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TEXTE VOM VORHANDENSEIN

TEXTE VOM VORHANDENSEIN VON MARCO MICHALZIK. In der Mitte des Titelschriftzugs ist ein Porträt des Autors in schwarz-weiß zu sehen.

TEIL 36: VOM GUTEN LICHT

„Come see me in the good light

Come tell me what you tell the truth

Come trouble me

Come lightning strike

Come read out loud what I can't yet pronounce of my own life“

- Andrea Gibson

Es ist Dienstag, ganz früh morgens, kurz nach 6, selbst für Menschen, die früh aufstehen noch früh, zu denen ich ausdrücklich normalerweise nicht gehöre. Und trotz des Angangs durch die Uhrzeit habe ich mich auf diesen kleinen Spaziergang auch ein bisschen gefreut. Am Abend zuvor habe ich mit meinem guten Freund Manuel Steinhoff, der auch Musiker, Komponist, Grafiker und Produzent für unser gemeinsames #poetrymeetsbeats Projekt ist, unseren ersten Auftritt seit Januar in dieser Besetzung gespielt. Was eigentlich als Open Air Veranstaltung angesetzt war, wurde dann zwar wegen des starken Regens am Nachmittag nach drinnen, aber dafür in eine wunderschöne, kleine Kapelle verlegt. Laut Google-Maps brauche ich zu Fuß für den Weg von meiner Unterkunft bis zum Bahnhof etwas mehr als 20 Minuten. Ungefähr auf der Hälfte der Strecke führt der Weg über eine Brücke über den Main. Die aufgehende Sonne und der Nebel über dem Wasser und die fast menschenleeren Straßen sorgen für eine morgendlich-melancholische Sznerie, die ich in einem Foto festhalte.

Auf den beiden Fotos sieht man den Main früh morgens einmal auf der rechten und einmal auf der linken Seite der Brücke. Man sieht ein Boot und Nebel auf dem Wasser und einige Villenartige Gebäude an der Uferböschung.

Ich mag diese bewussten kleinen Momente, die ich unterwegs zwischendurch immer mal wieder erlebe sehr udn halte sie fest, um später, wenn ich durch meine Fotos störpere wieder an diese kleinen Glücksmomente erinnert zu werden, die sich sonst so schnel wieder davonstehlen und überspeichert werden vom Alltag, Stress und Deadlines. Es sind Momente, in denen ich mir für einen ganz kurzen Augenblick bewusst mache, wie dankbar ich bin, das tun zu können, was ich tue. Dass ich gerade an diesem schönen Ort bin, weil ich Texte geschrieben habe, die Menschen gehört oder gelesen und mich deswegen eingeladen haben. Dass das überhaupt nicht selbstverständlich ist, ist spätestens während der Coroan-Pandemie sehr deutlich geworden.

Mein Zeitplan für den Weg geht ziemlich genau auf und ich habe am Bahnsteig noch eine Zigarettenlänge Zeit bevor die Bahn kommt, mit der ich zurück nach Wien fahre. Während ich rauche, scrolle ich durch Instagram, lese ein paar Nachrichten vom Vorabend und scrolle danach durch meinen Feed. Bereits nach einigen Sekunden wird mir ein Post eines amerikanischen Lyrikers angezeigt: R.I.P Andrea Gibson, 1975 - 2025.

Die Nachricht trifft mich unerwartet und heftig. Ich hatte zwar mitbekommen, dass Andrea Gibson schon vor längerer Zeit eine Krebs-Diagnose und das Leben und den Umgang damit öffentlich gemacht hatte, dass es Bilder mit kahl rasiertem Schädel nach der Chemo-Therapie gab und auch, dass währeddessen eine Dokumentation gedreht wurde. All das habe ich aber eher flüchtig und oberflächlich in immer mal wieder vorbeiziehenden Social Media-Posts wahrgenommen, kurz betroffen zur Kenntnis genommen und nicht weiter darüber nachgedacht. Überhaupt stelle ich in diesem Moment Fest, dass ich mich mit Andreas Kunst und Teten in den letzten Jahren gar nicht mehr so intensiv beschäftigt habe.

Das war mal ganz anders. Ich habe Andrea Gibsons Wortkunst irgendwann in den fühen 2010er Jahren zum ersten Mal gehört und gesehen. Gehört und gesehen und nicht gelesen deshalb, weil Andreas Live-Performances mit zu den ersten Spoken Word Sachen gehörten, die mich richtig begeistert und in den Bann gezogen haben. Also gsprochene Gedichte, die nicht nur für die gedruckte Seite, sondern für den Vortrag auf der Bühne vor Publkum geschrieben werden. Ich hatte zu der Zeit gerade selbst erste Schritte in diesem für mich noch sehr neuen Format Poetry Slam gewagt und sog besonders die Auftritte englischsprachiger Künstler*innen, die ich auf Youtube fand begeistert auf.

Schnell stellte ich fest, dass Andrea Gibson neben diesen Live-Performances auch Gedichtbände und Alben mit gesprochenen Texten veröffentlicht hatte. Besonders letzteres war für mich extrem wichtig und inspirierend, weil diese Alben mir zeigten, was mit dieser Kunstform Spoken Word alles möglich ist, welche Bandbreite an Themen und Emotionen sich damit ausdrücken lassen UND vor allem, wie großartig es sein kann, wenn man diese Texte nicht bloß spricht, sondern sie von Musikern begleiten und untermalen lässt. Das wollte ich unbedingt auch machen. Ich kann daher den Einfluss Andrea Gibsons auf mein eigenes Schreiben, vor allem aber auf meine Performance und Heransgehensweise an Texte gar nicht hoch genug einschätzen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich ohne diese damals immens wichtigen Impulse überhaupt beim Spoken Word geblieben wäre und schon gar nicht, ob ich das so ausdauernd weiterbetrieben hätte, dass ich das sogar schließlich zu meinem Beruf machen konnte. Es ist ja liegt immer eine gewisse Spannung in solchen nachrufenden Würdigungen, wo es eigentlich um das Leben und Werk einer   besonderen Person gehen soll und wenn man dann doch die meiste Zeit irgendwie über sich redet. In diesem Fall tue ich das aber bewusst und mit großer Geste, weil ich mein Leben und mein Schreiben dem Leben und Schreiben von Andrea Gibson viel verdanken und vielleicht eine ganz andere Richtung genommen hätten.

Ashes

An ein Erlebnis mit Andreas Gedicht „Ashes“ erinnere ich mich dabei besonders. Ich habe einige Jahre für christliches Jugendwerk gearbeitet, das wiederum Teil eines größeren christlichen Missionswerks war. Während ich dort angestellt war bin ich umgezogen und hatte nun einen ziemlichen langen Weg von Zuhause bis an meinen Arbeitsplatz. Das war meistens, besonders morgens sehr nervig, aber bot anderereseits die Gelegenheit Alben am Stück und Podcastfolgen bis zu Ende zu hören. Auf einem dieser morgendlichen Arbeits-Anfahrtswege hörte ich also Andrea Gibsons Album „Yellowbird“. Das bereits erwähnte Stück „Ashes“ ist der sechste Track auf der Platte und haute mich komplett um. Ich erinnere mich noch gut, dass ich bei der nächsten Gelegenheit sofort rechts ran fahren und zu Ende weinen und wieder klar kommen musste. Irgendwo an der A45.

Das Stück erzählt nämlich die Erfahrung einer queeren Person, die von einem wütenden Mob auf einer Art Scheiterhaufen verbrannt wird. Aber damit noch nicht genug, danach kommen die Kinder, um Schneeengel in der Asche zu machen und selbst bei der Beerdigung werden noch obszöne und homophobe Beleidugungen dem Grabstein der verbrannten Person entgegengeschleudert. Diese Menschen meinen das Richtige zu tun und es schwingt politische und vor allem religiöse Überzeugung mit. Das Stück endet damit, dass das lyrische ich, die queere Person, im Himmel von Gott empfangen wird, der ihr mit vor Tränen der Scham verschmiertem Gesicht die Aschereste der Gewalt vom Gesicht wischt, die seine Kinder in seinem Namen hinterlassen haben. Die restlichen Zeilen des Gedichts sind ein fast verzweifelt trotziges Plädoyer des lyrischen Ichs, dass doch nur lieben wollte und dass Liebe erlebt hat, eine heilige und schöne und gartengleiche Liebe. Wieso sollte sich jemand davon bedroht fühlen oder deswegen jemandem Gewalt antun. Einfach nur, weil er oder sie anders liebt als ich?

Zunächst habe ich die im Gedicht beschriebene Szene für eine Metapher gehalten, die all die Gewalt- und Ausgrenzungserfahrungen der queeren Community illustrieren und sichtbar machen sollte. Später erfuhr ich aber, dass diese Geschichte wirklich so ähnlich stattgefunden hat. „Ashes“ erzählt die Geschichte eines jungen Soldaten, der von seinen Kameraden mit Benzin übergossen und verbrannt wurde, nachdem seine Homosexualität bekannt geworden war.

Das weiß ich zu dem Moment im Auto auf dem kleinen Rastplatz noch nicht. Was ich weiß ist, dass es schon seit längerer Zeit Diskussionen und Debatten innerhalb der Evangelikalen Welt Blase gibt, zu der ich damals gehöre, wie und ob man sich denn hinsichtlich der sogenannten queeren Frage positioeren soll. Bibelstellen werden hiin und hergeworfen, Sünde und Hölle werden heraufbeschworen und Deutungshoheit wird sich versichert. Auch bei uns im Werk, zu dem ich gerade hinfahre, gab es diese Diskussionen. Teilweise werden sie auf eine Art geführt, als diskutierten wir da über theoretische, theologische Konstrukte und nicht über Menschen. Ich erinenre mich an ein großes christliches Jugendfestival auf dem wir damals mit einem Messestand vertrten waren. Während des Festivals kamen mehrere Standbetreiber zusammen um eine Petition oder eine Art offenen Brief an die Festivalleitung zu formulieren, der zusammengefasst ungefähr aussagte, dass alle diese Werke ihre Unterstützung und ihre Gelder in Zukunft aus dieser Veranstaltung ziehen würden, wenn es nochmal vorkäme, dass auch queere christliche Gruppen mit ihren Anliegen und Ständen präsent sein dürften. All das hat mich von Anfang an abgestoßen und befremdet. Nicht nur inhaltlich, sondern vor allem die Art und Weise, wie über meine queeren Geschwister geredet und diskutiert wurde. Wie über sie geredet udn geurteilt wurde, ohne jemals eine einzige ihrer Geschichten angehört zu haben. Ich erzähle das alles so ausführlich, weil das der Hintergrund war, auf den ich gerade zufuhr. Und eigentlich wusste ich schon seit einer Weile ganz sicher, dass ich dort nicht mehr sein sollte und wollte. Dass ich kein Teil einer religiösen Gruppe mehr sein möchte, die anderen ihren Glauben, ihre Liebe und ihre Identität abspricht und in die Hölle verdammt, die augrenzt, verletzt und beschämt. Aber irgendwie gelang mir der Absprung nicht so richtig. Das war der erste richtig sichere und gut bezahlte Job, den ich bisher jemals hatte. Was sollte ich stattdessen machen? Und vielleicht könnte ich mit meiner Stimme ja immerhin dafür sorgen, dass die Stimmung sich zumindest in dem Werk, für das ich arbeitete doch noch positiv verändert.

Aber als ich an diesem Morgen auf dem Weg ins Büro in meinem Auto dieses Gedicht von Andrea Gibson hörte, wusste ich, dass ich diesen Cut jetzt machen muss. Auch hier wieder war ein Gedicht von Andrea Gibson ein entscheidender Impuls. Denn mit der Kündigung meiner Stelle in dem christlichen Jugendwerk begann meine selbstständige Tätigkeit als Künstler, die bis heute andauert.

Hier kannst Du dieses Gedicht, das so prägend für mich war in der Version hören, wie ich damals im Auto gehört habe:

https://open.spotify.com/intl-de/track/53F3lVTWosbJxfYiShXrFF?si=45ae81fe21124ea3 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Hier kannst Du das ganze Gedicht lesen (oder vielleicht mitlesen, während du es dir anhörst):

THEOPOETIK

Zusätzlich zu dem bisher beschriebenen Wichtigen, das Andrea Gibsons Gedichte und Performances für mich persönlich hatte, möchte ich noch einen Aspekt hervorheben, der oft ein bisschen untergeht, den ich aber für sehr inspirirend und bemerkenswert halte. Gott, Jesus und das Heilige kommen in Andrea Gibsons lyrischem Werk auffallend oft vor. Ich habe exemplarisch einige Blitzlichter zusammengestellt, die zeigen, was für ein schönes und weites und bisweilen augenzwinkerndes Gottesbild einem aus Andreas Texten entgegen scheint.

  • Gott schämt und entschuldigt sich bei einer queeren Person für die Gewalttaten seiner Kinder:

„…and their empty mouths
full of prayers
to that God that greeted me at his gates
with his throat full of trumpets
and his tears full of shame
as his trembling palms
collected the cinder of his children’s crime

I know what holy is…“

(aus Ashes)

  • Gott selbst ist nonbinär:

„Oh my god, is it true,

you’re letting all the nonbinary people in first?

Yes!

Oh my god,

that’s why you call it the holy trinity

and not the holy binary, isn’t it?“

(aus Maga Hat in the Chemo Room)

  • Gott heißt die nonbinären Personen im Himmel willkommen mit einem Humus Buffet und lässt die himmlischen Perlentore in Regenbogen-Farben anleuchten zur Begrüßung:

„He doesn’t think, he’s goingt to hell,

he think’s I am,

He doesn’t know I’m going to show up to heaven

just to see Jesus standing outside the pearly gates

with a sign that says ‚Gays not welcome‘

and God in the clounds above him laughing

like an ethereal sixth grader saying:

We were just kidding, we’re just kidding.

Look, we made the pearly gates rainbow for you

Look, we made chips and hummus.

Oh my god,

how do you know the queers love chips and hummus?

Because I’m god.“

(aus Maga Hat in the Chemo Room)

  • Gottes-Erkenntnis ist eng verknüpft mit dem Erkennen des menschlichen Gegenübers:

“Come make it count

Our finding each other like we found God”

(aus Good Light)

  • Es gibt aber auch Kritik an der Idee eines Gottes, der alles sieht und überwacht:

„When they told me God was always watching

I said, "Who wants to worship a diary thief?"

I didn't dare say, "Who wants to worship anyone

Who would see everything and just sit there doing nothing

While the Devil flossed his teeth with the bow of my prettiest violin?"

Oddly, they told me the same thing about Santa always watching

And I didn't mind, because that fucker was bringing presents

God was only bringing life

Which I was told was a sin to return, even if it didn't fit.“

(aus Good Light)

  • Und auch humorvolle und sehr lustige Beabeitungen, wie die monatlich neue Erleichterung nicht als die nächste Jungfrau Maria ausgewählt worden zu sein:

„Every month, when I get my period 
I breathe a sigh of relief and thank God I’m not pregnant
‘cause you never know when Jesus is comin’ back 
And you never know who God’s gonna choose to be the next Virgin Mary.
And can you imagine anything more scary
than staring down between your legs
And seein’ the little glowin’ head of baby Jesus?
Holy shit, no, thank you.“

(aus Every Month)

Es gibt die Angels of the Get-Trough und die Person die Pole Dancing zu Gospel Hymnen nicht verwerflich findet. Es gibt das Gedicht How it ends, das erste Gedicht, das ich jemals gehört habe, in dem das Wort „Boobs“ in einem lyrischen Text nicht vulgär oder sexistisch, sondern sinnlich und zärtlich gebraucht wird. Es gibt das das Gedicht Orlando über das Massaker in einem Nachtclub in der gleichnamigen Stadt, das mich mich immer noch regelmäßig zum Weinen bringt und es gibt das Gedicht über eine zerbrochene Beziehung aus der Sicht des gemeinsam gekauften Tandem-Bikes, der zu den lustigsten, zärtlichsten und berühndsten Texten zählt, die ich kenne.

Aus Andrea Gibsons Gedichten kommen mir Menschlichkeit und Empathie, Barmherzigkeit und Liebe zum Leben mit all seinen Details und Brüchen und Abgründen entgegen, wie sie gepredigt selten höre.

Ich möchte diesen kurzen Text mit gesprochenen Worte von Andrea Gibson abschließen. Ich weiß nicht genau, ob es das letzte aufgenommne Video ist, aber sicher eins der letzten. Und wieder sind die Worte so unglaublich dicht und berührend und menschlich und ehrlich und alles, wofür ich Andrea Gibson so mochte und dankbar bin.

https://www.youtube.com/watch?v=wXSu_qm8mk8 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Rest in Poetry and the Good Light, Andrea! I’m forever grateful for your words!

Das Banner zeigt die beiden EP-Cover von Die gerade Linie ist gottlos Pt.1 und 2 und den Textzusatz, dass die beiden EPs ab sofort auf allen Plattformen erhältlich sind. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Klicke auf das Banner, um direkt reinzuhören

Liebe Grüße aus der Bahn und bleib barmherzig

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