UNSER BUNTER PLANET
SACHBUCH-KRITIK
„Der Planet, auf dem wir leben, weist eine außergewöhnliche Fülle an Tieren, Pflanzen und Pilzen auf. Gemeinsam zeigen sie eine erstaunliche Vielfalt, was ihr Äußeres, ihren Lebensraum und ihr Verhalten angeht. Und das gilt ganz besonders dann, wenn es um Sex und sexuelles Verhalten geht.“ - QUEER, S. 5
Mit diesen Worten leitet der im Natural History Museum in London arbeitende Wissenschaftsautor Josh L. Davis sein fabelhaftes Buch QUEER – Sex und Geschlecht in der Welt der Tiere und Pflanzen ein. Und fährt direkt fort: „Es wird oft gesagt, dass rund 1 500 Tierarten homosexuelles Verhalten zeigen. [...] es [ist] höchst unwahrscheinlich, dass sie sich auf nur einige hundert der ca. 2,13 Millionen Arten beschränken, die heute bekannt sind. [...] Doch trotz dieser anzunehmenden Häufigkeit ist nichtheteronormatives Verhalten den größten Teil der Naturgeschichte hindurch vertuscht, ignoriert oder verunglimpft worden.“
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Wie „in der Wissenschaft queeres Verhalten bei Tieren als 'unnatürlich' oder 'anormal' abgetan wurde“, zeigt Davis uns beispielsweise an einer Debatte um die „historische Homosexualität“ des – Achtung – Feldmaikäfers! Ein weiteres Beispiel von Ausgrenzung und Sexismus ist die sexuell tendenziöse Namensgebung bei Dinosauriern. Oder anders gesagt: Der Mensch geht mit queeren Tieren genauso um, wie mit queeren Menschen in den meisten Zeitabschnitten der Geschichte. Zwar schreibt Davis, dass das Buch keine Vergleiche zwischen dem, „was man in der Welt der Tiere und Pflanzen findet, und der Welt der Menschen“ ziehe. Doch lassen sich zumindest im Umgang mit Sexualität eben doch zumindest Rückschlüsse ziehen. Darauf werde ich zurückkommen.
Bevor Josh L. Davis uns diverse Tiere zu Wasser, Luft und Land sowie verwurzelte Kolleg*innen vorstellt, erläutert der Autor mit seinem Hintergrund in Biologie und Naturschutz, wie er es mit dem Vokabular hält. (Und dass das Buch keine Rechtfertigung für Queerness sei, da dies keiner Rechtfertigung bedürfe (Opens in a new window).) Unterscheidet also klar zwischen „sex“ und „gender“, was für Flora und Fauna gilt. Mit Blick auf die asexuellen Sporen von Samenpflanzen und ihren Blüten, aus denen schließlich Gametophyten hervorgehen, die Geschlechtszellen erzeugen, ist das definitiv keine Haarspalterei.

Um sich nicht dem der Forschung und Wissenschaft offenbar inhärenten Schweigen zu beugen, das „homosexuelles Verhalten als ein evolutionäres Paradox“ ansieht und da wir uns bei Tieren und Pflanzen natürlich schwerlich nach ihrem Ich-Erleben erkundigen können, erläutert er, wann und wie er „schwul“, „lesbisch“ sowie „homosexuell“ verwendet. Den titelgebenden Begriff QUEER nutzt er, unserem Bezug zu uns selbst naheliegend, „als eine Art Überbegriff, wenn ich allgemein über nichtheteronormatives Verhalten spreche, das sich nicht unbedingt auf sexuelles Verhalten allein bezieht.“
Mit diesen Hinweisen und einigem weiteren der Einleitung entnommenen Vorwissen stürzen wir uns nun in die Regenwurm... äh... Regenbogenwelt, die die Natur in vielerlei Hinsicht – siehe das Eingangszitat – eben darstellt. Den Anfang machen als homosexuelle Paare (m/w), sehr zur Freude hier im Hause, die Galápagos-Pinguine bzw. Adeliepinguine, gepaart mit einer spannenden und unterhaltsamen Anekdote zu einer Antarktisexpedition zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Rahmen dieser traf u. a. der recht irritierte Schiffsarzt Dr. George Murray Levick auf besagtes homosexuelles Verhalten, verstand aber nicht recht, was er dort sah, was sich laut Davis in den Aufzeichnungen Levicks, die allein schon eine interessante Veröffentlichungsgeschichte haben, widerspiegelt.
![[⚠️ Suspicious Content] Männliche und weibliche Papageienfische sehen so unterschiedlich aus, dass Forscher:innen
anfangs viel mehr Arten beschrieben, als tatsächlich existieren. Der Masken-Papageienfisch
bildet da keine Ausnahme; sobald das Weibchen das richtige Alter und die richtige Größe
erreicht hat, wechselt es sein Geschlecht und wird zum Männchen](https://assets.steadyhq.com/production/post/2b645d20-d1a7-43fe-936e-2b9a1d0dcaed/uploads/images/ox7n4krrom/043o__User_Rlingderivative_work_User_IdLoveOne_CC_BY-SA_3.0via_Wikimedia_Commons.jpg?auto=compress&w=800&fit=max&dpr=2&fm=webp)
Viel über Befruchtung und Embryonen, Chromosomen und Geschlechtsdimorphismus lernen wir anhand der Parthenogenese der New-Mexico-Rennechse, den Mangroven-Killifischen, die sich selbst befruchten, gynandermorphen Arten wie Schmetterlingen und Vögeln oder der außergewöhnlichen Sahara-Zypresse, die nicht nur als Nadelbaum in der Wüste wächst, sondern auch „die einzig bekannte Pflanzenart ist, die sich durch Apomixis vermehrt.“ Bedeutet: Sie pflanzt sich ungeschlechtlich fort.
Am Beispiel des muckeligen Hausschafes erörtert Josh L. Davis die Frage, ob Tiere homosexuell sein können. Ob sie eine Geschlechtsidentität haben, erforschen wir am Blauen Sonnenbarsch. Natürlich kommen wir nicht ohne dauergeile und sehr Kamasutra taugliche Bonobos und sexuell dominante Giraffen aus. Zum Thema Erziehung durch gleichgeschlechtliche Paare schwimmen wir mit Trauerschwänen oder fliegen mit nervigen Westmöwen. Eigetümliches zu urtümlicher Unisexualität gibt es bei den Hornmilben (echt!) sowie geschlechtsverkehrte Genitalien bei den Kolleg*innen der Staubläuse.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/8981dc84-05c9-44b8-8d84-81f32847f555 (Opens in a new window)All das ist neben den eindrücklichen und sinnfällig von Monika Niehaus übersetzten Texten noch hervorragend bebildert. Seien es die zahlreichen Fotografien oder daneben einige Zeichnungen – auch das bloße Blättern bereitet dem Herzen von Naturliebhaber*innen immer wieder Freude. Wie nicht zuletzt auch die ausführliche Literaturliste am Ende des Buches.
Bis wir allerdings zu diesem kommen, stoßen wir immer wieder auf die oben bereits angedeuteten Parallelen vom Umgang des Menschen mit Tier und, nun, im Kern des Ganzen, sich selbst. Wenn wir etwa im Abschnitt zu Großen Tümmlern und den Rotschenkeln, einer Vogelart aus der Familie der Schnpefenvögel, lesen, dass queeres Verhalten ständig „umgedeutet und verbal abgewertet wurde“, dass immer wieder Gründe und/oder neue Klassifizierungen gefunden wurden, um Homosexualität und Queerness wegerklären zu können, dann wundern wir uns leider kaum, denn:
„Das kann kaum überraschen, wenn man bedenkt, dass Homosexualität zwischen Männern und zwischen Frauen in einigen Ländern illegal war und viele Jahrhunderte hindurch herabgewürdigt wurde. Oft spiegelt die Wissenschaft die gesellschaftliche Haltung wider. Diese Beispiele zeigen deutlich, dass die Wissenschaft von Menschen beeinflusst und geprägt ist, und Menschen stecken voller offener und versteckter Vorurteile, die zu jahrhundertelanger Verdunklung, Desinformation und Vertuschung geführt haben.“ - QUEER, S. 89
Das galt für das 17. Jahrhundert wie für das 19. und ebenso noch das 21., denn zwar sei die Wissenschaft rund um queeres Verhalten in den letzten Jahren (!!!) offener geworden, doch „ist es oft noch immer viel zu einfach, in alte Vorurteile zurückzufallen.“ Dass dem so ist, lässt sich wohl auch mit Blick auf unsere, wie es so schön heißt, gesamtgesellschaftliche (Rück-)Entwicklung beobachten (Opens in a new window). Verbale wie physische Übergriffe auf Menschen aus der LSBTIQ*-Community nehmen zu, Dinge „dürfen wieder gesagt“ werden, die neuesten Statistiken zu Attacken sind schockierend.
Dass das Ganze noch, wenn auch nur indirekt, von Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) unterstützt wird, wenn sie, gemeinsam mit dem, dem Vernehmen nach streng konservativen, neuen Direktoren des Deutschen Bundestages, Paul Göttke (ebenfalls CDU), verkündet, die Regenbogenflagge zum Berliner Christopher Street Day nicht mehr am Bundestag zu hissen, ist bitter. Oder wenn sie unter (Aus-)Nutzung der Neutralitätspflicht dem Regenbogennetzwerk der Bundestagsverwaltung untersagen, dort als Gruppe aufzutreten. Daran ist nichts „verbindend und verbindlich“, wie sie es im April noch huldvoll in der eigenen Aufgabenbeschreibung ankündigte.
Wir denken da gerade eher an spalten statt verwalten; polarisieren statt harmonisieren. Und, die Frage stellt sich schon: Wem nehmen wir etwas weg? Wem nehmen queere Tiere und Pflanzen etwas weg? Ist der eigene Bulle auf dem Hof nicht mehr in der Lage zu decken, nur weil die Gewöhnliche Esche auch zwittrige Blüten hervorbringen kann? Ist eure Heten-Ehe weniger wert, nur weil Paulina und Christina jetzt auch endlich heiraten dürfen? (Dafür dank des altertümlichen Abstammungsrechts im Gegensatz zu Hetero-Paaren noch immer Knüppel zwischen die Beine geworfen bekommen.)

Ist euer Pitbull weniger Pitbull, weil u. a. Flachlandgorillas gern in Frat-X ähnlichen Junggesellen-Gemeinschaften leben? Ist heteronormatives Vögeln weniger ansprechend, nur weil es Gay-Saunen gibt? Ist die Fortpflanzung von binären, heteronormativen Menschen und Tieren weniger ergiebig, weil „ein individueller Pilz einen von 23 328 Paarungstypen haben kann“? Sind eure Küsse weniger romantisch, weil eine trans*Frau mit ihrem bisexuellen Boyfriend händchenhaltend um den Chiemsee schlendert? Denkt mal drüber nach... (Witz! Es gibt nicht viel zu denken.)
„Sex ist ein komplexes Verhalten, das viele Gründe und Ergebnisse haben kann und hat, von Stressabbau über die Stärkung von Bindungen bis zu reinem Lustempfinden.“ - QUEER, S. 5
QUEER ist ein unfassbar vielfältiger Band, der sich anhand von zahlreichen Beispielen sowohl wissenschaftlich wie kulturgeschichtlich, aber auch politisch und teils mit sehr unterhaltsamen, mitunter schon abstrusen Anekdoten aus der Forschungsgeschichte dem queeren Verhalten und Leben von Tieren wie Pflanzen widmet. Dass auch jene Abschnitte, die sehr biologisch und theoretisch kompliziert sind, von Josh L. Davis verständlich formuliert und von Monika Niehaus nachvollziehbar übersetzt sind, ist dem im Haupt Verlag erschienenen Buch nicht hoch genug anzurechnen.

„Es gibt eine ganze Menge, was wir über die Entwicklung tierischer Körper nicht wissen“, schreibt Davis am Ende des Abschnitts zum „genitalen Mimikry“ der matriarchisch geführten Gemeinschaften der Tüpfelhyäne. Dank QUEER wissen wir nun einiges mehr.
AS
PS: Apropos Dinos: Am 2. Juli 2025 startet JURASSIC WORLD: Die Wiedergeburt. Schön bunt ist zudem DEATH OF A UNICORN – unsere queer review lest ihr hier (Opens in a new window).
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/c65512b4-3012-486c-a59e-14866bf88896 (Opens in a new window)PPS: Noch einmal zum „Wegerklären“, „Umdefinieren“, etc.: Wir schauen sehr viele Natur-Dokumentationen zu diversen Themen und aus diversen Ländern, Quellen, usw., usf. Es wird in den wenigsten auch nur einmal ein Beispiel von nichtheteronormativen Verhaltensweisen genannt. Mittlerweile gibt es zwar manch eine Erwähnung, etwa Pinguine oder Bonobos, doch ist das eine Seltenheit. In diesem Sinne sei noch die Peacock-Dokumentation Queere Tiere – Mehr als Männchen und Weibchen empfohlen, die ihr noch bis 2028 in der arte-Mediathek findet (Opens in a new window).
(Außerdem feierte am 14. Juni 2025 Animal Pride von Rio Mitchell auf der zweiten Dokumentale in Berlin Premiere. Der Film begleitet den kanadischen Wissenschaftler Connel Bradwell, der sich gegen die Ignoranz der Naturwissenschaft stellt, wenn es um queere Tiere geht. Mehr dazu in Kürze.)
IN EIGENER SACHE: Da unser reguläres Online-Magazin noch immer nicht wieder am Start ist, veröffentlichen wir vorerst hier. Mehr dazu lest ihr in unserem Instagram-Post (Opens in a new window) oder auf Facebook (Opens in a new window). Außerdem freuen wir uns immer, wenn ihr uns einen Kaffee spendieren wollt (Opens in a new window).

Eine Leseprobe findet ihr hier (Opens in a new window).
Josh L. Davis: QUEER - Sex und Geschlecht in der Welt der Tiere und Pflanzen (Opens in a new window); 128 Seiten, zahlr. Abb.; ISBN: 978-3-258-08408-4; Haupt Verlag; 19,90 €