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Gefühlsansteckung im Menschenhaufen

Sigmund Freud analysierte 1921 (!) den aufkommenden Faschismus. Es liest sich, als wäre es heute geschrieben.

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Das verhetzte Individuum fällt nicht vom Himmel, es wird gemacht. Die erst allmähliche, nun rasante Verschärfung vom Rechtspopulismus über den Rechtsextremismus und zum Neuen Faschismus ist Resultat psychologischer Effekte. Agitatoren ganseln die Leute auf, die medialen Ökosysteme aus Krawalljournalismus, Social Media und Pseudomedien schüren niedrige Affekte, indem die Individuen unablässig mit empörenden und erregenden Nachrichten beschossen werden. Heute geschieht das permanent, stündlich, minütlich – ein Vorteil, etwa gegenüber dem „Völkischen Beobachter“, der bekanntlich ja nur einmal täglich erschien.

Die sogenannten „Konsumenten“ dieser Agitation sind einerseits Opfer, weil sie in die Fänge dieser Leute geraten, wie Sektenmitglieder in die Herrschaft von Gurus, andererseits auch Täter – weil sie dabei willig mittun. Sie werden in eine Raserei versetzt, zynisch, grausam und destruktiv. Alle Minuten werden die niedrigsten Instinkte gekitzelt. So wird eine verhetzte Meute hergestellt.

Herberts willige Vollstrecker

Anders als beim alten Faschismus sind die Anhänger keine stockende, kompakte Masse, die etwa einer Führer-Rede lauscht, oder die in Reih und Glied bei Aufmärschen mitmacht, sondern etwas seltsames: Individualisiert, eher vereinzelt, oft sogar vereinsamt vor dem Computer oder am Smartphone, und zugleich auch Masse, auf die eingewirkt wird und die wiederum zurückwirkt, durch Postings, Kommentare, die sich stets in ihrer Schrillheit aufschaukeln und überbieten.

So ist die Masse nicht nur von den Agitatoren und Propagandisten getrieben, sie wirkt auf die Anführer zurück, treibt auch diese an zur Selbstradikalisierung und dem Überbietungswettbewerb. Selbst ein Kickl oder Trump ist insofern nicht völlig Herr im eigenen Haus. Die Geister, die er rief, nehmen auch von ihm Besitz.

Der Psychologe Markus Brunner schreibt in seiner eben erschienenen „Sozialpsychologie des Autoritären“ von einer Verhärtungsdynamik, dem Herbeifantasieren der „angeblichen Machenschaften der Feinde“, dem berüchtigten Verschieben der Grenzen des Sagbaren, also der Ent-Zivilisierung und Brutalisierung. Menschen werden ummontiert, umformatiert, aber sind selbst beteiligt an ihrer Verwandlung zu einem schlechteren Selbst. In der Massenhysterie wird die rechte Anhängerschaft zu einer lärmenden Masse, die selbst noch einmal wechselseitig aufeinander einwirkt, wodurch sich bei ihren „Anhänger:innen die autoritären Bedürfnisse verstärken“ (Brunner).

Selbst anständige Leute, die bloß aus Protest zur Anhängerschaft werden, werden im schlimmsten Fall ein verhärtetes faschistisches Weltbild entwickeln.

Es ist unglaublich, wie aktuell sich heute noch Sigmund Freuds kurze Schrift „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ liest, ein Text von 1921 (!). Der Sozialtheoretiker Theodor W. Adorno hat Freud später attestiert, „in rein psychologischen Kategorien das Heraufkommen und die Natur faschistischer Massenbewegungen klar voraus“ gesehen zu haben. Das war keine Kleinigkeit, da Freud, der große Erforscher des Unbewussten und Vater der Psychoanalyse, ja wie jeder Psychiater primär das Individuum im Blick hatte und dessen Heilung. Dabei geht es einmal zunächst gar nicht um gesellschaftliche Prozesse. Die Individualpsychologie nimmt den Einzelnen unter die Lupe, will seine Neurosen oft sogar heilen. Die Massenpsychologie wiederum nimmt unter die Lupe, wie Einzelne aufeinander reagieren, oder auch auf gesellschaftliche Zwänge. Das trägt zum Verständnis bei, aber nicht direkt zur Gesundung, ist aber unverzichtbar für Gesellschaftsanalyse.

Unglaublich aktuell: Freud über Massenpsychologie

Aber „der Gegensatz von Individual- und Sozial- und Massenpsychologie“ in Wirklichkeit gar keiner, stellt Freud gleich eingangs fest, da im Seelenleben des Einzelnen ja auch unsere Beziehungen eine Schlüsselrolle spielen. Es gibt kein Ich ohne die Anderen, keine Kaputtheit, die nicht von Anderen mitbewirkt ist, von Mama, Papa, Pornhub oder fiesen Lehrern. Kurzum: Keine individuelle Gestörtheit, in die das Soziale nicht verwickelt ist.

Freud reagiert in seiner Arbeit von 1921 auf die Studie „Psychologie der Massen“ von Gustave Le Bon. Dabei gibt er Le Bon über weite Strecken recht, etwa wenn er auf die „überraschende Tatsache“ verweist, dass das „Individuum unter einer bestimmten Bedingung ganz anders fühlt, denkt und handelt, als von ihm zu erwarten stand, und diese Bedingung ist die einer Einreihung in eine Menschenmenge“. Menschen, die interagieren, schaukeln sich auf, dann beobachten wir eine „Veränderung, die sie dem einzelnen aufnötigt“. Freud spricht von einer „Kollektivseele“, die entsteht, so dass sich alle anders verhalten, als jedes Individuum auf sich alleine gestellt „fühlen, denken und handeln“ würde.

Der Urvater der Psychoanalyse sieht dafür eine Reihe von Ursachen. Etwa würde die Triebhemmung ausgesetzt, die wir als Einzelne im Normalfall haben. Eine Verantwortungslosigkeit breitet sich aus, bis das „Verantwortungsgefühl … völlig schwindet.“ Auch Empathie oder normale menschliche Reaktionen gehen verloren, Freud spricht vom „Schwinden des Gewissens“. Die Masse verleiht auch ein Gefühl von Macht, sodass natürliche Hemmungen verloren gehen. Dafür reicht schon das Empfinden, eine große Zahl Gleichgesinnter auf der eigenen Seite zu haben. Ein weiteres wichtiges Element ist „die Ansteckung“, deren der „Mensch nur als Massenbestandteil fähig ist“. Freud spricht von „Gefühlsansteckung“. Die Affekte Anderer werden auf uns übertragen, wenn wir Teil einer Masse sind. Heute spricht man ganz generell im Gesellschaftlichen (von der Mode bis zu „Trends“ bis zu den gängigen Verrücktheiten einer Zeit) von „sozialer Ansteckung“. Es gäbe auch eine „Suggestibilität“, wie Freud das nennt, dass also ein Verhalten nahegelegt wird, etwa durch das hundertfache Vorbild anderer oder durch die stetige Wiederholung von Propaganda, oder einfach durch Verführung.

Die furchtbarsten Auswirkungen dieser Massenpsychosen erlebt man bekanntlich bei Pogromen.

„Furchtbarste Stürme der Massenseele“

Freud weiter: „Selbst zu allen Extremen geneigt, wird die Masse auch nur durch übermäßige Reize erregt. Wer auf sie wirken will, bedarf keiner logischen Abmessung seiner Argumente, er muss in den kräftigsten Bildern malen, übertreiben und immer das gleiche wiederholen.“ Die Masse unterliegt der „wahrhaft magischen Macht von Worten, die in der Massenseele die furchtbarsten Stürme hervorrufen“, wobei „das Irreale … stets den Vorrang“ vor dem Realen“ hat, denn in der „Seelentätigkeit der Masse (tritt) die Realitätsprüfung zurück gegen die Stärke der affektiv besetzten Wunschregungen“. Soll heißen: Die Vernunft wird ausgeschaltet, noch der größte Irrwitz geglaubt. Kennt man: völlig fanatische FPÖ-Anhänger leben in einer totalen Parallelwelt, die mit der Wirklichkeit nur mehr entfernt verwandt ist.

Die Masse, formuliert Freud unübertroffen, „kennt also weder Zweifel noch Ungewissheit“, jeder „Keim von Antipathie wird zum wilden Hass“. Das soziale Tier Mensch wird im engen Wechselspiel mit anderen von „Herdentrieb“ und „Herdeninstinkt“ beherrscht, ist „eine folgsame Herde“. Die Menge ist aber nicht nur knetbare Masse in der Hand der Agitatoren – also selbst bloßes Opfer der Gehirnwäsche, der sie unterzogen wird –, sondern wirkt durch die gesteigerten Affekte wiederum zurück und wechselseitig auf die anderen Individuen der Masse ein, in einer Form der „Erregung der Anderen“ (Freud), was die heutige nicht unamüsante Tatsache erklärt, dass die erregten Brüllaffen im Internet sich für eigenständige Individuen halten und sogar glauben, sie wären Vorkämpfer von „Freiheit“ und „Selberdenker“, während sie in Wirklichkeit fremdgesteuerte Chorsänger in einer gleichgeschalteten Masse sind.

Verleitet zum Bösen

All das führt dazu, dass beim Individuum „sein früheres ‚Gewissen‘ außer Kraft“ gesetzt wird, und wir „den einzelnen in der Masse Dinge tun oder gutheißen sehen, von denen er sich unter seinen gewohnten Lebensbedingungen abgewendet hätte“. Was Freud für physische Ansammlungen, also „Menschenhaufen“ beschrieb, gilt ganz offenbar auch für die digitale Massenexistenz, die nur medial verbunden ist.

Sigmund Freud, dieser Gigant der Erforschung des menschlichen Seelenlebens, schrieb das gut neunzig Jahre vor Erfindung des World Wide Web. Er wusste nichts von Facebook. Er hatte keine Ahnung, dass Elon Musk Twitter einmal in ein Drecksloch verwandeln würde. Donald Trump, Herbert Kickl, Alice Weidel und deren Anhängerschaft aus einem Mob mit Meinung waren noch nicht einmal geboren.

Ganz gewiss hätte ihn nichts von all dem überrascht.

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