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Die rohe Gesellschaft

Warum Rücksichtlosigkeit und autoritäre Aggression heute wieder zunehmen.

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Viele Menschen haben den Eindruck, dass unsere Welt unsicherer und rücksichtsloser wird. Nun muss man bei „Eindrücken“ immer sehr vorsichtig sein, denn oft stützen sie sich nicht auf Erleben, sondern sind von jenem „Schwund genuiner Erfahrung“ gekennzeichnet, den Soziologen schon vor hundert Jahren analysierten. In Mediengesellschaften kriegen wir Dinge scheinbar mit, die wir gar nicht mitkriegen. Morde und andere Tötungsdelikte nehmen in den vergangenen 25 Jahren markant ab. Gab es rund um das Jahr 2000 in Österreich noch durchschnittlich 100-120 mal Mord, Totschlag und ähnliches, haben wir uns in den letzten Jahren bei rund 70 eingependelt. Auch viele andere Arten von Kriminalität nahmen ab, aber andere sind wieder im Wachsen begriffen. Die allgemeine Gewaltkriminalität von Schlägereien, Messerstechereien bis Raub – sie sind leicht angestiegen. Von rund 70.000 Anzeigen vor zehn Jahren auf rund 85.000. Zahlen aus Deutschland weisen wiederum darauf hin, dass Gewaltkriminalität generell und Gewaltkriminalität unter Einsatz von Messern in den vergangenen zwanzig Jahren eher konstant geblieben sind. Zugenommen hat nur die Berichterstattung um das 250fache.

Dennoch haben viele Menschen den Eindruck, es werde in unserer Gesellschaft brutaler. Wilhelm Heitmeyer, einer der bedeutendsten deutschen Soziologen, spricht von einer „durchrohten Gesellschaft“, also, dass es rauer wird, dass die Rücksichtslosigkeit zunimmt. Die These lautet, dass viele Menschen schon vollgepumpt mit Aggression durch den Alltag gehen und das rauslassen, sobald ihnen irgendetwas gegen den Strich geht. Man kann das schwer messen, denn es gibt natürlich keine Statistiken oder Protokolle darüber, ob man bei der Supermarktkasse angeblafft, am Parkplatz von jemanden blöd angeschnauzt wird und ob das häufiger vorkommt als früher.

Politiker und Politikerinnen werden heute viel häufiger Opfer von Übergriffen als früher. Sie brauchen oft Personenschutz. Selbst Hilfsorganisation wie Rettung und Feuerwehr sind Aggressionen ausgesetzt. Dominanzverhalten, autoritäre Aggression, Drohungen, männliche Aufgeblasenheit, all das kann heute zunehmen. Man weiß es nicht genau, aber es gibt auch genug Indizien dafür, dass das so ist. US-Studien haben gezeigt, dass Empathie, also das Einfühlen in den Andere, und die Fähigkeit und Bereitschaft, mit den Augen der Anderen zu sehen, deutlich abgenommen haben. Egoismus, Ichbezogenheit, Narzissmus, all das habe zugenommen, so lautet die Behauptung. Das Gesamtbild ist widersprüchlich, wenn wir ehrlich sind und nicht selbst schon in den Erregungsmodus von „alles wird schlechter“ reinfallen wollen.

Das Breitbeinige, das Einschüchtern, das Drohen, es ist heute aber wieder viel häufiger und wird von ganz oben herab praktiziert, man denke nur an Donald Trump. Die aggressive Gewaltsprache, sie wird von skrupellosen Politikern verbreitet, die sich einen populistischen Vorteil davon erwarten, und die damit das Klima vergiften. Die Dinge grell in Schwarz/Weiß darstellen, das ist das Geschäft vieler Medien, die wissen, dass sie unsere Aufmerksamkeit am besten bekommen, wenn wir uns empören. Und in der Gesellschaft als ganzes hat man uns eingeredet, dass ein Kampf Aller gegen Alle tobt, Solidarität nichts ist, auf das man sich verlassen kann. Oft ist das auch die Lebenserfahrung der Leute, die dann sagen: „Ich kümmere mich nur mehr um mich selbst“. Menschen gehen mit Angst durchs Leben. Und mit den Sozialen Medien, ihrem Herdentrieb, ihren Hang zur emotionalen, schnellen Erregung, ihrer Missgunst, mit dem Willen, alle vorsätzlich misszuverstehen, haben wir eine Art von Öffentlichkeit hergestellt, in der sehr schnell Pogromstimmung um sich greift.

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