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DIE MAGIE DER WORTE

LITERATUR-KRITIK

Schreiben sei Verantwortung, heißt es sinngemäß an einer Stelle in Jesús Cañadas' Die Bibliothek der Wahren Lügen. Das sollte für viele Autor*innen einmal ein Merksatz sein... wie auch so manch andere Stelle aus dem faszinierend-fantasievollen Jugendbuch, das Elisabeth Leuthardt famos aus dem Spanischen übertragen hat. Passend zu allem Fantastischen ist ebenso die Aufmachung des Coppenrath Verlag mit wirklich mal ansprechendem und passendem Farbschnitt und einem Hardcover-Einband mit schönstem Relief. Ein im Großen und Ganzen ausgezeichnetes Werk.

Wäre das hier eine Kurzrezension und würdet ihr nicht noch ein wenig Input zum Inhalt erwarten, wäre der Text nun zu Ende. Doch wie im Roman, der selbstredend auch etwas für Erwachsene ist, die ihrer Fantasie noch nicht den letzten Streich gespielt haben, geht es weiter. Denn in Die Bibliothek der Wahren Lügen reiht sich nicht nur ein Element an das nächste, sondern wir erleben in einer Geschichte über das Schreiben und die Kraft der Imagination, wie eine andere Geschichte entsteht und erzählt wird.

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Wie dann diese Geschichte in die „reale“ Welt wirkt und wie das Reale abstrakt und surreal wird, wie sich alles vermischt und dabei ein Traum zu verschwinden droht. Nämlich jener nach der Wahrheit des eigenen Ichs, der Verlässlichkeit des Selbst. Klingt hart philosophisch (oder alternativ nach Christopher Nolan) und ist es gar irgendwie. Schlussendlich kommt es vor allem darauf an, was wir in diese Geschichte hineinlesen. Ein vierzehnjähriger Junge nimmt sie wohl anders wahr, als ein siebzehnjähriges Mädchen; ein Twink wohl anders als ein Daddy; eine Referendarin wohl anders als eine Rentnerin.

Es geht um gestohlene Geschichten und Bücher. Bücher, die wie Menschen waren und Menschen und Kreaturen, die sich, so sie Geschichten zu erzählen haben, verstecken. Es geht ums Wellenreiten und zu trainierende Muskeln. Um Mut und Angst, Singstimme und Furchtbibbern, Herzen und (deren) Mäuler. Es geht um Vertrauen und Kontrolle, Aufwachsen und Abnabelung, Verlust und Verarbeitung, oder wenigstens das Anerkennen des Verlorenen. Doch auch ums Wiederfinden und Neuentdecken. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne (oder hier der Großvater eines Drachen) und nicht jedem Ende ein Fluch (oder hier... nee, das wäre zu viel). Tür zu und Fenster auf, ihr versteht schon.

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Oskar hat Geburtstag (entweder habe ich nicht notiert, welchen oder es stand nie im Buch, irgendwas um die 12 bis 14 Jahre würde ich meinen) und wird, wie es sich für Underdogs gehört, in der Schule gehänselt. Zuhause läuft es auch nur bedingt besser: Sein Vater ist vor einiger Zeit verstorben, die unterkühlte Frau Mama sitzt im Rollstuhl und ihr neuer Macker, Hektor, ist so die Kategorie Kardinal-Schnauzer. Einzig zwei Dinge sind Lichtblick im Leben des Jungen: Seine kleinere, altkluge, doch sehr unterhaltsame Schwester Bibi und die Bücher über die Abenteuer von Ozymandias Calavera vom Autoren Simon Bruma.

Sie sind zudem, neben einem Anstecker, den Oskar wie einen großen Schatz schätzt, die letzte greifbare Verbindung zum toten Papa. Hat er doch die Geschichten genauso geliebt und sie an den Sohn herangetragen. Entsprechend begeistert ist dieser, als er einen Schreibwettbewerb gewonnen hat (von dem er gar nicht wusste, dass er wirklich teilgenommen hatte – danke, Merkel... äh, Mutti!) und nun für einige Zeit im Sommer zu Gast im Stephen King'schen Anwesen sein darf, um dort an einem exklusiven Schreibkurs teilzunehmen. Zu schön, um wahr zu sein?!?

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Joar... schon etwas. Es stellt sich heraus, dass dieser Bruma Oskar nicht nur in die Kunst des glaubwürdigen Fabulierens einzuweihen gedenkt, sondern dass er auch eine mehr oder weniger versteckte Agenda verfolgt... Der Lügner! In aller Kürze (mehr als drei Absätze zum Inhalt sind eine Studienzusammenfassung): Die eigenwillige Tochter Brumas namens November, vieles an ihr erinnerte mich an Wednesday Addams, ist schwer krank. Die einzige Chance ihrer Heilung liegt nun nicht im Grey Sloan Memorial Hospital, sondern in Oskars Fantasie, in seiner Geschichte. Er muss die Wahre Lüge finden, dies bewaffnet mit Papier und Schreibfeder. Doch Obazda... äh... Obacht! Alles was Vorstellungskraft ist, kann genauso gut wahre Kraft sein und der Zugang in unsere Welt ist für fantastische Wesen leichter, als für Menschen, die „Asyl“ sagen, wie Oskar schnell herausfinden wird...

Huihui, Huibuh und an mancher Stelle Pfuibah! Schreckt Cañadas' Bibliothek der Wahren Lügen doch nicht vor manch dezent grausiger Beschreibung und einigen dramatischen Gerüchen zurück. Dieser Oskar, der sich als erwachsener Mann seiner Kindheit/Jugend erinnert und uns die Geschichte und die Geschichte erzählt, versieht seine Memoiren immer wieder mit „handschriftlichen“ Anmerkungen, die teils vor allem ältere Leser*innen, die sich mittlerweile der eigenen Jugend erinnern, zum Schmunzeln bringen dürften.

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Zusätzlich lernen wir in diesem wirklich gut geschriebenen Buch, das eine*n zügig in den Bann zieht und kaum mehr aus diesem entlassen mag, dass es nicht immer Planetenwechsel, Zeitreisen oder Paralleluniversen sein müssen, um fantastische Geschichten zu sein und die Realität zu verändern. Zwar ist das Ende von Jesús Cañadas' Bibliothek der Wahren Lügen ein wenig chaotisch geraten, so dass, wie ich aus Gesprächen weiß, nicht nur ich es direkt zwei Mal lesen musste. Das allerdings tut dem Genuss dieses fantasievollen und menschlichen Abenteuers keinen Abbruch und schmälert auch die positiven, lebensbejahenden Botschaften der Wahren Lügen nicht.

AS

PS: Natürlich auch eine wunderbare Strandlektüre. Aber: Eincremen, nicht zu lange in der Sonne bleiben und das Buch gut behandeln!

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PPS: Apropos fantastische Welten: Seit dem 3. Juli 2025 ist der erste Teil der zweiten (und leider, leider, leider) schon letzten Staffel von The Sandman auf Netflix verfügbar. Unsere queer review gibt es wohl erst in Kombination mit dem zweiten Teil, der am 24. Juli gedroppt wird.

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Eine Leseprobe findet ihr hier (Opens in a new window).

Jesús Cañadas Die Bibliothek der Wahren Lügen (Opens in a new window); Februar 2025; 304 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN: 978-3-649-64850-5; Coppenrath Verlag; empfohlen ab 11 Jahren; 18,00 €

Topic Belletristik & Literatur

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