Skip to main content

92,4 Prozent! — Forschung for the Win!

Hallo ihr Lieben, hier ist Katrin. Heute gibt es einen Newsletter, der zeigt, wie wichtig Forschung ist, wenn es darum geht, das Leben von Menschen zu verstehen und darauf basierend auch zu verbessern.

Auf mehreren Tischen steht eine Reihe an Mikrokoskopen.

Fangen wir mit Forschung zum sagenumwobenen Klischee der psychischen Belastung nach einem Schwangerschaftsabbruch an:

PAS — der Mythos:

Eine Person, die ungewollt schwanger geworden ist (it happens, schneller als viele denken) und die sich aus welchen Gründen auch immer dagegen entscheidet, das Kind zu bekommen, erlebt — so der Mythos — den Abbruch der Schwangerschaft quasi IMMER als traumatisierend und psychisch belastend.

Die Gegner*innen von Schwangerschaftsabbrüchen haben für diese Behauptung ein Fantasie-Syndrom erfunden: Das Post-Abortion-Syndrome1, kurz PAS. Angeführt wird dabei meist eine “Studie” aus den USA, die 30 Personen befragt hat, die ihre Abtreibung als traumatisierend empfunden haben. Stichprobe wäre für diese Befragung das falsche Wort, denn nur die zu befragen, die negative Erfahrungen gemacht haben, erzeugt zwangsläufig einen Bias in den Ergebnissen. In keiner Hinsicht repräsentieren die Teilnehmenden eine typische Person, die eine Schwangerschaft abbricht.

Trotzdem blieb seit dieser Studie das “Post-Abortion-Syndrome” als Begriff hängen und wird von ganz bestimmten Interessensgruppen wieder und wieder aufgewärmt, um gegen eine liberalere Schwangerschafts-Gesetzgebung Stimmung zu machen.

PAS: Die Wahrheit

PAS ist wissenschaftlich nicht “umstritten”, sondern für die Wissenschaft ist klar: PAS ist Humbug. Es konnte nicht nur nicht belegt werden sondern im Gegenteil: Eine groß angelegte Meta-Studie kam schon 2009 zum Schluss:

“Das relative Risiko psychischer Probleme ist bei erwachsenen Frauen, die im ersten Trimester eine einzige, legale Abtreibung einer ungewollten Schwangerschaft aus nicht-therapeutischen Gründen vornehmen lassen, nicht größer als bei Frauen, die eine ungewollte Schwangerschaft austragen.”2*

Mit anderen Worten: Ob eine Person die ungewollte Schwangerschaft abbricht oder austrägt ist dieser Analyse zufolge psychisch gleich “riskant”. Die Meta-Analyse kommt auch zu dem Schluss: Stigmata, gesellschaftliche Normen und Moralvorstellungen sowie schlechte medizinische Versorgung oder gar Sexismus während des Abbruchs sind sehr wohl Risiken, die diesen zu einem psychisch belastenden Erlebnis machen können. Schockierend dazu die Recherche von Correctiv (Opens in a new window), die zeigt, wie in Deutschland die schlechte Versorgung von ungewollt Schwangeren in der Tat traumatisierend sein kann.

“Rund jede vierte Betroffene berichtete von Problemen bei der medizinischen Versorgung. Etwa einer fließbandmäßigen Abfertigung, schwerwiegenden Komplikationen oder fehlender Aufklärung. Fast so viele Betroffene schilderten, dass medizinisches Personal sie im Zusammenhang ihres Abbruchs gedemütigt, bloßgestellt oder unter Druck gesetzt habe, die Schwangerschaft fortzuführen.”3

Es ist also nicht der Abbruch an sich, der problematisch ist, sondern der miese Umgang mit ungewollt Schwangeren.
Trotzdem machen Mythen über angebliche psychische Probleme nach Abtreibungen immer wieder die Runde, werden neu aufgewärmt und mit jeder Menge anekdotischer Evidenz angereichert sogar in seriösen Medien wiedergegeben.

Schluss mit den Mythen! — Hier kommt ELSA <3

Darum ist es so GUT und wichtig, dass wir jetzt “Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer. Angebote der Beratung und Versorgung” (Opens in a new window) haben - kurz: ELSA!

Denn Elsa stellt zum ersten Mal in Deutschland diejenigen in Mittelpunkt, über die sonst nur immer nur gesprochen und spekuliert wird. Und hier sind die wichtigsten Ergebnisse im Überblick:

  1. Die Stigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen wirkt sich auf vielfältige Weise sowohl auf den Zugang zu sicheren Abbrüchen, als auf die Psyche der Betroffenen aus. Die Autor*innen schreiben: “Bei Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen, führt Stigmatisierung zu schlechteren Informationszugängen und zu Barrieren im Zugang zu medizinischer Versorgung.”

  2. Ungewollt Schwangere befänden sich deutlich häufiger in “schwierigen und für eine Familiengründung oder -erweiterung nachteiligen Lebenssituationen” als gewollt Schwangere.

  3. 92,4 % der Personen, die ihre Schwangerschaft abgebrochen haben, zweifeln nicht daran, dass dies die richtige Entscheidung war. Zum Vergleich: Frauen, die ihre ungewollte Schwangerschaft ausgetragen haben, glauben zu 96,8 %, dass diese Entscheidung richtig war. Der Unterschied ist also sehr klein.

  4. Zeitdruck und Zugangsbarrieren variieren zwar je nach Region, aber vier von fünf Frauen berichten von mindestens einer Barriere und jede dritte Frau sogar von drei oder mehr Barrieren, auf dem Weg zu einem Schwangerschaftsabbruch.

  5. Es mangelt an finanzieller Unterstützung für mehrsprachige und barrierearme Beratungsangebote. Rassismus und Ableismus, ick hör dir trapsen.

  6. 95% der Gynäkolog*innen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, sehen darin einen “wichtigen Beitrag zur Gesundheitsversorgung” - yes indeed! Danke, dass ihr da seid! Sie wünschen sich: “Mehr gesellschaftliche Akzeptanz, eine intensivere fachliche Diskussion und die Aufnahme des Schwangerschaftsabbruchs in die Weiterbildungsordnung.”

Alle Details zur ELSA-Studie findet ihr auf der Webseite des Bundesministeriums für Gesundheit. (Opens in a new window)

Kalt, hart und schmerzhaft? - Es geht auch anders!

Kennt ihr das: Es gibt diese Dinge, die sind unangenehm und ihr habt eigentlich immer ein bisschen Schiss davor, aber ihr habt euch noch nie gefragt, ob es so sein muss oder ob es nicht auch anders ginge?

Der unangenehme Gang zur*zum Gyn

So ein Ding ist das Spekulum (Opens in a new window), das Gynäkolog*innen bei der Untersuchung von Vagina und Muttermund nutzen. Es ist meistens aus Stahl und sehr kalt. Es ist einfach hart und wenn es reingeschoben wird und dann aufgeht, dann tut das nicht selten weh. So geht es mir — und so geht es vielen:
35% der Frauen erleben beim Gang zum*zur Gyn Scham, Angst oder Schmerzen und deswegen fangen viele an, den Termin zu schieben und zu vermeiden. Das wiederum ist gesundheitlich keine so gute Idee, denn nur die regelmäßige Vorsorge-Untersuchung kann zB. Gebärmutterhalskrebs früh erkennen oder auch weniger gravierende, aber ungesunde Erkrankungen, etwa STIs (also sexuelle übertragbare Erkrankungen).

Sendung zum Thema

Der Besuch in der Frauenarztpraxis kann für Flinta*-Personen ganz schön schlechte Erinnerungen hervorrufen: Nicht ernst genommen werden, Scham, Unwissen. Gemeinsam mit Nici von Safer Sex Berlin spricht Özge darüber, wie es um das sexuelle Gesundheitssystem in Deutschland steht. Jetzt hören! (Opens in a new window)

Als ich vor wenigen Tagen las, dass das gar nicht so sein muss, machte mein Kopf einfach nur: 🤯

Neues Spekulum soll motivieren und Ängste nehmen

Weil viele Betroffene als Grund für ihre Scham- und Angstgefühle auch das kalte, harte und oft schmerzhafte Spekulum und die Untersuchung mit demselben nannten, hat sich Ariadna Izcara Gual im Rahmen ihrer Abschlussarbeit an der TU Delft, Fakultät für Industriedesign, gedacht: Ich probiere mal was Neues! Sie berichtet:

“Einige der Frauen, die ich interviewt habe, gaben an, dass sie beim Einführen und sogar beim Entfernen des Geräts Schmerzen verspüren. Und es ist mehr als das. Es geht um die Pistolenform, das kalte und unangenehme Gefühl, die Emotionen.“

Und so entstand die Idee für “Lilium”. Eine neue Form (die an die namensgebende Lilie erinnert), ein angenehmeres Material (weniger kalt und weniger hart) sollen Lilium angenehmer für die Patient*innen machen, zugleich soll aber sogar die Visualisierung der Cervix, also des Muttermundes, verbessert werden.

Und so sieht Lilium aus:

Zwei Hände halten und präsentieren ein Gerät aus Plastik, das an eine halbgeöffnete Lilienblüte erinnert.

Bisher ist das Feedback überschaubar: 8 Proband*innen fanden die User Experience mit Lilium wesentlich angenehmer — das ist, wo wir weiter oben bereits über Stichproben sprachen — natürlich nicht repräsentativ.

Aber vielleicht muss es das auch nicht sein. Sondern nach all den Jahrhunderten (wusstet ihr, dass man schon in Pompeji Vaginal-Spekula gefunden hat? Dass schon die alten Römer mit solchen Dingern Vaginae — oder Vaginen? — untersucht haben?? 🤯) gibt es endlich mal den Versuch, das Leben der mit diesen Dingern untersuchten Personen angenehmer zu machen.

Ariadna Izcara Gual ist übrigens nicht die Erste, die versucht hat, das Spekulum neu zu gestalten und den Gang zum*zur Gyn damit weniger unangenehm zu machen: Da ist das Startup “Yona”, das mit seiner Version des Spekulums bereits 2018 von sich reden machte (Opens in a new window). Und es gibt “Nella NuSpec”, das 2020 vorgestellt wurde (Opens in a new window). Durchgesetzt hat sich bisher keine der neuen Entwürfe. Laut Brigitte liegt das nicht nur an Geldmangel, sondern auch an der fehlenden Offenheit für neue Instrumente in den meisten gynäkologischen Praxen. Denn dass Frauen sich dort wohlfühlen, das wird von vielen leider als “nice to have” betrachtet.

Vielleicht würde sich etwas tun, wenn möglichst viele von uns beim nächsten Besuch einfach mal fragen: “Muss es wirklich dieses harte, alte Modell sein? Haben Sie noch nicht gehört, dass es auch neue Modelle gibt, die angenehmer für die Untersuchten sind?”

Ich habe immer so tolle Ideen und dann auf dem Stuhl verstumme ich meistens doch vor Scham und weil ich nur denke: “Hoffentlich ist es schnell vorbei… “

Unser Buch

Zusammen mit Laura und Lena durfte ich ein Buch schreiben, dass viele der Gedanken, die wir uns in den letzten fünf Jahren im Lila Podcast gemacht haben, aufgreift und weiterdenkt. Das Buch erscheint am 09.09. bei Leykam. Weitere Infos und die Möglichkeit, es vorzubestellen findet ihr bei Autorenwelt.de (Opens in a new window)

Und damit sage ich: Danke fürs Lesen und bis bald
Katrin

Bildcredits:

  1. Foto von Ousa Chea (Opens in a new window) auf Unsplash (Opens in a new window)

  2. Foto von TU Delft, NL (Opens in a new window)

Quellen:

  1. Wikipedia: Post-Abortion-Syndrom (Opens in a new window)

  2. Abortion and Mental Health. Evaluating the Evidence. By Major, Appelbaum et. al. in American Psychologist, December 2009. nachzulesen bei Archive.org (Opens in a new window)

  3. Correctiv: Schwangerschaftsabbruch in Deutschland: Alleingelassen, gedemütigt, traumatisiert (Opens in a new window). 2022 von Miriam Lenz

0 comments

Would you like to be the first to write a comment?
Become a member of Der Lila Podcast Klub - Feminismus für alle and start the conversation.
Become a member