Zwischen Märchen und Macht: wie Nationalismus wirkt

Hallo,
diese Woche haben wir eine etwas andere Ausgabe vorbereitet! Oder besser: Ralf hat sie für euch vorbereitet.
Ralf Grabuschnig ist Historiker und Autor und bringt seit kurzem den Newsletter “Geschichtshappen (Opens in a new window)” raus, in dem er einmal wöchentlich in Snackform über die Vergangenheit schreibt.
Viel länger aber podcastet er schon: In “Deja-vu Geschichte (Opens in a new window)” nimmt er sich in aufwendig recherchierten Serienformaten historischen Themen an, die helfen sollen, die Welt von heute zu verstehen.
Eine dieser Serien hat er über Nationalismus gemacht und deshalb baten wir ihn, für uns einen Gastbeitrag darüber schreiben.
Was dich heute erwartet: ein fundierter, aber leicht zugänglicher Überblick darüber, wie Nationalismus entstanden ist, warum er bis heute wirkt und weshalb seine “Normalität” so gefährlich sein kann. Ralf zeigt, welche Narrative den Nationalismus geprägt haben und warum rechte Bewegungen so leicht daran anknüpfen können.
Und wenn dich das Thema darüber hinaus interessiert, dann hör in die zugehörige Podcast-Serie (Opens in a new window) rein: In mehreren Folgen geht Ralf den historischen Wurzeln des Nationalismus tiefer auf den Grund, zeigt die Mythen und beleuchtet Gemeinsamkeiten, aber vor allem die unterschiedlichen Erzählungen verschiedener Nationen.
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Nationalismus.
Das ist ein böses Wort, und wir reservieren es üblicherweise auch für böse Dinge. Die Nazis waren Nationalisten. Die Jugoslawienkriege waren Ausdruck von Nationalismus. Diese Leute in der AfD - das sind Nationalisten.
Was wir dabei aber übersehen, ist, dass unsere gesamte Welt aufgebaut ist auf dem Nationalismus. Die Unausweichlichkeit des Nationalstaats ist für uns alle längst selbstverständlich, und wir gehen davon aus, das wäre schon immer so gewesen. Wir gehen davon aus, dass Nationen natürlich sind.
Nur: Das sind sie nicht! Nationen und nationale Identität sind eben keine Naturphänomene, sondern eine Erfindung der Moderne - eigentlich erst der letzten 200 Jahre. Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg bilden sie aber doch die Grundlage unserer politischen und gesellschaftlichen Welt, und daher heißt es auch: aufpassen.
Denn wenn wir Nationalismus nur auf seine heißen Phasen oder besonders radikalen Erscheinungsformen beschränken, vergessen wir diesen alltäglichen Nationalismus um uns herum - die Normalität der Nation. Auch das ist Nationalismus, und er kann somit ganz schnell in Ausgrenzung und Gewalt umschlagen, wie er es in der Vergangenheit immer wieder getan hat.
In einer Serie für meinen Podcast Déjà-vu Geschichte (Opens in a new window) habe ich mich Anfang des Jahres tiefergehend mit Nationalismus, der Entstehung von Nationalstaaten und den damit verbundenen Mythen beschäftigt. Dabei bin ich auf einige Narrative gestoßen, die in so gut wie jeder Nationalbewegung der Geschichte eine Rolle gespielt haben.
Aber für “Wie Rechte reden” noch wichtiger: Es sind Narrative, die auch heute fortleben, wirkmächtig bleiben und damit den Nationalismus auch im 21. Jahrhundert weiter festigen und legitimieren. Werfen wir einen Blick auf diese Narrative.
🧱 Die Nation ist alt oder existierte gar schon immer
Das ist die zentrale Lüge des Nationalismus und gleichzeitig sein zentraler Widerspruch.
Wie der Politikwissenschaftler Benedict Anderson die Natur des Nationalismus einmal beschrieben hat: Die Erfindung der Nation wird vergessen, die Zugehörigkeit zu ihr erinnert.
Diese Erfindung der Nation begann dabei erst im 18. Jahrhundert. Zu der Zeit hätte eine durchschnittliche Bäuerin im heutigen Deutschland noch kaum eine Antwort auf die Frage gehabt, zu welcher Nation sie denn gehöre. Zugehörigkeit war in Europa bis dahin vollkommen anders gedacht. Man zählte sich zu einem Dorf, zu einer Grundherrschaft oder einer Region. Im ganz Großen vielleicht noch zum Christentum.
Und ohne die größeren Entwicklungen der Moderne wäre der Nationalismus auch kaum entstanden und auch gar nicht nötig gewesen. Erst als die sich zentralisierenden und modernisierenden Staaten Europas begannen, bürokratische Verwaltungen und stehende Armeen aufzubauen, standen sie vor dem Problem:
Sie benötigten eine einheitliche Staatssprache und in dieser Sprache geschulte Beamte, um all das effizient abzuwickeln. Ein staatliches Schulsystem musste her, und mit ihm eine nie dagewesene Vereinheitlichung über gesamte Staaten hinweg, deren Regionen vorher - abgesehen vom gemeinsamen Herrscher - oft wenig miteinander teilten.
Das war der erste Schritt hin zur Nation. Erst in einem zweiten begannen ab dem 19. Jahrhundert einzelne Intellektuelle der Romantik, aus dieser meist auf Sprache basierenden neuen Zugehörigkeit eine uralte Konstante zu basteln. Es ist die Zeit der Gebrüder Grimm, die “deutsche” Märchen zu sammeln beginnen. Es ist die Zeit, in der Wilhelm Tell zu einer Schweizer Nationallegende aufgebaut wird.
Die Folgezeit ist dann geprägt von einer sich stetig verstärkenden Eigendynamik. Tageszeitungen festigten im 19. Jahrhundert zum Beispiel das junge Nationalbewusstsein weiter. Allein durch die Sprache, in der sie geschrieben wurden, und die Gebiete, die sie behandelten, machten sie die Nation greifbarer. Feiertage, Flaggen und Hymnen, Nationalteams und Co. erledigten sozusagen den Rest.
Das Ergebnis nach 200 Jahren dieser Dynamik? Die eigentlich noch gar nicht so weit entfernte Erfindung der Nation wurde vollkommen vergessen. Unserer Zugehörigkeit zu ihr sind wir uns dagegen sicher.
🧩 Die Nation ist eine Einheit
Kann man diese unhinterfragte Zugehörigkeit zu einer Nation dann aber erst einmal voraussetzen, entstehen mit der Zeit noch weitere Narrative und Ideen.
Denn wenn die Nation selbst uralt ist, dann bedeutet das auch, dass es schon immer Menschen hier gab, die zu dieser Nation gehört haben. Sie alle - und auch wir, die wir uns heute zu dieser Nation zählen - bilden also eine Einheit. Eine Volksgemeinschaft über Zeit und Raum hinweg. Vertikal und horizontal.
Die daraus folgenden Probleme sind einigermaßen offensichtlich:
Denn wenn man eine Nation so definiert, ist die Integration von Neuankömmlingen nur noch schwer denkbar und eigentlich unerwünscht. Sie mögen zwar horizontal zur Nation gehören - also neben “uns” leben. Aber sie können nicht vertikal dazugehören. Sie haben schließlich nicht dieselben Vorfahren wie “wir”.
Was uns dann auch zum dritten Narrativ bringt:
⚔️ In- und Outgroup
Und das ist vielleicht die gefährlichste Eigenschaft des Nationalismus. Auf Basis dieses immer exklusiveren Verständnisses der Nationszugehörigkeit entstehen nämlich auch klar definierte Gruppen.
Einerseits sind da “wir”. Wir sind diejenigen, die sich mit einer Nation als Mythos identifizieren und uns horizontal wie vertikal als Teil von ihr sehen. All diejenigen, die nicht in dieses Bild passen, sind per Definition “die anderen”.
In der Sozialpsychologie wird das als die Bildung von Ingroup und Outgroup bezeichnet. Es ist eine psychologische Tendenz und findet in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen statt - nicht nur in der Nation. Auch Klasse, Hautfarbe oder der bevorzugte Fußballclub können Grundlage zur Bildung von Ingroups und Outgroups sein.
Aufgrund seiner Größe, seiner Verwebung mit einem oft mächtigen Staat und seiner tiefen Mythologisierung ermöglicht der Nationalismus aber die gefährlichste Form der Gruppenbildung. Und die potenziell tödlichen Folgen davon haben wir in der Geschichte auch immer wieder gesehen: Ausgrenzung und Benachteiligung bis hin zu Entmenschlichung, Verfolgung und Vernichtung.
🚨 Und genau da liegt die Gefahr.
Aufgrund der Tatsache, dass wir alle die Erfindung der Nation vergessen haben und sie über die vergangenen zweihundert Jahre zur unhinterfragten Normalität wurde, bietet sie auch heute noch riesiges Mobilisierungspotenzial. Nationale Narrative sind so tief verankert, dass populistische und rechtsextreme Bewegungen sie mit wenig Aufwand bespielen können. Die Legitimation von politischen Forderungen mit Bezug auf das “Wohl der Nation” wirkt dadurch oft wie Common Sense.
Umso wichtiger ist es, genau dieses angebliche “Normal” der Nationszugehörigkeit als das zu entlarven, was es ist: eine historische und gesellschaftliche Entwicklung, die auch anders hätte kommen können, die es nicht schon immer gab - und die es auch nicht für immer geben wird.
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