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Gegen das Vergessen

PortrÀt einer kÀmpfenden Mutter

Der Rechtsterrorist von Hanau erschoss vor zweieinhalb Jahren ihren Sohn Ferhat. Serpil Temiz Unvar nutzt die Kraft ihres Schmerzes, um sich gegen Rassismus einzusetzen und gegen das Vergessen anzukÀmpfen.

Von Anne Klesse, Hamburg

In Serpil Temiz Unvars Twitter-Profil (Opens in a new window) gibt es einen angehefteten Tweet vom November 2021, den alle Profilbesucher*innen zuerst angezeigt bekommen. Darin heißt es: „Mein Sohn, heute wĂ€rst du 25 Jahre alt geworden. Du hast geschrieben ,Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.‘ Ich schwöre dir, ich werde das niemals zulassen.“ Ihr Sohn Ferhat Unvar wurde bei dem rassistischen Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 getötet. Serpil Temiz Unvar kĂ€mpft seither jeden Tag dafĂŒr, dass er und die anderen Opfer nicht vergessen werden.

Der TĂ€ter war damals durch die hessische 100.000 Seelen-Stadt Hanau gezogen und hatte neun Menschen erschossen, anschließend tötete er seine eigene Mutter und sich selbst. War Hanau vorher bekannt fĂŒr die GebrĂŒder Grimm, die „Deutsche MĂ€rchenstraße“, die sich bis nach Bremen zieht, oder fĂŒr das jĂ€hrliche Apfelweinfest im Schlosshof, ist der Name nun fĂŒr immer verbunden mit dem rechtsextremen Terror: Der TĂ€ter hinterließ Pamphlete mit Verschwörungsmythen und rassistischen Äußerungen.

Der parlamentarische Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags dazu tagt weiterhin, er soll vor allem die sicherheitspolitische Dimension aufklĂ€ren. Im Juli 2021 kamen Angehörige der Ermordeten vor den Ausschussabgeordneten zu Wort. FĂŒr Temiz Unvar sind es bis heute die vielen ungeklĂ€rten Fragen, die sie nicht schlafen lassen: Warum blieben Notrufe in jener Nacht unbeantwortet? Warum kam die Polizei erst so spĂ€t zum Tatort? Warum hat niemand ihrem sterbenden Kind geholfen, ihr nicht Bescheid gesagt?

„Er hat anderen Kraft gegeben“

Ferhat Unvar war an dem Abend erst im Jugendzentrum gewesen und dann zu seinem Stammkiosk gegangen. Der TÀter feuerte in den Kiosk, Ferhat Unvar wurde von einer Kugel getroffen, schleppte sich offenbar noch hinter den Tresen und starb dort Stunden spÀter an seiner Verletzung. Er war 23 Jahre alt.

FĂŒr Eltern, die ihre Kinder ĂŒberleben, gibt es wohl keinen Trost. Temiz Unvar hilft es immerhin, von ihrem Sohn zu erzĂ€hlen. „Ferhat war ein tiefgrĂŒndiger Mensch“, sagt sie. Er habe viel gelesen, schon als ZwölfjĂ€hriger Dostojewskis „Schuld und SĂŒhne“. „Er fragte viel, er hat immer viel gedacht. Er wusste, dass er mehr tun muss, in der Schule besser sein muss als die deutschen Kinder, um eine Chance zu haben.“

Ferhat sei hilfsbereit gewesen, nach seinem Tod habe sie Besuch bekommen von vielen Jugendlichen aus Hanau. „Sie erzĂ€hlten mir, dass sie wegen Ferhat weiter zur Schule gegangen seien“, erzĂ€hlt Temiz Unvar. Er habe anderen Kraft gegeben. Und das gibt auch ihr Kraft. „Wenn er das konnte, möchte ich das fĂŒr ihn weiter tun“, sagt sie. An seinem Geburtstag grĂŒndete sie die Bildungsinitiative „Ferhat Unvar (Opens in a new window)“, die sich um Jugendliche kĂŒmmert und gegen Rassismus engagiert. Ganz egal, wo sie sei, auf Treffen mit Politiker*innen, im Jugendzentrum oder bei Kulturveranstaltungen – sie erzĂ€hle von Ferhat und klĂ€re ĂŒber Rassismus auf. „Wir berichten aus der Betroffenenperspektive, dieser Blick fehlte bislang.“

Weiterleben mit dem Schmerz

Serpil Temiz Unvar ist Mitte 40. Sie hat sieben Ă€ltere Geschwister, ihr genaues Geburtsdatum kennt sie nicht, da sie zu Hause entbunden wurde und in ihrer kurdischen Heimatstadt im SĂŒden der TĂŒrkei die Daten nicht offiziell vermerkt wurden. Viele Einwanderer*innen aus solchen Regionen geben als Geburtsdatum oft einfach den 1. Januar an. Temiz Unvar ging erst mit ihrem Vater nach Paris, 1995 wurde sie dann in Deutschland verheiratet. Sie ließ als Geburtsdatum den 6. Juni eintragen. Sie bekam vier Kinder. Nach der Trennung von ihrem Mann zog sie die Kinder allein auf.

In der Nacht des Anschlags fuhr sie zum Tatort, zeigte Ferhats Foto, fragte, ob ihn jemand gesehen habe. „Es hieß: Nein, so einer liegt dort nicht“, erinnert sie sich. Freundinnen und sie telefonierten alle KrankenhĂ€user ab, weil sie Ferhat nicht erreichen konnte. Am nĂ€chsten Morgen kam jemand zu den in einer Turnhalle wartenden Angehörigen. „Er rief die Namen der Getöteten auf. Der letzte Name war Ferhat.“

Sie habe sofort zu ihm gewollt, dachte immer noch, er sei im Krankenhaus. „Aber er lag nach mehr als 20 Stunden noch immer im Kiosk!“ Das Bild von ihrem Kind dort auf dem kalten Boden, nur wenige Hundert Meter entfernt von ihr, das gehe ihr nicht aus dem Kopf. Temiz Unvar erinnert sich an den Moment: „Ich dachte, ich muss sterben, ich wollte mich selber töten“, sagt sie. „Wie sollte ich mit diesem Schmerz weiterleben?“

Sie hat sich entschieden, es zu versuchen. FĂŒr Ferhats Geschwister. FĂŒr Ferhat: „Er sagte immer, ‚Mama, das Leben ist nicht einfach, aber wir mĂŒssen weitermachen!’. Also mache ich seinen Kampf weiter.“ Temiz Unvar ist jetzt eines der Gesichter der Hinterbliebenen, eine ihrer Stimmen.

Zusammen ist man stÀrker

Die Eltern haben sich zusammengetan, sie haben RĂ€ume angemietet und einen Verein gegrĂŒndet. Sie erklĂ€ren: „Unsere Kraft schöpfen wir aus unserer Gemeinschaft.“ Zum Jahrestag kam Hanaus OberbĂŒrgermeister Claus Kaminsky (SPD) zu Besuch. 2021 erhielten Temiz Unvars Bildungsinitiative und ein zweites Angehörigen-Projekt – die Initiative „19. Februar Hanau (Opens in a new window)“ – den Aachener Friedenspreis.

Der neuen Bundesregierung schrieb sie Anfang 2022 einen offenen Brief. Im Namen aller Hinterbliebenen forderte sie Konsequenzen: strengere Waffenkontrollen, stĂ€rkeres Engagement gegen Rechtsextremismus. Immer, wenn jemand fragt, sagt sie: „Unsere Kinder dĂŒrfen nicht umsonst gestorben sein. Ihr Tod muss der Anfang sein von etwas Neuem.“ Die Angehörigen fordern die lĂŒckenlose AufklĂ€rung der Tat. „Wir alle mĂŒssen zusammen daran arbeiten, dass so etwas nicht wieder passiert“, sagt Temiz Unvar. Was sie erlebt haben, sei ein gesamtgesellschaftliches Problem. Der TĂ€ter hatte Vorbilder und sich von rechten Strömungen, auch im Internet, ermutigt gefĂŒhlt.

Die Zahlen geben ihr Recht. Laut Verfassungsschutzbericht fĂŒr 2021, den Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der PrĂ€sident des Bundesamts fĂŒr Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, im Juni dieses Jahres vorstellten, geht die grĂ¶ĂŸte extremistische Bedrohung in Deutschland von Rechtsextremist*innen aus.

Mehr als 20.000 Straftaten in dem Bereich wurden in dem Jahr registriert; die Zahl der Rechtsextremist*innen liegt demnach bei knapp 34.000, gut ein Drittel davon gilt als gewaltbereit. Zum Vergleich: Der Verfassungsschutz wertete rund 6.000 Straftaten als linksextremistisch motiviert und gibt die Zahl gewaltbereiter Linksextremist*innen mit 10.300 an.

Kampf gegen WindmĂŒhlen

Noch in diesem Jahr wollen Bundesfamilien- und Bundesinnenministerium das neue „Demokratiefördergesetz“ vorlegen. Das könnte zivilgesellschaftlichen Initiativen wie der von Temiz Unvar helfen, weil sie eine langfristigere finanzielle Absicherung bekommen sollen. Doch das scheint nicht genug: In einem Interview anlĂ€sslich des Jahrestags der rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen sagte Temiz Unvar der Tageszeitung „taz (Opens in a new window)“, dass sie sich von Verantwortlichen nicht ernst genommen fĂŒhle.

„Viele von den Politikern kommen bei uns vorbei fĂŒr ein Foto, lĂ€cheln in die Kamera und dann gehen sie wieder. Was soll das? Ich hatte einen Termin beim Opferbeauftragten der Bundesregierung. Eine Mitarbeiterin sagte, ich solle doch froh sein ĂŒber das Geld – mein Sohn hĂ€tte ja auch bei einem Autounfall sterben können, dann hĂ€tte ich nichts bekommen.“ Die Hinterbliebenen haben sogenannte „HĂ€rteleistungen fĂŒr Opfer terroristischer und extremistischer AnschlĂ€ge“ erhalten, die fĂŒr solche FĂ€lle vorgesehen sind.

Ihr Kampf ist oft einer gegen WindmĂŒhlen. Hanaus OberbĂŒrgermeister versprach bei der Gedenkfeier zwei Jahre nach dem Anschlag: „Wir wollen und werden dauerhaft an die Opfer erinnern und ihrer gedenken.“ Doch bei der Frage, an welchem öffentlichen Ort das getan werden soll, stimmte die Stadtversammlung dagegen, ein Denkmal auf dem Marktplatz zu schaffen. Temiz Unvar fragt sich seither, was die vielen Versprechen und verstĂ€ndnisvollen Worte bedeuten, wenn keine Taten folgen. Ihrer Meinung nach mĂŒsse die ganze Gesellschaft Verantwortung ĂŒbernehmen.

Ob zu wenig gegen Rassismus und rechten Terror unternommen wird, ist neben der AufklÀrung der Einsatzpannen und der Frage, ob der Anschlag hÀtte verhindert werden können, einer der Hauptpunkte, die der hessische Untersuchungsausschuss klÀren soll. Seine Arbeit könnte Ende 2022 abgeschlossen sein.

Das frĂŒhere Leben ist passĂ©

Unter den Angehörigen von Hanau sind derweil enge Freundschaften entstanden. Temiz Unvar erzĂ€hlt, dass die Kinder teilweise seit der Kindergartenzeit befreundet gewesen seien und dass nur diese Eltern sie verstehen könnten. Sie fĂŒhlten sich gemeinsam dafĂŒr verantwortlich, dass die Namen ihrer Kinder nicht in Vergessenheit gerieten. Dabei ist ihr klar: Ferhat wird nicht wiederkommen. Sie hĂ€tte allen Grund gehabt, die Gesellschaft, Hanau, ihr Leben – einfach alles – zu verachten und bitter zu werden. Aber ihre Wut und ihre Trauer hat sie in etwas Positives umgekehrt.

„Ich glaube, meine Kraft sind die Schmerzen, die sind so groß“, sagt sie. „Ich kann nicht sterben, nicht leben – nur kĂ€mpfen.“ Serpil, ihr Vorname, lĂ€sst sich ĂŒbersetzen mit „Die immer Wachsende“. Es scheint so, als ob Serpil Temiz Unvar seit zweieinhalb Jahren jeden Tag ĂŒber sich hinauswĂ€chst. Und doch ist ihr Familienleben seit Ferhats Tod ein anderes. Ihr jĂŒngster Sohn ist jetzt neun Jahre alt. Sie spĂŒrt, wie auch er unter dem Verlust seines Ă€lteren Bruders leidet, aber sie sprechen nur selten darĂŒber. Sie sagt, das schmerze sie zu sehr.

FrĂŒhere Freundschaften seien zerbrochen, weil es „nicht mehr passte“. Der Grund: „Alle haben ihr normales Leben, nur ich nicht. Auch wir waren ganz normale Menschen, jetzt ist nichts mehr wie frĂŒher.“ Der Vater des TĂ€ters sei noch immer ihr Nachbar, erzĂ€hlt sie. Sie halte sich von ihm fern. Sie kann sich schwer konzentrieren, schlĂ€ft schlecht. In ihren TrĂ€umen spricht sie manchmal mit Ferhat. „Ich hĂ€tte ihm noch so viel sagen mĂŒssen. Ich dachte immer, wir haben noch so viel Zeit.“ Therapeut*innen hĂ€tten ihr nicht helfen können, sagt sie. Denn niemand kann ihr die Frage nach dem „Warum?“ beantworten, die sie seit dem 19. Februar 2020 umtreibt.

Podcast-Tipp:

Die 6-teilige SWR-Feature-Serie „Die LĂŒcke von Hanau“ (Opens in a new window) spĂŒrt den LĂŒcken der AufklĂ€rung der Morde von Hanau nach. Im AnkĂŒndigungstext heißt es: „Eher wenig beachtet wurde bisher auch die Mittelschichtherkunft des TĂ€ters und die Tatsache, dass die Mörder des NSU offenbar seine Vorbilder waren. Untersucht wird in den sechs Folgen der Serie auch die LĂŒcke zwischen Menschen, die migrantisiert werden, und deutschen Behörden.“ 

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