das heißt: In Kliniken ist ADHS 8- bis 9-mal hĂ€ufiger.

Und doch wird es zu selten erkannt. Die Frage ist: Warum?

🔍 Wie wurde ADHS in der Studie ĂŒberhaupt erfasst?

Die Antwort darauf ist entscheidend, weil sie zeigt, wo die Versorgung scheitert – und wie wir es besser machen könnten.

1. Screening mit Fragebögen

In vielen Studien wurde ADHS zuerst mit Rating-Skalen erhoben – standardisierte Fragebögen wie SNAP-IV, Conners-Skalen oder WURS (bei Erwachsenen).

  • Sie wurden von Patient:innen selbst, von Eltern oder LehrkrĂ€ften ausgefĂŒllt.

  • Sie sind schnell, praktisch, leicht auszuwerten.

Das Problem: Fragebögen messen Symptome, aber nicht den Kontext.

  • Ein Kind, das im Klinikalltag auffĂ€llig hibbelig wirkt, fĂ€llt sofort durch.

  • Ein MĂ€dchen, das still trĂ€umt, wird oft ĂŒbersehen.

  • Ob die Symptome schon seit der Kindheit bestehen, verschiedene Lebensbereiche betreffen und tatsĂ€chlich funktionelle EinschrĂ€nkungen verursachen – das bleibt offen.

👉 Ergebnis: höchste PrĂ€valenzzahlen in der Studie – 40 % bei Kindern, 26 % bei Erwachsenen.
👉 Fazit: Gut fĂŒr ein erstes Screening, gefĂ€hrlich, wenn man dabei stehenbleibt.

2. Strukturierte Interviews – der Goldstandard

Wesentlich aussagekrÀftiger sind strukturierte diagnostische Interviews. Beispiele:

  • DIVA-5 (fĂŒr Erwachsene)

  • K-SADS (fĂŒr Kinder und Jugendliche)

Diese Interviews sind aufwendig und erfordern geschulte Fachpersonen, aber sie leisten genau das, was Fragebögen nicht können:

  • Beginn im Kindesalter prĂŒfen (vor dem 12. Lebensjahr).

  • Dauer und StabilitĂ€t der Symptome erfassen.

  • FunktionsbeeintrĂ€chtigungen sichtbar machen (Schule, Beruf, Beziehungen, Alltag).

  • KomorbiditĂ€ten abgrenzen (Depression, Angst, Trauma).

  • Und wenn unklar: auch eine therapeutische Probe mit Medikation als diagnostisches Werkzeug nutzen.

👉 Ergebnis: realistischere PrĂ€valenz – 35 % bei Kindern, 19 % bei Erwachsenen.
👉 Fazit: Die wahrscheinlichsten „wahren“ Zahlen.

3. Diagnosen in Patientenakten

Eine weitere Datenquelle war die Auswertung von Akten. Klingt solide, ist es aber nicht.
Denn: ADHS wird in vielen Akten gar nicht dokumentiert. Die Aufmerksamkeit liegt oft auf den „akuten“ Diagnosen – Depression, Angst, Psychose, Sucht.

👉 Ergebnis: niedrigste PrĂ€valenz – 26 % bei Kindern, 16 % bei Erwachsenen.
👉 Fazit: Unsere eigene Dokumentation blendet ADHS systematisch aus.

⚖ Was bedeutet das fĂŒr die RealitĂ€t in Kliniken?

Die Studie zeigt ein klares Muster, das wir direkt in unseren Alltag ĂŒbertragen können:

Ambulant vs. StationÀr

  • Kinder ambulant: 37 %

  • Kinder stationĂ€r: 20 %
    Warum? Ambulant kommen die Kinder mitten aus dem chaotischen Alltag – da sind die Symptome „lauter“. Stationen strukturieren kurzfristig – dadurch wirkt ADHS wie gedĂ€mpft, verschwindet aber nicht.

👉 Wir dĂŒrfen uns nicht von einem ruhigeren Stationsbild tĂ€uschen lassen.

Geschlechterunterschiede

  • Kinder: Jungen 38 %, MĂ€dchen 18 %.

  • Erwachsene: MĂ€nner 25 %, Frauen 21 %.

👉 Viele MĂ€dchen werden als Kinder ĂŒbersehen und erst im Erwachsenenalter wiederentdeckt.

KomorbiditÀten

Die Studie zeigt enorme Überschneidungen:

  • Autismus-Spektrum: fast die HĂ€lfte hat zusĂ€tzlich ADHS.

  • Internet-/Gaming-Sucht: zwei Drittel.

  • Persönlichkeitsstörungen (Erwachsene): knapp 40 %.

  • Essstörungen: Erwachsene ~24 %, Kinder dagegen kaum.

👉 ADHS fĂ€hrt oft im Hintergrund mit – und beeinflusst jede andere Diagnose.

đŸ„ Transfer in unsere KlinikrealitĂ€t

Wenn wir das ernst nehmen, mĂŒssen wir unser Vorgehen Ă€ndern:

  1. Screening systematisch, aber mit Vorsicht
    Fragebögen sind gut, um einen ersten Verdacht zu bekommen – aber sie dĂŒrfen nie das letzte Wort sein.

  2. Diagnostische Interviews als Standard
    Nur Interviews können sicherstellen, dass ADHS sauber diagnostiziert wird. Das heißt: Wir brauchen feste Prozesse, wann sie eingesetzt werden – und wir mĂŒssen unsere Teams schulen.

  3. Geschlechtersensible Diagnostik
    MĂ€dchen und Frauen mĂŒssen bewusster in den Blick genommen werden. Die scheinbar „stillen“ VerlĂ€ufe sind genauso relevant wie die lauten.

  4. KomorbiditÀten ernst nehmen
    Bei jeder Depression, Angst, Sucht oder Persönlichkeitsstörung sollten wir fragen: Steckt hier auch ADHS dahinter?

  5. Dokumentation verbessern
    Wenn ADHS nicht konsequent in Akten erscheint, unterschĂ€tzen wir unseren eigenen Versorgungsbedarf – und bekommen nie die Ressourcen, die wir brĂ€uchten.

⚡ Warum das so dringend ist

Unbehandeltes ADHS ist kein „Luxusproblem“. Es erhöht das Risiko fĂŒr Suizidversuche um das 3- bis 5-fache. Gleichzeitig zeigen Studien, dass eine medikamentöse Behandlung das Risiko deutlich senken kann.

👉 Das macht ADHS zu einer SchlĂŒssel-Diagnose fĂŒr die gesamte psychiatrische Versorgung.

💬 Dein Impuls

Mich interessiert:
👉 Wurdest du selbst jahrelang mit Depression, Angst oder Burnout behandelt, bevor jemand ADHS geprĂŒft hat?
👉 Oder arbeitest du in einer Klinik, in der ADHS noch immer kaum im Aufnahmeprozess vorkommt?

Schreib deine Erfahrung in die Kommentare. Nur wenn wir diese Stimmen hörbar machen, verÀndert sich die Versorgung.

LG Martin
đŸ§ đŸ’ĄđŸŒˆđŸ‘„đŸ—ŁïžâœšđŸ”—đŸŽšđŸ’ŹđŸš€
👉 Meine Community fĂŒr ADHS & Neurodivergenz (Opens in a new window)

Als VorkĂ€mpfer bzw. UnterstĂŒtzer meiner AufklĂ€rungsarbeit kannst du dann auch Teil unserer tollen Skool-Communities mit Online-Meetings, Webinaren, Online-BĂŒchern und dem tĂ€glichen Buddy-Coaching um 10 und 16 Uhr werden. Spring rein und mach mit

1 comment

Would you like to see the comments?
Become a member of ADHS Blog und Community ADHSSpektrum to join the discussion.
Become a member