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Alles wie immer

Neues Deutschland/White Lotus Staffel3/Yasmina Reza/Guide Michelin

Noch ist alles wie immer. In der gemĂŒtlichen, alltĂ€glichen Lebenswelt der Bundesrepublik machen sich die großen VerĂ€nderungen dieser Tage, also die Abkehr der USA als Schutzmacht der Freiheit, noch nicht bemerkbar. Aber bald kommt der erste FrĂŒhling der neuen Zeit.

Ich war einige Tage in der Hauptstadt. Von der – die Älteren mögen sich erinnern – Ampel-Koalition ist keine Spur mehr zu finden. Ihre ProtagonistInnen suchen Jobs, die neue Bundesregierung ist noch Gegenstand von Spekulationen. Zwischenzeit.

Im Zug retour aus Berlin traf ich zufĂ€llig einen befreundeten Politiker, der fĂŒr die SPD an der Gestalt der neuen Zeit mitarbeitet. Er war vergnĂŒgt und zufrieden, dass das große Sondervermögen nun auch den Bundesrat passiert hat. Selbst Bremen und MeckPomm, wo die Linke mitregiert, stimmten zu. Er Ă€ußerte einen bemerkenswerten Gedanken: Deutschland rĂŒstet auf wie nie – und alle freuen sich. Nicht einmal Polen Ă€ußert Bedenken, sondern seufzt erleichtert “endlich!” Mein kluger Mitreisender sagte nur: “Achtzig Jahre.”

Die Welt hat sich gedreht.

Die neue Zeit hat ein Anfangsdatum, die Szene zwischen Trump und Selensky im Oval Office am 28. Februar. Da hat sich nichts wirklich Neues ereignet, die Position des amerikanischen PrĂ€sidenten ist seit Jahren bekannt, aber manche VerĂ€nderungen brauchen eben die große BĂŒhne, damit man es wirklich glaubt.

Nun entsteht ein politisches Europa und es gibt kein zurĂŒck. Leider haben wir uns eine Personalisierung der Politik angewöhnt, die gar nicht zu einer offenen Gesellschaft passt. Die Lösung der politischen Probleme liegt niemals nur in neuen Personen, sondern in der VerĂ€nderung von Organisationen und Routinen. In der derzeitigen Lage heißt das: in der EuropĂ€isierung der Parteien. In dieser Krise stellen sich viele Bereiche der Gesellschaft um, denken neu – aber die nationalen Parteizentralen machen stur weiter so. Dabei arbeitet man im EuropĂ€ischen Parlament lĂ€ngst routiniert ĂŒber LĂ€ndergrenzen hinweg. Höchste Zeit fĂŒr europĂ€ische Parteien, in denen die nationalen Organisationen fungieren wie derzeit die LandesverbĂ€nde.

Die politischen Handlungsdimensionen haben sich lĂ€ngst verschoben: Ich schĂ€tze, dass bald nicht mehr bloß gemeinsame europĂ€ische Schulden aufgenommen werden mĂŒssen, wie in Corona-Times, sondern dass in ganz Europa auch die Steuern fĂŒr vermögende Menschen erhöht werden. Die privaten Reserven der Reichen haben sich seit Jahrzehnten derart gĂŒnstig entwickelt, dass so ein Beitrag, analog zum Lastenausgleichsgesetz nach dem Krieg, nur fair wĂ€re. Um den Betroffenen so eine verhasste Maßnahme zu erklĂ€ren, wĂ€ren neue politische Formate, etwa Auftritte von Merz in Frankreich und Macrons in Deutschland nötig.

Alle schauen nun nach vorn, die politische Dynamik gleicht jener nach dem Fall der Mauer. Das hat ja immer auch etwas Entlastendes. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass wir alle gerne weggesehen haben, als die Bedrohung durch Russland zunahm und die radikale Rechte in den USA stĂ€rker wurde. Die Warnungen aus baltischen Staaten, Polen und Tschechien, auch aus der Ukraine wurden in Deutschland heruntergespielt oder diffamiert, weil das ganze Land Ferien von der Geschichte nehmen wollte. HĂ€tte man noch zur Merkel-Zeit vorgeschlagen, Schulden fĂŒr AufrĂŒstung zu machen, weil Putin uns angreifen wird, wĂ€hrend die USA uns fallen lassen, wĂ€re man ausgelacht worden. Zeigefinger wĂ€ren mit der Wut eines entschlossenen Spechts gegen SchlĂ€fen geflogen. Die Welt war egal. Das Motto lautete: Alles geht, solange es uns nichts kostet. Nochmal auf den Benziner setzen, nochmal ein Fußball-SommermĂ€rchen und billige Energie aus Russland kaufen – kĂŒnftige HistorikerInnen werden einmal erforschen, wie und warum sich das grĂ¶ĂŸte Land Europas ĂŒber Jahrzehnte in eine Zeitschleife flĂŒchtete und entgegen aller Warnungen in einer Welt leben wollte, in der es immer Samstagnachmittag ist.

Eine verbreitete Wunschvorstellung in unserer Kultur ist es, sehr reich zu sein und Ferien in einem sogenannten „Paradies auf Erden“ zu machen. Die zeichnen sich dadurch aus, dass alles von dem fehlt, was einen in die Lage versetzt, das fĂŒr einen solchen Aufenthalt nötige Geld zu erwirtschaften. Teuerste Ferienanlagen erzeugen die Illusion eines urspĂŒnglichen, naturnahen, eben authentischen Zustandes einer Gesellschaft vor Industrialisierung und Digitalisierung. Es stellt sich unweigerlich die Frage, warum wir irgendwann das authentische und naturnahe Tagelöhnerleben der Vorfahren in der europĂ€ischen Provinz aufgegeben haben, wenn der Lohn der MĂŒhen dann im Erleben agrarischer Idyllen besteht.

Die TĂŒcken dieses kapitalistischen Ideals hat die amerikanische Serie White Lotus zum Thema, deren dritte Staffel eben angelaufen ist. Wie ist es so, wenn man mit lieben Menschen und viel Geld an traumhaften Orten freie Zeit verbringt, bar aller Sorgen ? Wie ein sanfter Abstieg zur irdischen Hölle in vielen, flachen Stufen, so ist es!

https://www.youtube.com/watch?v=ACeQS4xk5Cw (Opens in a new window)

Die erste Staffel spielte auf Hawaii und bewegte sich noch im Rahmen einer satirischen Ferienkomödie. Schauplatz von Staffel 2 war Taormina auf Sizilien und wies schon arg bedrĂŒckende Szenen auf, die aber immer wieder auch durch sympathische Momente ausbalanciert wurden. Die aktuelle Staffel badet nun vollstĂ€ndig in der Finsternis der Herzen. Man kann das nahtlos nach den Nachrichten ĂŒber Trump, Vance, Musk und Co schauen. Ab und zu fragt man sich ja schon, wie gerade ein so gebildetes und wohlhabendes Land wie die USA solche affektgesteuerten MĂ€nner an die Spitze lassen konnte. Wie es ĂŒberhaupt so weit kommen konnte. In dieser Serie findet man Antworten. WĂ€hrend die einheimischen, thailĂ€ndischen Figuren agieren wie normale Menschen, sind die reichen, weißen Touristen aus USA ausnahmslos verlorene Seelen, die sich in Drogensucht, Ressentiment und Gewalt verheddern. Sie sind hier auch nicht mehr liebenswert neurotisch oder postmodern ratlos, sondern verdammt gefĂ€hrlich. Eine schonungslose Anklage gegen die egozentrische und gierige Bourgeoisie eines von sich selbst berauschten, dabei grausamen Imperiums, gegen die USA der Gegenwart also, wie sie nur die USA zustande bringen.

Vor drei Jahren erschien im New Yorker ein langes und recht bemĂŒhtes Portrait des französischen Schriftstellers Emmanuel CarrĂšre (Opens in a new window). Dort wurde eine Art Ranking der französischen Literaten vorgenommen, das CarrĂšre selbst vorschlug. Danach war Michel Houellebecq die Nummer Eins und er, CarrĂ©re, folgte auf 2. Es war eine amĂŒsante Rechnung, so ganz ohne die Damenmannschaft. Fast so, als hĂ€tten Björn und Benny besprochen, was den Erfolg der ABBA ausmacht und hĂ€tten sich selbst gerankt, die beiden SĂ€ngerinnen aber vergessen. Yasmina Reza jedenfalls lacht glockenhell ĂŒber dieses Gedankenspiel.

Ihr neues Buch ist wieder ganz anders als der VorgĂ€ngerroman Serge. Keines ihrer BĂŒcher gleicht dem vorigen, darum spielt sie auch in einer eigenen Liga. Nun hat sie kurze und diverse Texte versammelt, von denen einige zum Genre der literarischen Gerichtsreportage zĂ€hlen. Oder davon handeln, was eine Freundin Lustiges gesagt hat, beim abendlichen Abschied nach einem dieser drögen Tage. Es geht aber auch um die verstreichende Zeit, um Geisterbeschwörungen und dreiste Mordversuche – Themen, die man nicht unbedingt ins Schaufenster von Insta stellt, ĂŒber die man sich nicht freut: RĂŒckseiten des Lebens. Ich mag solche fragmentierten, durchlĂ€ssigen BĂ€nde ohnehin lieber als ĂŒberdimensionierte Großromanversuche, deren MĂŒhe beim Schreiben sich auf die Leserinnen und Leser ĂŒbertrĂ€gt. Reza legt virtuose Studien ĂŒber solche stillen und abseitigen Szenen des Lebens vor und zeigt sich formal wie intellektuell auf der Höhe ihrer Kunst und unserer Zeit.

Sie mögen ihrem geregelten oder chaotischen Leben nachgehen und verdrĂ€ngen dabei völlig den 31.MĂ€rz – den Tag also, an dem in Paris der neue Guide Michelin veröffentlicht wird. In Frankreich ist das immer ein Moment der Wahrheit, denn die Cuisine ist eines der ganz wenigen Themen, die das stets zerstrittene Land noch irgendwie eint. Nun drang schon eine Sensation durch: Das Restaurant von George Blanc verliert den dritten Stern! Ein Hammer, vergleichbar nur mit dem Tag, als Jean-Paul Sartre bei der PhilosophieprĂŒfung von Normale Sup durchgerasselt war. Blanc hĂ€lt seit 1981 drei Sterne, lĂ€nger als jedes andere Haus. Sein Ruhm grĂŒndet auf QualitĂ€t und Charisma des Bresse-Huhns – top bird der ganzen Welt – in dessen Heimat das Lokal liegt.

Blanc selbst nahm die Degradierung sportlich und erklĂ€rte, fortan mit zwei Sternen weiterzumachen, c‘est la vie. Ich vermute aber, dass er im nĂ€chsten Jahr wieder aufschlĂ€gt, Stern 3 zurĂŒckholt und die Welt verblĂŒfft.

Hier ein Video aus besseren Tagen:

https://youtu.be/edE32Dt-Iy0?si=mMTi3kmbXHBj_jFY (Opens in a new window)

Wer kein Fleisch essen möchte und oder das Budget im Blick behĂ€lt, wird bei Nigel Slater glĂŒcklich, der vermutlich gar keinen Guide Michelin Regal stehen hat. Man darf auch beide Rezepte schĂ€tzen.

https://www.theguardian.com/food/2025/feb/09/nigel-slaters-recipes-for-aubergines-with-tomato-and-yoghurt-and-rhubarb-honey-and-sweet-crumbs (Opens in a new window)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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