Sprechen über das Ganze

Mir fehlen die Worte für das, was da passiert ist, und ich merke, wie ich mich dafür schäme, wie mir das unangenehm ist. Ich glaube, es ist ein kollektives Problem, und trotzdem.
Georg aus dem Parlamentskreis hat mich gebeten, einen Erlebnisbericht über das Parlament der Menschen zu schreiben, seit Wochen wache ich morgens auf, denke darüber nach, wie ich das machen könnte, und finde keinen Zugang.
Erlebnisbericht, also, wie ich das erlebt habe – ja, das ginge schon, und: es war doch eine kollektive Erfahrung, und ich merke, dass dafür die Sprache fehlt. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem der Journalisten, die die drei Tage im Kuppelzelt verbracht haben. Er sagte etwas Ähnliches. Dass er sich am liebsten den einen Protagonisten rausziehen würde, an dem er die Reportage entlang erzählt. Aber das würde der Sache nicht gerecht.
Wie war es, dieses Parlament der Menschen? Was gibt es zu berichten?
Ich könnte die Ergebnisse aufzählen, diese acht starken, radikalen Sätze.
Ich könnte konzeptionell draufschauen, auf diesen Akt sich zu versammeln als eigenständiges Parlament der Menschen, an diesem Ort als größtmöglicher Protest in Zeiten, in denen Wirtschaftsleute und korrupte Politiker:innen die Regierung bestimmen.
Ich könnte den Moment beschreiben, als das Zelt endlich stand – hoch, weiß, wunderschön.
Ich könnte den Moment beschreiben, als zu Beginn alle ihre Stühle ins Zelt trugen, die erhabene, ernsthafte Stimmung.
Den Moment, als die Stühle am Samstagabend zur Seite geräumt wurden, und einige der Teilnehmenden tanzten.
Den Moment der Krise im Moderationsteam.
Den Moment meiner eigenen Zweifel, die schlaflose Nacht.
Den Moment, als alle sich nochmal bewusst machten, wo wir da sind, vis-a-vis mit dem größten Machtzentrum Europas.
Die angeregten Gespräche.
Die strahlenden Augen nach Abschluss der letzten Abstimmung.
Die vielen Hände, die hochgingen, als gefragt wurde, wer in der eigenen Stadt ein Parlament der Menschen mitaufbauen möchte.
Den Moment, als wir mit Regenschirmen und den Beschlüssen in einem langen Zug zur Bundestagspforte gezogen sind.

All das Teile eines Mosaiks, oder besser: einer Discokugel, die tausend verschiedene Perspektiven ermöglicht, die auch immer zurück spiegelt, wer man selbst ist, denn das ist es vielleicht, was kollektive Erfahrungen ausmacht:
Wenn ich zynisch bin, werde ich darauf gucken und es naiv finden.
Wenn ich wohlwollend bin, werde ich Schönes entdecken.
Wenn ich vertrauensvoll bin, werde ich Anschluss finden.
Aber, ja, dafür fehlt uns die Sprache. Ich besuche bald einen Kurs in einer Gemeinschaft in Portugal, es geht um Gewaltfreiheit und Aktivismus. Als ich fragte, ob ich schon zwei Tage früher anreisen könnte, hieß es, das ginge nicht – es wäre schwierig mit den allgemeinen Abläufen, “it doesn’t serve the whole.” Es diene nicht dem Ganzen.
Ich fand das einen radikalen Satz, auch verstörend. Überhaupt von einem Ganzen zu sprechen, weil die Person damit etwas anderes als das Individuum in den Mittelpunkt gestellt hat.
Was ist dieses Ganze? Was war dieses Parlament der Menschen?
Sicherlich ist es auch schwer darüber zu schreiben, weil es so konfliktfrei war. Das lag vielleicht auch daran, dass es viele Menschen aus der Bubble waren, aber heißt es sonst nicht immer: Wo zwei Linke zusammenkommen, gibt es drei Meinungen? Mein Gefühl ist deshalb eher, dass es so konfliktfrei war, weil es nichts zu gewinnen gab für das Individuum – keine Macht, kein Geld, kein Status. Stattdessen ging es um Kooperation und Harmonie. Es wurde sogar meditiert.
Was ist dieses Ganze? Was war dieses Parlament? Es war tatsächlich ein Aufbruch in eine neue Welt, so wie es im Titel darüber stand, weil es auf Wohlwollen und Vertrauen basierte, Dinge, die in unserer Gesellschaft so selten geworden sind, dass uns die Worte dafür fehlen.
Wenn ich also nicht dabei gewesen, es direkt miterlebt, gesehen und gefühlt hätte, würde ich sagen: es war ein Traum – und vielleicht ist es auch deshalb so schwer, darüber zu schreiben, weil es jetzt vorbei ist, und ich nach dem Aufwachen nur noch wolkige Fetzen erhaschen kann. Aber zum Glück findet das nächste Parlament der Menschen bald schon statt. Am 3. Oktober. Dem Tag der deutschen Einheit.
