Skip to main content

ADHS-Medikation und Schizophrenie

Frühkinderliche Entwicklungsstörungen, ADHS und Schizophrenie – Zeit für ein neues psychiatrisches Paradigma

Warum die klare Trennung zwischen ADHS, Autismus und Psychose nicht mehr haltbar ist – und was das für Diagnostik, Therapie und Haltung bedeutet.

Hinweis in eigener Sache

Noch bevor die oben genannte Studie veröffentlicht wurde, habe ich ein Workbook zur Frage „ADHS und Psychose – wie passt das zusammen?“ geschrieben (nur elektronische Version für Smartphone / Computer)

https://gamma.app/docs/Copy-of-Workbook-ADHS-und-Psychose-pzq5cmpq9v601d7 (Opens in a new window)



Es war das Ergebnis meiner klinischer Beobachtungen und Rückmeldungen aus meiner Community. Dieses Workbook stellt die Hypothese auf, dass viele Menschen mit Psychoseerfahrungen auch neurodivergente Entwicklungsmuster (wie ADHS oder Autismus) aufweisen – und dass gerade diese unerkannten Anteile oft eine Schlüsselrolle im Verlauf spielen.

Ich freue mich, dass die aktuelle Studie diesen Verdacht nun auch wissenschaftlich bestätigt. Deshalb stelle ich dieses Workbook jetzt meiner ADHSSpektrum-Community zur Verfügung – als Diskussionsgrundlage, Reflexionshilfe und praktische Orientierung. Wer dafür einen Obolus entrichten mag und kann, der könnte mich über die Mitgliedschaft bei Steady unterstützen bzw. “Vorkämpfer” und damit auch Mitglied in meiner Skool-Community zu ADHS werden.

Podcast-Version (Notebook-LM) zum Thema ADHS und Psychose



"Ich dachte, das war früher nur mein Chaos" – Fallbeispiel

Jonas, 28, lebt mit einer Diagnose einer schizoaffektiven Störung. In einem stabilen Abschnitt seiner Behandlung beginnt er, von frühkindlichen Aufmerksamkeitsproblemen, extremer Reizempfindlichkeit und innerer Getriebenheit zu berichten. Er sei schon in der Schule „schnell abgedriftet“, habe sich oft unverstanden gefühlt und sei von den ständigen Umgebungsreizen schnell überfordert gewesen. Lange habe er angenommen, das gehöre zu seiner „Persönlichkeit“ oder sei ein Vorzeichen seiner Psychose gewesen. Jetzt vermutet er: „Vielleicht hatte ich schon immer ADHS – oder etwas in Richtung Autismus?“

Diese Überlegung wäre vor wenigen Jahren in vielen psychiatrischen Settings reflexartig abgeblockt worden: „Sie haben eine Psychose, kein ADHS!“ Doch neue Studien fordern ein radikales Umdenken.

Jonas ist kein Einzelfall. In unserer Praxis sehen wir immer wieder Menschen mit Psychose-Diagnosen, die nach Jahren stabiler Behandlung beginnen, ihre Lebensgeschichte neu zu betrachten. Wenn diese Menschen den Mut aufbringen, neurodivergente Aspekte anzusprechen, verdienen sie ein offenes Ohr – und keine automatische Abwehr.

Was sagt die Forschung?

Eine große Registerstudie aus Schweden (Luykx et al., 2025) mit über 131.000 Betroffenen aus dem Schizophrenie-Spektrum zeigt: ADHS ist keine seltene Begleitdiagnose bei Psychose, sondern kommt deutlich häufiger vor als gedacht. Viele der untersuchten Menschen hatten bereits vor ihrer ersten Psychose Symptome einer Aufmerksamkeits- und Selbstregulationsstörung. Der Begriff „neurodivergente Entwicklung“ trifft es besser als jede dichotome Trennung in „psychiatrisch“ versus „neurologisch“.

Diese Erkenntnis ist brisant. Denn sie zeigt: Viele Menschen mit Psychose hatten nie die Chance, ihre Entwicklung im Licht von ADHS oder Autismus zu reflektieren. Stattdessen wurden sie früh auf Symptome reduziert: Stimmen, Wahn, Rückzug – ohne zu fragen, ob darunter nicht ein jahrzehntelanger Kampf mit Reizverarbeitung, exekutiver Dysfunktion, sozialem Missverstehen oder chronischer Überforderung lag.

Die Studie untersucht außerdem die Auswirkungen von ADHS-Medikamenten bei Menschen mit SSD-Diagnosen. Besonders Lisdexamphetamin (Elvanse) war mit einer Reduktion der Hospitalisierungen und der Gesamtsterblichkeit verbunden. Psychosen wurden durch die Medikation nicht häufiger, im Gegenteil: Menschen mit begleitender ADHS-Symptomatik profitierten.

Methylphenidat zeigte in sehr hohen Dosen (> 95 mg/Tag) ein leicht erhöhtes Risiko – jedoch nur ohne begleitende antipsychotische Behandlung. Auch hier gilt: Nicht das Medikament ist das Problem, sondern seine Einbettung in ein unausgewogenes Behandlungssetting.

Was bedeutet das in der Praxis?

1. ADHS und Autismus nicht vorschnell ausschließen

Wenn ein Patient wie Jonas in einer stabilen Phase von ADHS-typischen Schwierigkeiten spricht – also z. B. von innerer Unruhe, Problemen mit Organisation, Impulsivität, sensorischer Überforderung oder sozialer „Verschiebung“ – sollte dies ernst genommen werden. Auch bei vorbestehender Psychose-Diagnose.

Viele Menschen erleben, dass sie in Krisenzeiten nicht gehört wurden. Sie wurden auf Symptome reduziert, nicht als ganze Person gesehen. Es ist unsere Aufgabe, gerade in stabilen Phasen neue Perspektiven zu eröffnen.

2. Anamnese erweitern, nicht einengen

Psychiatrie fokussiert oft auf das Jetzt: Stimmen ja/nein? Wahn ja/nein? Doch neurodivergente Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess. Wenn wir verstehen wollen, was Menschen überfordert, destabilisiert oder in Isolation treibt, müssen wir tiefer graben:

  • Wie war die frühe Kindheit?

  • Welche Rolle spielten Reize, soziale Erwartungen, Veränderungen?

  • Gab es Rückzüge, Fixierungen, übermäßige Fantasiewelten?

  • Welche Erklärungen gaben Umfeld und Schule?

Typische Aussagen, die hellhörig machen sollten:

  • „Ich war immer zu viel oder zu wenig.“

  • „Ich konnte nie abschalten.“

  • „Ich dachte in Bildern, aber keiner verstand mich.“

  • „Ich wusste nie, wie andere funktionieren.“

3. Keine Angst vor Medikation bei richtiger Indikation

Ein häufiger Einwand: „Wir können doch keinen Stimulanzien geben, das triggert doch die Psychose!“ Die Datenlage zeigt: Wenn antipsychotische Stabilität gegeben ist, ist gerade Lisdexamphetamin sicher und oft hilfreich. Es verbessert Energie, Antrieb, Tagesstruktur und kognitive Kontrolle – alles Faktoren, die Rückfälle verhindern können.

Wichtig ist:

  • Langsame Titration

  • Enge Verlaufskontrolle

  • Gemeinsame Entscheidungsfindung

Auch nicht-stimulierende Optionen wie Atomoxetin oder Guanfacin können eine Rolle spielen – je nach individueller Vorgeschichte.

4. ADHS-Diagnostik auch nach Psychose sinnvoll

Gerade wenn der psychotische Zustand abgeklungen ist, entsteht Raum für differenzierte Diagnostik. Eine ausführliche Biografie, ergänzt durch strukturierte Interviews (z. B. DIVA 2.0, ASRS), kann helfen, stabile Merkmale zu identifizieren.

Ziel ist nicht, Diagnosen zu stapeln. Ziel ist, das Selbstverständnis der Patient:innen zu erweitern und passende Hilfen bereitzustellen.

Handlungsempfehlung für psychiatrische Behandler:innen

Wenn ein Patient außerhalb einer akuten Psychose-Episode Hinweise auf ADHS oder Autismus anspricht:

  1. Zuhören. Offen und interessiert, ohne Abwehr. Das ist der erste Vertrauensmoment.

  2. Anerkennen. Auch wenn bisher keine Diagnose gestellt wurde – der Erfahrungswert der Patient:innen zählt.

  3. Sorgfältig differenzieren. Welche Symptome bestehen schon seit Kindheit? Welche traten erst mit der Psychose auf?

  4. Strukturierte Diagnostik anbieten. Auch in psychiatrischen Ambulanzen sollte dies möglich sein – oder in Kooperation mit spezialisierten Kolleg:innen.

  5. Psychoedukation anbieten. Viele Patient:innen kennen ADHS oder Autismus nur als Klischee. Erklären wir neurodivergente Reizverarbeitung und Selbststeuerung.

  6. Therapie individualisieren. Was braucht der Mensch vor mir? Struktur, Klarheit, Tagespläne? Reizabschirmung? Training exekutiver Funktionen?

  7. Medikation neu denken. Nicht reflexhaft verweigern, sondern individuell abwägen. Sicherheit vor Wirksamkeit – aber Wirksamkeit nicht ausschließen.

  8. Langfristig begleiten. Neurodivergenz ist kein kurzfristiges Projekt. Es braucht Raum, Reflexion, Nachjustierung.

Fazit: Wir brauchen eine andere Sprache, andere Haltung, andere Werkzeuge

Psychose, ADHS und Autismus sind keine konkurrierenden Diagnosen. Sie sind oft Ausdruck derselben tiefgreifenden Herausforderungen in Reizverarbeitung, Identitätsentwicklung und Selbststeuerung. Wer das versteht, behandelt nicht mehr Symptome, sondern begleitet ganze Lebenswege.

Das bedeutet:

  • Mehr transdiagnostisches Denken

  • Mehr Entwicklungsverständnis

  • Mehr Mut zur Komplexität

  • Weniger Angst vor Fehlern

Die Betroffenen danken es uns mit Vertrauen, Selbstwirksamkeit – und oft mit überraschend stabiler Besserung.

Mehr zur Studie:
Luykx et al. (2025): Long-term safety of ADHD medication in patients with schizophrenia spectrum disorders.
https://doi.org/10.1038/s41380-025-03080-3 (Opens in a new window)

Fragen, Kommentare oder Bedarf an Fortbildung zu diesem Thema?
Dann schreib mir – ich biete Vorträge, Supervisionen und Workshops zu Neurodivergenz in der Erwachsenenpsychiatrie an.

0 comments

Would you like to be the first to write a comment?
Become a member of ADHS Blog und Community ADHSSpektrum and start the conversation.
Become a member