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Wir müssen reden

Consent-Debatte in den Niederlanden

Eine von zehn Studentinnen in den Niederlanden erlebt an der Universität sexualisierte Gewalt. Gegenmaßnahmen und konkrete Pläne, dagegen vorzugehen, suchte man lange vergeblich. Doch nun scheint sich etwas zu bewegen. Auch aufgrund von Betroffenen wie Claudia Dictus, die die Sache selbst in die Hand nehmen.

Zusammenfassung

In den Niederlanden erlebt jede zehnte Studentin sexualisierte Gewalt – Claudia Dictus macht ihre Erfahrung öffentlich und gründet die Initiative „Our bodies our voice“, um Consent an Universitäten sichtbar zu machen und Prävention durch Aufklärung, Theater und Trainings selbst in die Hand zu nehmen.

Von Sarah Tekath, Amsterdam

Dass es keine Hilfe gibt, merkt Claudia Dictus erst, als sie diese Hilfe dringend gebraucht hätte. Die junge Niederländerin ist im ersten Semester an der Universität in Amsterdam und will mit Freund*innen ihren 18. Geburtstag in ihrem Zimmer im Wohnheim feiern. Da ist auch dieser Typ, den Dictus eigentlich nicht kennt, aber er ist mit jemand anderem aus der Gruppe befreundet und bringt Getränke mit, also ist es wohl okay. Doch als es spät wird und schließlich nur noch er bei ihr auf dem Zimmer ist, ist plötzlich gar nichts mehr okay. 

In den Tagen danach versucht die junge Studentin, Hilfe zu finden und sucht nach Ansprechpartner*innen für sexualisierte Gewalt. Aber einen richtigen Plan für solche Fälle scheint es nicht zu geben. Sie wird von Verantwortlichen auf dem Campus an die Polizei verwiesen, die schicken sie weiter zu Ärzt*innen und zu einem Zentrum mit Expert*innen für sexualisierte Gewalt.

„Ich habe mich sehr allein gelassen gefühlt und erst nach sechs Monaten Hilfe bekommen“, sagt Dictus heute. „Es war klar, dass niemand so genau wusste, was sie mit mir und der Situation anfangen sollen.“ Also beschließt die junge Frau, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie will über Consent reden und das Kommunizieren von persönlichen Grenzen.

Mehr Infos

An dieser Stelle ein kurzer Exkurs: Obwohl es natürlich das deutsche Wort Einverständnis gibt, hat sich mittlerweile in feministischen und rechtlichen Diskursen der Gebrauch des englischen Wortes etabliert. Dafür gibt es mehrere Gründe, unter anderem, dass „consent“ auch den Kontext der Situation und den (möglicherweise bisher etwas zu bürokratisch verstandenen) Prozess einer Einverständnisgabe in Augenschein nimmt. 

Consent besprechbar machen

„Ich habe klein angefangen. Mit Workshops für meine Freunde in meinem Studi-Zimmer“, sagt Dictus. 2019 gründet sie die Organisation „Our bodies our voice (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)“, zusammen mit Kommilitoninnen, die ebenfalls Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt machen mussten. Ihr Ziel ist es, derartige Übergriffe zu verhindern und eine Kultur des Einverständnisses an niederländischen Universitäten zu schaffen.

Die Workshops richten sich sowohl an Lehrpersonal und Mitarbeitende als auch Studierende. „Niederländische Studierende glauben oft, dass sie ganz genau wissen, wo ihre Grenzen liegen und sehen andere entsprechend auch in der Verantwortung, ihre eigenen Grenzen zu kommunizieren. Wenn die Person das nicht macht, dann ist sie halt selbst schuld, so denken viele“, erklärt sie. 

„Our bodies our voice“ will ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Consent mehr ist als „Nein heißt Nein“ und nur „Ja heißt Ja“. Im Verständnis der Organisation ist es eher ein kontinuierlicher Dialog. Darum werden in den Workshops verschiedene Aspekte von Zustimmung beleuchtet – zum Beispiel im Hinblick auf Machtverhältnisse oder den Zustand der Person. Auch sei es wichtig, zu verstehen, dass eine einmalige Einwilligung kein Freifahrtschein ist und dass gegebener Consent auch jeder Zeit wieder entzogen werden kann. 

Eine von zehn Studentinnen

Im Jahr 2021 führte das Forschungsinstitut „I & O Research“ im Auftrag der Menschenrechtsorganisation „Amnesty International Niederlande“ eine Studie durch, mit folgendem Ergebnis: Eine von zehn Studentinnen – elf Prozent – erlebt während ihrer Studienzeit sexuelle Penetration ohne ihre Zustimmung. Auch bei einem Prozent der Männer war dies der Fall. Die meisten Studierenden wissen nach Angaben der Erhebungen nicht, wo sie an ihrer Hochschuleinrichtung Hilfe bekommen können.

Wie extrem frauenfeindlich die Stimmung in manchen Studierenden- bzw. Studenten-Verbindungen in den Niederlanden sein kann, zeigt ein Fall aus dem Sommer 2022. Beim sogenannten „Herren-Dinner“ des Amsterdamer Corps A.S.C./A.V.S.V bezeichneten mehrere Teilnehmer Frauen unter anderem als „Sperma-Eimer“.

Videos der Beschimpfungen wurden in den Sozialen Medien geleakt, eine Studentin erstattete Anzeige. Im darauffolgenden Jahr gab die Staatsanwaltschaft bekannt, dem Vorfall nicht nachgehen zu wollen, da keine strafrechtlich-relevanten Faktoren vorlägen.

Auf der Webseite der Universität Amsterdam (UvA) wird vom „Central Diversity Office“ die Initiative „Care“ beworben, die einen Safe Space bieten soll – also einen sicheren Ort, sowohl körperlich als auch emotional – für Betroffene von sexualisierter Gewalt. Die Verlinkung (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) zu „Care“ führt allerdings sowohl auf der englischen als auch der niederländischen Version zu einer nichtexistierenden Webseite (Stand 8. Mai 2025). 

Eine Google-Suche mit dem Schlagwort ‚verkr*chtiging hulp UvA‘ (zu Deutsch Vergew*ltigung, Hilfe, UvA) listet eine Übersicht von Handlungsempfehlungen und Kontakten zu verschiedenen Vertrauenspersonen. Die Seite ist in englischer Übersetzung vorhanden. Auffällig ist allerdings, dass das Suchen der gleichen Schlagwörter auf Englisch in Google nicht auf die entsprechende Seite führt.

2023 stellte die niederländische Regierungsbeauftragte für sexuell übergriffiges Verhalten und sexuelle Gewalt, Mariëtte Hamer, den ‚Studentenpakt (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) gegen sexuell übergriffiges Verhalten und sexuelle Gewalt' vor. Aus einer Reihe von Treffen mit Studierenden entstand eine Liste von 30 Aktionspunkten, die Studierenden-Organisationen selbst in die Wege leiten können, wenn sie sexuell übergriffiges Verhalten und sexuelle Gewalt diskutieren und angehen wollen.

Maßnahmenpaket wird nur wenig angenommen

Die Aktionen, die unter anderem in die Themenbereiche Sensibilisierung, Beschwerden und Hilfestellungen unterteilt sind, zielen darauf ab, gemeinsam einen Standard für (sexuelle) Umgangsformen zu schaffen, diesen immer wieder selbst zu überprüfen und gegebenenfalls erneut anzupassen.

Eine mögliche Umsetzung sind Themenabende an den Universitäten oder das Besprechen des Themas bei Einführungsveranstaltungen für Erstsemester. Eine weitere Maßnahme besteht etwa darin, den Anzeigenden klar zu machen, wo sie sich um Hilfe bemühen können, zum Beispiel durch die Erstellung einer Roadmap.

Aktuell haben sich, gemäß der Liste auf der Webseite von Studentenpakt, knapp 60 Studierendenorganisationen verpflichtet, diese Punkte umzusetzen und einzuhalten. Zum Vergleich: Allein die Stadt Amsterdam hat mehr als 60 Studierendenorganisationen. Im gesamten Land gibt es mehr als 600.  

Durch Theater zu Veränderung 

Kann Theater helfen, das Problem sexueller Übergriffe an Universitäten in den Griff zu bekommen? Diese Frage stellte sich das Theater der Unterdrückten, kurz TdU, in Wien in Zusammenarbeit mit dem EU-finanziertes Forschungsprojekt „Push*Back*Lash“ zur Bekämpfung geschlechterfeindlicher Bewegungen und zur Stärkung der Demokratie.

Entstanden ist diese Form des Theaters in Brasilien in den 1960 und 70er Jahren und hat sich mittlerweile zu einer weltweiten Bewegung entwickelt. „Das Ziel ist, dass wir in Dialog kommen, Unterdrückungsstrukturen aufdecken und abschaffen. Es wird mit den Geschichten der Menschen, die Teil von einem Prozess sind, gearbeitet und diese Geschichten werden auf die Bühne gebracht“, sagt Linda Raule, Theaterpädagogin beim TdU.

Im Rahmen von „Push*Back*Lash“ kam das TdU auf die Idee, mit den ebenfalls teilnehmenden Universitäten in Salzburg, Budapest und Amsterdam ein grenzübergreifendes Theaterprojekt ins Leben zu rufen. Bei einem Treffen in der niederländischen Hauptstadt mit den internationalen Studierenden wurde schnell deutlich: Obwohl die Teilnehmenden aus verschiedenen Ländern kamen, war das Thema sexuelle Belästigung und geschlechtsspezifische Gewalt in allen Gruppen überpräsent, erinnert sich Raule.

„Im Prozess haben die Teilnehmenden wiederholt Szenen entwickelt, die sie selbst zu dem Thema erlebt haben, wo sie Unterdrückung erfahren, die sie wütend machen und woran sie etwas ändern wollen. Da war für uns klar, dass wir in Amsterdam konkret zu dem Thema arbeiten wollen.“

Das Ergebnis: ein 25-minütiges Theaterstück

Entstanden ist so ein 25-minütiges Theaterstück (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), das Anfang 2025 einmalig in Amsterdam aufgeführt wurde. Aufgeteilt in drei Teile befassten sich die beiden ersten mit der Fragen nach bereits bestehenden Präventionsmaßnahmen und schon vorhandenen Melde-Strukturen bei Übergriffen an der Universität.

Zu beiden wurden entsprechende Szenen gezeigt, warum diese aktuell verwendeten Konzepte nicht funktionieren. Beim letzten Abschnitt ging es darum, alle Anwesenden einzuladen, auf der Bühne mitzumachen und Vorschläge zur Verbesserung der Situation zu testen. Darunter waren auch sogenannte „Policy Rangers“, also Entscheidungsbefugte für institutionelle Regelungen der Universität Amsterdam.

Mehr Aufmerksamkeit für das Thema

Im Laufe des Abends wurden die vorgebrachten Ideen im Kollektiv diskutiert und vom Team des TdU dokumentiert, einschließlich konkreter Wünsche für Gesetzes- oder Policy-Änderungen, aber auch Forderungen nach mehr Ressourcen. Eine der häufigsten Nennungen waren Trainings für Mitarbeitende, Lehrende und Studierende – also genau das, was „Our bodies our voice“ bereits in Eigeninitiative macht, und offenbar mit großem Erfolg.

Denn Ende April fanden mehrere Veranstaltungen der Regierungsbeauftragten Mariëtte Hamer statt, zum Thema Bekämpfung von sexuell übergriffigem Verhalten und sexueller Gewalt in der Hochschulbildung und im Studentenleben. Auch König Willem Alexander der Niederlande nahm daran teil. So besuchte er beispielsweise die Universität Leiden, um mit Studierenden zu sprechen. 

Zudem gab es Gespräche mit (Studierenden-)Organisationen, die sich gegen sexuell grenzüberschreitendes Verhalten einsetzen. Dabei war auch Claudia Dictus anwesend. Um gemeinsam Strategien zu entwickeln, um Consent und das weite Verständnis von Einverständnis für alle zum Thema zu machen. Damit es hoffentlich bald kein Thema mehr sein muss. 


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