MAKE WAR FAIR AGAIN
BILDBAND-KRITIK
„Der Krieg ist aus
Und das was übrig bleibt
Sind wir, die damit leben
Mit der Zeit“
So heißt es am Ende von Romeo & Julia – Liebe ist alles (Das Musical) in dem nach der ersten Zeile benannten Song (geschrieben von Joshua Lange, Peter Plate und Ulf Leo Sommer), der das Musical um die zwei durch ihren Nachnamen und einer ewigen Fehde verfluchten Liebenden beschließt. (Aktuell übrigens als Wiederaufführung im Theater des Westens in Berlin zu sehen.) Da denkt mensch sich doch: Mehr Liebe, weniger Fehde.

Oder auch: LOVE, NOT WAR. So mit Blick auf die aktuelle Weltlage auch der knackige Titel beziehungsweise das einprägsame Motto der 21. Ausgabe der künstlerischen Kult-Anthologie MY GAY EYE/MEIN SCHWULES AUGE. Erschienen im März 2025 im konkursbuch Verlag Claudia Gehrke und erstmals wird Rinaldo Hopf von Co-Herausgeber Johnny Abbate begleitet.
An der Struktur und dem Format der nicht selten mutigen Reihe hat sich damit nichts verändert: Wieder finden sich Fotografien neben Kurzgeschichten, Zeichnungen neben Gedichten, Interviews an Grafiken und manches Mal auch Kunstwerk an Kunstwerk – und alles auch gern umgedreht. Nicht selten bilden Bild und Text hier eine augenscheinliche Einheit (Opens in a new window), an anderer Stelle muss genauer geschaut, gelesen, gedacht werden. Hin und wieder gibt es gar einen Bruch, was verwöhntes Blättern durchaus zu erschweren vermag.

Einige der Bilder sind extra für den Band angefertigt, andere sind historische Klassiker. Manche Storys dafür geschrieben (oder angepasst) und manche Gedichte nur für MEIN SCHWULES AUGE #21 gekünstelt worden, wie etwa jene Rosa von Praunheims (der natürlich auch in Form von Bildern vertreten ist). Nun mag sich manch skeptisch Betrachtendem die Frage stellen: Wird Krieg, ja das Grauen, das Krieg immer impliziert, zu einem Storymuster, einem belanglosen Aufhänger, wird er plakativ ausgeschlachtet? Ein Verkaufsargument? Womöglich gar sexualisiert?

Nein, ganz und gar nicht. Wohin die Reise in diesem mit einem ansprechend und kämpferisch Liebe propagierenden Cover des Düsseldorfer Künstlers Giaco verzierten Band geht, machen die Herausgeber Hopf & Abbate in einem vorangestellten Interview mit Sophie Voigtmann vom konkursbuch Verlag, deutlich:
Sophie: Hattet ihr Bedenken, das Thema könnte zu politisch sein und für Konflikte sorgen?
Rinaldo: Ja, diese Sorge hatten wir tatsächlich. Ursprünglich wollten wir Künstler und Autoren der Konfliktparteien einladen, Ukrainer und Russen, Israelis und Palästinenser […]. Wir haben auch entsprechende Textbeiträge erhalten, uns aber bis auf Ausnahmen dagegen entschieden, sie mit aufzunehmen. Sie waren entweder zu politisch und unpassend für eine erotische Anthologie oder aber plakativ und fragwürdig in ihrer Vermischung von Krieg und Sex.
Daneben gehe es ihnen in dem aktuellen Band aber auch darum, Krieg nicht ausschließlich „als groß angelegte, historische Konflikte, sondern auch als etwas zutiefst Persönliches und oft Unsichtbares“ zu sehen, wie Johnny Abbate im Interview erklärt. Diese, ebenfalls von ihm benannten, „kleinen, aber intensiven Kämpfe, die wir täglich ausfechten – in uns selbst, in unseren Beziehungen und in den Communities“ finden sich in diesem, wie ich meine, sehr besonderen MY GAY EYE zuhauf, ohne dass dadurch eine aufdringliche Lebensratgeber-Message oder derlei vermittelt würde.

Denn, wie Rinaldo sagte, wir haben es noch immer mit einer erotischen und teils sehr (auf)reizenden Anthologie zu tun- Darüber hinaus kann jede*r Mensch sich seine Hilfe zur Selbsthilfe holen, wo es passt. Wir alle haben einen eigenen (hoffentlich wirksamen) coping mechanism. Durch die vierhundert größtenteils eindrucksvollen, vielfältigen und niemals öden Seiten von LOVE, NOT WAR zu blättern ist in jedem Fall ein solide Strategie, sich bei manch hintergründigem und ernsthaftem, ja womöglich verstörendem, Inhalt doch abzulenken. Oder wenigstens einmal den Tagesthemen-Ronzheimer-NTV-Blick hinter sich zu lassen.
Das mag bei den ersten Fotografien Slava Mogutins mit Moskauer Model, Schwanz und Arsch in Tarnfleck gepaart mit Gedichten, die Titel wie „Satan Youth“ oder „Death by 1000 Cuts, or The Rise of the Millennials“ zunächst gewöhnungsbedürftig scheinen. Doch fallen wir schnell in dieses Misch-Universum aus traumwandlerischer Erotik, Gedanken zerrenden und Verlangen zehrenden Geschichten und Gedichten.

Jener Text etwa, in dem Dino Heicker die Schilderungen des jüdischen Schriftstellers Kurt Münzer (1879 – 1944) über eine erotische Episode von Soldaten im Ersten Weltkrieg zitiert und zeithistorisch einordnet und wunderbar korrespondiert mit den expliziten Collagen Marc Lippuners. Stephen S. Mills „Frage: Was ist mit Fremden?“ und der ausführlichen Antwort über Sex-Orte, Verlangen und ein 800-Dollar-Parfüm und fügt sich auf sehr menschliche Weise zu Franko Marias „Wow! That‘s even Better“. Holger Wichts berührendes, offenes, eigentümlich düster strahlendes „Geliebter Russe“ (mitsamt der Feststellung, dass Papierkram eine andere Art von Terror sei). Wir begegnen einem erwachenden Taurus voller STEAM und spalten einen Torso, ganz ohne Jeffrey Dahmer und weit nachvollziehbarer als vermutet, nun könnt ihr antizipieren, was da vor sich geht. Aber nicht zu weit gehen, sonst ist's vorbei.

Die Fragen nach Dirty Talk in einer besonderen Form (Himmel!) und einem speziellen Eindringen in Nationalstaaten stehen so im Raum, wie am „Big Hole River“ alles steht und tropft (ein Auszug aus dem Roman Peter Schutes' kombiniert mit den einzig passenden Bildern). In krassem Kontrast steht RidBastardos poetisch „Verbrannte Erde“, die wie eine Erweiterung zu Wichts Text klingt. Schließlich fordert der Schriftsteller Jens Rosteck uns auf, sich eine Welt ohne Soldaten vorzustellen. Nach der Lektüre seines geilen, verspielten und doppelbödigen Friedens-Manifests für eine offene Welt, will mensch zustimmen: „it isn't hard to do“
Beeindruckend durchdacht und doch treffend natürlich auch Gedichte wie „Mundschenk“ von Reiner Narr, in dem wir diese fantastischen Worte lesen:
„IN MEINER KEHLE GERINNT
DER BALSAM DER NACHT“
Die folgenden Aquarellzeichnungen Martin Dieudonnes fügen sich perfekt. Nicht minder jene von The Male Muse, die größte Lust auf einen soliden Chill and then some machen. Nach dieser Nacht oder den Tagen räusper geht es raus in die Natur mit Richard Kranzins von uns geschätzten Schwarz-Weiß-Fotografien dreier Jungs, die sich näher, träumerisch und anziehend kennenlernen. (Die Fotos sind Teil des Fotobandes THREE OF US, Salzgeber Buchverlag, den wir begeistert besprochen hatten. Text ist bald wieder verfügbar – siehe unten: „In eigener Sache“.) Die psychedelisch-rauschhaften Zeichnungen (Opens in a new window) Armin Scheids sind neben Texten von Michael Biello ein gelungener Übergang zu den als Gedichte aufbereiteten Songtexten Erik Leuthäusers „Schiff ohne Kapitän“ und „F_ck doch“. Dass wir den geistreichen Leuthäuser auf drei Fotografien in von David Mesa bestens ausgeleuchteter sowie Jürgen Thomas solide angeordneter Pose sehen, ist so sinnvoll wie sinnlich.

Gefolgt von aggressiv-gefühlvoller Wort- wie Bildkunst Johnny Abbates sowie Klassik neu interpretiert treffen Bilder Heiko Jansens und Brad Fairchilds auf Gedichte von Mario Wirz und Walt Whitman. Fedya Ili zeigt Männeransichten vor (zumindest teils) Moskauer Stadtansichten, Wolfgang Tillmans lässt mega realistisch auf Fire Island, New York, planschen und Benjamin Frederickson nimmt uns farblos, aber energiegeladen mit zur Folsom Street Fair. Derweil es bei Dimosthenis Prodromou und Tristor Blue figurativ-plastisch zugeht. Bei Peter Dubina bleiben wir im Unklaren, während die aggressive Skin-Punk-Cum-Food-Antifa-Message bei Andy Warlord umso deutlicher hervortritt.

Zu großen Highlights zählen übrigens das Gedicht „Soldiers in Photographs“ von Steve Reigns neben einer entsprechenden Zeichnung von Rinaldo Hopf. Der wiederum ein wirklich wichtiges, im Grunde viel zu kurzes Gespräch – „1981 versus 2025“ – mit JD Doyle geführt hat, in dem es um Meilensteine und Steine im Weg geht, die Frage, ob die soziale Entwicklung bis zum Coming-out blockiert ist und, natürlich, Mister Orange, DJT. Die Werke Hopfs, die den nicht immer glänzenden Spirit der Stonewall Riots einfangen, gehören quasi so zwangsläufig zum Text wie Lars Deike zu MEIN SCHWULES AUGE.

Verliebt hab ich mich in die Bilder von Pancho Assoluto, Sabatino Cersosimo, Yves Brabander und vor allem Łukasz Lejas, die augenzwinkernd, verspielt, ironisch, greifbar und teils auch als social comment schlicht on point sind. Dann wiederum ist beinahe jede hier gezeigte Bildkunst, ob nun Collage, Fotografie, Zeichnung oder Comic (etwa der wiederentdeckte Porno-Comic „Zeno“ von Thor of Sweden, Schnipsel von Ed Firth, LINK, der an Tom of Finland erinnert, oder Oat Montiens Bilder, die wie Entwürfe einer zügellosen Cowboy-Geschichte daherkommen), als Kommentar zu lesen. Und sei es „nur“ einer gegen die Prüderie und den alltäglichen Krieg.

„Viele queere Menschen erleben Krieg als einen Kampf um Akzeptanz und gegen Diskriminierung oder auch als einen verinnerlichten Konflikt zwischen Begehren und gesellschaftlichen Erwartungen. In diesem Sinne ist Krieg alles, was Spaltung, Kontrolle oder Gewalt bewirkt, sei es physisch oder emotional.“
Nun lassen sich schwer alle der rund 70 internationalen Künstler erwähnen (auch wenn ich es beinahe geschafft hätte). Gesagt sei, dass dieser 21. Band von MY GAY EYE/MEIN SCHWULES AUGE in Text und Bild wunderbar divers, offenherzig, in gesundem Maß ernsthaft wie spielerisch, nachdenklich wie versaut daherkommt. Und Sex mit Hirn ist so verkehrt ja auch nicht. Also im übertragenen Sinne natürlich.

Der Krieg ist nicht aus (Opens in a new window). Viel eher müssen wir uns für neue kriegerische Auseinandersetzungen und mehr mit Waffen ausgetragene Konflikte wappnen. Sollten endlich die Scheuklappen abnehmen und verstehen, dass wir Frieden sicherlich nicht durch immer mehr Zugeständnisse an zaristisch denkende Despoten wie Putin erreichen (das geht an euch, liebe verblendete Stegner-Manifester*innen). Dennoch soll diese queer review mit einer schönen Utopie aus MY GAY EYE #21 – LOVE, NOT WAR schließen:
„Weil auch Männer aus anderen Ländern schöne, fremde Schwänze haben. Weil man gerade beim Liebemachen Menschen wie Menschen behandelt. Weil körperlicher Angriff die beste Verteidigung darstellt.
Und Feinde? Feinde gibt es für uns nicht.
Nur lauter geile Typen.“
- Jens Rosteck, „Imagine there‘s no soldiers it isn‘t hard to do“, S. 318 ff.
In diesem Sinne: Te Quiero.

AS
PS: „Please Master“ von Allen Ginsberg ist schon arg geile Wortakrobatik.
IN EIGENER SACHE: Da unser reguläres Online-Magazin noch immer nicht wieder am Start ist, veröffentlichen wir vorerst hier. Mehr dazu lest ihr in unserem Instagram-Post (Opens in a new window) oder auf Facebook (Opens in a new window).

Rinaldo Hopf, Johnny Abbate (Hg.): My Gay Eye/Mein schwules Auge 21 - Love, Not War (Opens in a new window); März 2025; 400 Seiten, zahlr. Abb.; Fadenheftung; ISBN: 978-3-88769-929-1; konkursbuch Verlag; 24,00 €