Teile dieses Tatorts könnten die Bevölkerung verunsichern
TV-KRITIK
„Studien besagen, dass inzwischen ein Drittel der Bevölkerung zumindest teilweise an Verschwörungstheorien glaubt. Das Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und deren Maßnahmen ist gewachsen.“ - Autor und Regisseur Rupert Henning
Dem ist wohl so, ob nun in Deutschland oder Österreich. Unübersichtlich ist es auch Da kommen bei Demonstrationen, in Internetforen, auf Veranstaltungen „freiheitsliebende Bürger, Leute aus dem Querdenker-Milieu, QAnon-Anhänger, Libertäre, Esoteriker, aber auch linke wie rechte Extremisten“ zusammen. So beginnt nicht nur der Tatort:Wir sind nicht zu fassen mit der großen Frage: Wer demonstriert hier eigentlich gegen wen oder was?

In ihrem 36. (und viertletzten) Fall begibt sich das Wiener Tatort-Duo Adele Neuhauser und Harald Krassnitzer erneut auf politisches Terrain und legt sich gar (mal wieder) mit dem österreichischen Staatsschutz an. Der, gemessen am Thema, streckenweise erstaunlich heitere Film von Rupert Henning vereint dabei Politthriller und klassischen Krimi mit der Geschichte einer Radikalisierung.
In der Wiener Innenstadt herrscht Aufruhr und Ausnahmezustand: Ein wütender Protestzug will das Regierungsviertel stürmen. Die Gewalt eskaliert, bis ein Demonstrant tot auf der Straße liegt: Jakob Volkmann (Tilman Tuppy), ein Aktivist aus vorderster Reihe. Inmitten des Chaos nehmen Major Bibi Fellner (Adele Neuhauser), ihr Kollege Oberstleutnant Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und die junge Ermittlerin Meret Schande (Christina Scherrer) die Mordermittlungen auf. Während der Einsatzleiter Markus Schuch (Wolfgang Oliver) das harte Vorgehen seiner Truppe verteidigt, wächst in den sozialen Medien die Wut auf die Polizei. Ist ein Schlagstock die Ursache für den Tod des aktenkundigen Systemkritikers Volkmann? Als ein Anschlag mit einem Brandsatz auf Meret Schande verübt wird, beginnen die Kommissare das ganze Ausmaß der Bedrohung zu erkennen. Eine Spur führt zu einer militanten rechtsextremen Untergrundgruppe, die „das System“ stürzen möchte. Das Opfer gehörte der Organisation ebenso an wie dessen schwangere Freundin Katja Ralko (Julia Windischbauer), die den Staat und die Polizei zum Feind erklärt.
Unheimliche, ja gruselige Zeiten also in diesem stimmungs- und schwungvollen Tatort mit so viel Schmäh wie Schmach. Und, sind wir einmal ehrlich nicht nur dort, wie es Eisner-Darsteller Krassnitzer formuliert:
„Was wir erzählen, findet in der Realität de facto statt. Wenn sich die extremen Rechten in Madrid zum Gipfel treffen, wie in diesem Februar, dann sind dort alle europäischen Gruppen vertreten, um offen über das gemeinsame Ziel zu sprechen: die Zerstörung der Demokratie. Wenn US-Präsident Donald Trump die europäischen Verbündeten 'Schmarotzer' nennt, unliebsame Journalisten aus dem Oval Office aussperrt und jede Form von Kritik als Staatsverbrechen betrachtet, dann sehen wir klare Anzeichen eines kalten Putsches. Und die Rechtspopulisten in Europa stehen voll hinter ihm. Amerika in eine Autokratie zu verwandeln, sei die beste Lösung, um endlich Schluss zu machen mit diesem ganzen 'liberalen Gesocks', wie sie immer sagen.“

Das führe natürlich zu Irritationen und Verunsicherung, kaum ein Abend mit Freund*innen, bei dem die Themen Rechtsruck bei gleichzeitigem Verschwimmen von Grenzen zwischen dem linken und rechen Lagen, vermeintliche Verschiebung des „Sagbaren“, Radikalisierung und Co. nicht aufs Tableau kämen. Das können wir nur unterschreiben: Es umgibt und traktiert uns an jeder Stelle. Warum also nicht einmal einen Tatort darüber machen.
Eben. Und was für einen! Das Wiener Team ist ohnehin seit geraumer Zeit ein Garant solider, mitunter gesellschaftlich relevanter Krimikost (von wenigen Ausnahmen abgesehen) mit dem gewissen Etwas. Der spezielle Charme von Fellner und Eisner sowie ihren Darsteller*innen Neuhauser und Krassnitzer und deren gegenseitige Chemie ist unbestreitbar.
Dass Regisseur Rupert Henning, der für Wir sind nicht zu fassen auch das Drehbuch schrieb, bei aller Lakonik das Thema wie auch alle Figuren ernst nimmt, ist dem Film an jeder Stelle anzumerken. Nur kann mensch manches mal bei all der Absurdität der Realität eben doch nur lachen. Zumal Humor und manch wenig diplomatische Garstigkeit sicherlich dabei hilft, manches im besten Sinne zu relativieren, auf eine gewisse Art von außen darauf zu schauen und schlicht nicht zu verzweifeln.

Genau das nicht zu tun, ist für die Beteiligten in diesem Tatort nicht immer leicht. Vor allem da Fellner, Eisner und Schande nicht nur auf immer weitere Schichten des Schweigens, Täuschens und Mauerns treffen, sondern es eben auch gegen das eigene Team geht und sie gezwungen sind, im eigenen Umfeld zu ermitteln.
Daneben erfahren wir noch so manches über die Mechanismen und Strategien extremistischer Gruppen, um zwar unzufriedene, womöglich verbitterte und enttäuschte, aber doch häufig recht arglose Menschen einzufangen. Hier verkörpert in der von Julia Windischbauer stark gespielten Figur Katja Ralko, über die die Darstellerin sagt:
„Für unsere Geschichte ist die Radikalisierung der Figur viel spannender als die Frage, wofür sie überhaupt eintritt. Ihre Slogans gegen den Staat, den Kapitalismus und das System, das ihr angeblich jede Freiheit raubt, scheinen beliebig austauschbar. Sie schleudert der Welt ein kategorisches Nein entgegen, wild und rastlos, ohne eine eigene Vision von der Zukunft zu haben. Das Dazugehören ist ihr wichtiger als eine politische Botschaft.“

Genau darin liegt auch das Problem, ganz gleich ob es um harte Radikale oder weiche Polemiker*innen geht: Ein Dagegen aus Prinzip, verstärkt durch Gruppe und/oder Applaus und nicht selten gepaart mit einer derben Absolutheit, ohne jede Grauzone oder Raum für Argumente. Ein wirkliches Anliegen spielt keine Rolle, Sachlichkeit ist Feind, Dialog verboten. Was als wesentliche Säule der Demokratie und der pluralistischen Gesellschaft unabdingbar ist, wie auch Rupert Henning sagt, ist hier unmöglich Ding.
Wie das aufzulösen ist, ist die große Frage. In Österreich sind die Bürger*innen gerade nur haarscharf an einer rechtsextremen Regierung vorbeigeschlittert, wie Adele Neuhauser im Presseheft anmerkt, und in Deutschland warten wir auf die offiziell veröffentlichten Erkenntnisse des AfD-Gutachtens vom Verfassungsschutz und fragen uns derweil, ob ein Verbot sinnvoll ist oder sie doch politisch, parlamentarisch und aus der Gesellschaft heraus gestellt werden sollten.

Passend dazu wird an diesem Sonntag auch im Tatort nicht alles letztgültig aufgelöst. Der Titel Wir sind nicht zu fassen deutet dies bereits an. Damit ist die dynamische, von Josef A. Mittendorfer in Bilder permanenter Bedrohung gepackte Geschichte nah am Leben und behält bei aller Unterhaltung die Bodenhaftung.
QR (mit Pressematerial)
PS: Apropos die Figuren ernst nehmen – Ernstl zu Moritz: „Wenn du je aus der Pubertät raus kommst, geh ich in Pension. Also nie.“ Wieso er das sagt? Nun, Eisner freute sich zuvor mit den folgenden Worten, dass der Polizeipräsident Teil eines Team-Briefings war: „Herr Polizeipräsident – schön, dass sie physisch anwesend waren.“
https://steadyhq.com/de/thelittlequeerreview/posts/6a94b853-8681-4218-9351-6999618ec37b (Opens in a new window)PPS: Ein aktuelles Buch, das zum Thema passt, ist Leor Zmigrods DAS IDEOLOGISCHE GEHIRN. Wie politische Überzeugungen wirklich entstehen (Suhrkamp nova). Unsere Buchkritik lest ihr bald.
IN EIGENER SACHE: Da unser reguläres Online-Magazin noch immer nicht wieder am Start ist, veröffentlichen wir vorerst hier. Mehr dazu lest ihr in unserem Instagram-Post (Opens in a new window) oder auf Facebook (Opens in a new window). Außerdem freuen wir uns immer, wenn ihr uns einen Kaffee spendieren wollt (Opens in a new window).

Das Erste zeigt den Tatort: Wir sind nicht zu fassen am Sonntag, den 1. Juni 2025, um 20:15 Uhr, auf one ist er um 21:45 zu sehen und anschließend für vier Wochen in der ARD-Mediathek verfügbar (Opens in a new window).