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Die unsichtbare Front

Triggerwarnung: In diesem Text geht es um sexualisierte Gewalt, Mord und Krieg.

Sexualisierte Gewalt ist eine Kriegswaffe im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Verurteilungen gibt es kaum. Drei Überlebende, ihr Kampf um Anerkennung und ein weltweit einzigartiges Gesetz.

Jeden Morgen, wenn Oksana Olkhivets aufsteht und ihr Haus verlässt, um zur Arbeit in dem wiederaufgebauten Krankenhaus von Makariw bei Kyjiw zu gehen, läuft sie den Weg ihrer Peinigung. Vorbei an der Küche, in die sie ihren Ehemann sperrten. Durch den Flur, in dem sie das Abzeichen aufbewahrt, das ein Soldat beim Überfall auf ihr Zuhause verlor, „Russische Streitkräfte“ steht darauf. Vorbei an dem Gemüsegarten, in dem sie ihren ermordeten Ehemann provisorisch begraben musste, als niemand an die Toten dachte. Die Invasion kam so plötzlich, dass keine Zeit für Trauer und Beisetzungen blieb. Leichen lagen in jedem Ort, durch den russische Soldatenpflügten, auf den Straßen.

Olkhivets ist eine von unzähligen Überlebenden sexualisierter Gewalt im russischen Krieg gegen die Ukraine. Unzählig, weil niemand weiß, wie viele Menschen tatsächlich Vergewaltigungen durch russische Soldaten überlebt haben. Im März 2025 veröffentlichte die ukrainische Staatsanwaltschaft Zahlen: 344 registrierte Fälle von „konfliktbezogener sexualisierter Gewalt“ zählt sie seit Kriegsbeginn 2014, als Russland die Krim angriff. Doch die Dunkelziffer liegt deutlich höher. Laut Schätzungen internationaler Gewaltschutzorganisationen wie dem Global Survivors Fund kommen auf jeden registrierten Fall etwa zehn unregistrierte – in der Ukraine dürfte die Zahl der Überlebenden konfliktbezogener sexualisierter Kriegsgewalt damit bei knapp 3500 liegen. Viele Überlebende dieser Kriegsverbrechen sprechen nicht über das, was ihnen angetan wurde. Aus Scham, aus Angst vor Stigmatisierung oder schlicht, weil sie nicht wissen, mit wem sie sprechen können.
Unter Olkhivets Augen liegen tiefe Schatten, sie sind vom Weinen gerötet. Ihre schwarzen Haare sind stufig geschnitten, der Pony hängt fransig ins Gesicht. Immer wieder fasst sie sich nervös an ihre Halskette und entschuldigt sich für ihre Tränen. Sie zittert leicht, wenn sie Tee eingießt. Eigentlich spricht auch Olkhivets nicht öffentlich ü ber das Erlebte. Einmal wollte sie einem Journalisten ein Interview geben, doch die Fragen waren so unsensibel und schmerzhaft, dass sie abbrechen musste. Aber jetzt will sie sprechen. Nur so können Überlebende Unterstützung finden, die Taten geahndet und Russland für seine Gräuel zur Rechenschaft gezogen werden. „Wie sollen Menschen wissen, was uns passiert ist, wenn ihr es nicht veröffentlicht?“, fragt Olkhivets. „Es ist passiert und daran kann man nichts ändern.“

Als die russische Armee am 24. Februar 2022 die Vollinvasion auf die Ukraine startet, feiert Oksana Olkhivets mit ihrem Ehemann ihren Hochzeitstag in Bukowel, einem Skiort im Westen der Ukraine. Ein Foto zeigt ihren Mann, groß, mit schwarzer Basecap auf dem Kopf im Schnee hockend, im Hintergrund dichte Wälder und runde Bergkuppen. Auf einem anderen sieht man die beiden Arm in Arm in Paris, Olkhivets sieht glücklich aus. Geistesgegenwärtig habe sie ihr Handy versteckt, als die russischen Soldaten kamen. „Sonst hätte ich diese Erinnerungen heute nicht mehr.“ Eigentlich, so erzählt sie es, hätten sie noch länger im Urlaub bleiben wollen. Doch ihr Mann wird unruhig, will zurück nach Hause. Zu diesem Zeitpunkt ahnen sie noch nicht, dass die russischen Truppen bald auch Makariw einnehmen werden, die sechzig Kilometer westlich der Hauptstadt Kyjiw gelegene Kleinstadt, in der die beiden leben. „Vielleicht wäre er noch am Leben, wenn wir in Bukowel geblieben wären.“

Es ist der 6. März 2022, als russische Soldaten durch Makariw patrouillieren. Schon seit dem 27. Februar haben die russische und die ukrainische Armee um die Stadt gekämpft. Viele Menschen haben den Ort schon verlassen, sind nach Kyjiw oder in den Westen des Landes geflohen. Olkhivets und ihr Ehemann wollen nicht gehen, die beiden Hunde nicht zurücklassen. Sie bleiben in dem beschaulichen Einfamilienhaus, hinter dem sich ein fußballfeldgroßer Garten erstreckt. Es dauert nicht lange, da stehen auch vor ihrem Haus zwei Soldaten. Tschetschenen, sagt Olkhivets, das habe sie am Akzent gehört. Die tschetschenischen Kadyrow-Einheiten gelten als besonders brutal. Olkhivets erinnert sich heute noch genau an den Tag. Sie erzählt, wie die Männer sich gewaltvoll Zugang zum Haus verschaffen, die Waffen drohend erhoben. Wie sie durch den eiskalten Garten in ein leerstehendes Nachbarhaus gescheucht wird, durch den Gemüsegarten, in dem sie später ihren Ehemann begräbt. Medien berichten später von 132 Zivilist*innen, die nach der Befreiung am 22. März im zerstörten Makariw tot aufgefunden werden, manche von ihnen liegen mit gefesselten Händen in ihren Gärten, durch Kopfschüsse getötet. In der Nacht vor diesem Dienstag Anfang März hat es geschneit, die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt. Einer der Soldaten zwingt Olkhivets, sich auszuziehen und vergewaltigt sie brutal. Ihr Ehemann will sie retten, wahrscheinlich hat er ihre Schreie gehört und wird noch im Rennen von dem anderen Soldaten erschossen. So erklärt sich Olkhivets, was passiert ist. Sie hört die Schüsse, während sie vergewaltigt wird. Als ihr Vergewaltiger endlich von ihr lässt, ist ihr Ehemann fast verblutet. Sein Bauch und seine Beine zerfetzt, erinnert sich Olkhivets. Heraneilende Nachbar*innen versuchen zu helfen, als die Soldaten sie zurücklassen. Zwei Tage lang fleht Oksana Olkhivets die russischen Besatzer im Ort an, ihn in ein Krankenhaus bringen zu dürfen. Zwei Tage lang blockieren sie ihr Auto. Bis er am 9. März zu Hause verblutet. Sie begräbt ihren Mann im Gemüsegarten hinter dem Haus. Auch einen ihrer Hunde erschießen die Soldaten. Olkhivets bleibt allein, in ihrer Garage ein Auto, auf das die russischen Soldaten einen Schriftzug geschmiert haben: „64. Brigade“. Später wird dieser Schriftzug dabei helfen, ihren Vergewaltiger zu identifizieren.

Laut den Vereinten Nationen werden in der Ukraine seit Beginn der russischen Invasion Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt vor allem gegen Frauen und Mädchen systematisch als Kriegswaffe eingesetzt. Die Historikerin Marta Havryshko spricht vom weiblichen Körper als „Mittel der Kommunikation mit dem Feind“, als Werkzeug, um UK berlegenheit zu demonstrieren, als eine „weitere Kriegsfront“. Teilweise, so berichten es Medien, wurden Vergewaltigungen von der Militärführung sogar gezielt angeordnet. Der Fall von Irina Dovgan war der erste, der international bekannt wurde. Kurz nachdem Russland 2014 die Krim besetzt, wird Irina von russischen Soldaten entführt, weil sie ukrainischen Soldaten Essen bringt. Fotos zeigen die damals 53-Jährige mit blondem Bob und einer modischen Sonnenbrille. Die ehemalige Kosmetikerin sieht gepflegt aus, selbstbewusst schaut sie in die Kamera, neben ihr ein Militär-Lkw, Soldaten und die ukrainische Flagge. Dovgan erzählt die Erlebnisse so: In einer Zelle wird ihr ein Sack über den Kopf gestülpt, dann wird sie vergewaltigt, ihr Gesicht auf den Boden gedrückt. Soldaten reißen an ihrer Hose, an ihren Brüsten, an ihrem T-Shirt. Sie schlagen sie, schleppen sie aus der Zelle, werfen sie in ein Auto. Zurück in einer Zelle wird Irina eine gelbe Flüssigkeit injiziert, „Wahrheitsmedizin“, feixen die russischen Soldaten. Sie soll die Namen der anderen Frauen verraten, die mit ihr gemeinsam die ukrainische Armee versorgen. Sie will einfach sterben, träumt im Delirium vom einfachen Tod, von einem Kopfschuss. Dovgan wird öffentlich gedemütigt, sie wird an einen Straßenmast gestellt, am Rand einer dreispurigen Straße. Ein Bus fährt vorbei. Sie staffieren sie mit Accessoires in ukrainischen Nationalfarben aus, die sie in ihrem Haus fanden. Sie rammen ihr einen Haarreif mit wackelnden Flaggen auf den Kopf, den sie zwei Jahre zuvor für die EM gekauft hatte, legen ihr eine Fahne um die Schultern. Dovgan muss ein Schild halten: „Sie tötet unsere Kinder.“ Es gibt ein Foto in der „New York Times“, auf dem man sieht, wie eine Frau auf sie eintritt, Dovgans Gesicht schmerzverzerrt. Die Grausamkeit der Szene wird dadurch verstärkt, wie profan gewöhnlich die Frau aussieht, die entfesselt in strassbesetzten Sandalen auf Dovgan eintritt. Überall könnte einem diese Frau im alltäglichen Leben begegnen – nur handelt es sich bei ihr wahrscheinlich um eine pro-russische Separatistin. Deren Hass auf die Ukraine ist so groß, dass Dovgan ihn mit voller Wucht von dieser Zivilistin zu spüren bekommt. Einen ganzen Tag steht sie dort und wird gepeinigt. Ihr Sohn erhält Nachrichten von Klassenkameraden und anderen Jugendlichen, in denen seine Mutter diffamiert wird. Auf Facebook kommentiert jemand hämisch: „Sag hallo zu Irina. Die ganze Polizeiwache hat sie einmal gefickt.“

Zurück in einer Zelle wird Dovgan von den russischen Soldaten gefoltert, sie sprühen Gas in ihren Mund, vergewaltigen einen Mann vor ihren Augen. Sie verliert das Bewusstsein. „In diesem Moment fühlte ich mich nicht mehr wie ein Mensch“, sagt Irina heute. Ausländische Journalisten retten sie einige Tage später. Sie flieht nach Kyjiw, baut sich mit viel Mühe ein neues Leben auf. Ihr einst selbstbewusstes Lächeln ist einer brüchigen Version gewichen. Sie wirkt schüchtern, kräuselt ihren Mund verhalten, wenn man ihr sagt, wie stark sie sei. Behutsam streichelt sie eine Katze, die ihr auf den Schoß hüpft. Ihre Tochter ist Tierärztin, sie hat einige Tiere vor dem Tod gerettet, um die sich Dovgan und ihr Mann Roman nun kümmern. Liebevoll lacht sie über den quirligen Hund, der durch das Haus rennt, füttert die hungrige Katze, bevor sie erneut ansetzt: Ein Leben ohne Angst kenne sie nicht mehr. „Eine Zeit lang befürchtete ich, dass ein russischer Geheimdienstagent über meinen Zaun klettert und eine Bombe unter mein Auto montiert“, so Dovgan. „Und dass meine Tochter die erste sein könnte, die den Motor startet.“

Die „New York Times“ druckt das Foto von Irina Dovgan am Mast auf die Titelseite. Sie wird zum Symbol der Überlebenden russischer Kriegsgewalt. Und im Jahr 2018 lädt eine Menschenrechtsgruppe sie nach Den Haag an den Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte ein, um über das Erlebte zu sprechen. Heute spricht Dovgan regelmäßig vor internationalen Komitees über russische Kriegsverbrechen an Frauenkörpern. Doch damals, als Dovgan in drei Jobs gearbeitet hat, um die Familie zu ernähren, war die Einladung der Start für ein nächstes Kapitel. Sie entscheidet sich, ihr Leben dem Kampf für die Rechte Überlebender zu widmen. „Wenn wir schweigen, bleiben die Verbrechen im Dunkeln und werden nie bestraft“, sagt Irina Dovgan. „Und das unbestrafte Böse kommt immer zurück.“

Mit internationaler Hilfe gründet sie SEMA Ukraine, eine Organisation „für Überlebende sexualisierter und genderbasierter Gewalt im Krieg Russlands gegen die Ukraine“. Diese ist Teil des internationalen SEMA-Netzwerks für Opfer und Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt. Sinngemäß übersetzt bedeutet SEMA „Sei nicht still“ auf Swahili. Die Überlebenden von SEMA Ukraine wollen nicht nur, dass sie als Opfer dieses Krieges anerkannt werden, sondern auch Rehabilitation: psychologische Unterstützung, juristische Beratung und finanzielle Kompensation für die schweren Folgen der erlebten Traumata. SEMA Ukraine gibt jenen Hoffnung, die zum Ziel russischer sexualisierter Gewalt wurden. Es ist ein Stück Selbstermächtigung. Sie treffen sich, erarbeiten Forderungen an den ukrainischen Staat, ziehen durchs Land und klären Frauen auf, denen Ähnliches widerfahren ist. Aktuell arbeiten sie an einem Buch, für das etwa zehn Frauen Zeugnisse der Gräueltaten von Dutzenden Überlebenden sammeln.

2022, acht Jahre nachdem Irina vergewaltigt und gefoltert wurde, kann SEMA Ukraine den ersten Erfolg auf juristischer Ebene feiern. Die ukrainische Staatsanwaltschaft nimmt in elf Fällen Ermittlungen wegen sexualisierter Kriegsgewalt auf. Heute sind es zwar deutlich mehr, über 300 Fälle, denen die Staatsanwaltschaft nachgeht, doch die Ermittlungen verlaufen oft zäh. Zum einen, weil die Ukraine sich noch immer im Krieg befindet und die Arbeit von Behörden und Gerichten dadurch erschwert oder verunmöglicht wird. Zum anderen, weil die Opfer entweder unter russischer Besatzung oder in Gefangenschaft ausharren und die russischen Täter nur schwer ermittelt, geschweige denn verhaftet werden können. Auch Beweise für die Verbrechen gibt es wenige, nur selten lassen sich die Taten wirklich belegen.

Galina Tyshenko aber hat Beweise für ihre Vergewaltigung. Auch sie ist eine der Überlebenden, die bei SEMA Ukraine für ihre Rechte kämpfen. Tyshenko verliert sich nicht in Details, wenn sie von dem Tag im Februar 2022 erzählt, an dem die russischen Soldaten kamen. Es waren junge Soldaten, um die zwanzig Jahre alt, sagt sie. Am Gürtel trugen sie Handgranaten. „Wir sind gekommen, um euch zu befreien“, soll einer gerufen haben. Dann soll sein Kamerad sie gezwungen haben, sich auszuziehen und nackt um ihr Haus zu laufen. Als der andere das sieht, rennt er davon. Mit ihren Händen beschreibt die heute 63-jährige die Größe der beiden Männer, die vor ihrer Haustür standen. Zeigt, wie Sniper auf den Dächern auf sie zielten. Tyshenkos Mimik ist starr, wenn sie davon erzählt, mit angespannten Zügen blickt sie auf den Tisch vor sich, sie spricht schnell und bestimmt, fast abgeklärt. Der junge Soldat, fast noch ein Teenager, bringt sie zurück ins Haus. Dann, so erzählt es Tyshenko, stößt er sie auf das Sofa, seine Waffe erhoben, seinen Gürtel geöffnet. Sie fleht ihn an, es nicht zu tun. Er hält sie am Fuß fest und droht, sie zu erschießen. Dann stößt er seine Waffe zwischen ihre Beine und vergewaltigt sie mit dem Gewehr und seinen Händen, bis er auf die Decke unter ihr ejakuliert. Tyshenkos erinnert sich an die dreckigen Fingernägel zwischen ihren Beinen. Die Decke mit dem Ejakulat behält Tyshenko. Sie wird ihr später als Beweismittel dienen.

Neben Tyshenko werden in Dmytrivka, ihrem Dorf, das zwischen Butcha und Irpin liegt, noch acht weitere Mädchen und Frauen von russischen Soldaten vergewaltigt. Die jüngste ist vier. Die älteste 82. „In den letzten Jahren hat sich viel getan für Überlebende“, sagt Khrystina Kit. Sie ist Menschenrechtsanwä ltin und Vorsitzende des ukrainischen Frauen-Anwaltsverbands JurFem. Kit hat sich auf die Arbeit zu genderbasierter Gewalt spezialisiert, etwa siebzig Überlebende von sexualisierter Kriegsgewalt vertritt der Verein derzeit. Sie setzt sich dafür ein, dass sich der ukrainische Staat um die Opfer kümmert. In den vergangenen drei Jahren hätten sich die Zivilgesellschaft und die Regierung bemüht, Überlebenden mehr Unterstützung zu bieten. Seit 2023 gibt es eine Koordinierungsstelle, bei der Betroffene Reparationszahlungen beantragen können, sowie juristische Beratung und psychologische Hilfsangebote vermittelt bekommen. „Der Staat hat verstanden, dass es einen Ansatz braucht, der sich auf die Bedürfnisse der Überlebenden fokussiert“, so Kit.

Inzwischen gibt es auch Rehabilitationsprogramme, die von SEMA Ukraine, dem Global Survivors Fund und dem ukrainischen Staat finanziert werden. Betroffene können so bspw. Aufenthalte in Reha-Kliniken in Anspruch nehmen. SEMA hat außerdem erzielt, dass Überlebende Reparationszahlungen von dreitausend Euro pro Person erhalten. Aktuell wird das über Spendengelder von internationalen NGOs finanziert. „Kein Betrag kann jemals den angerichteten Schaden wiedergutmachen“, erklärt eine anonyme Überlebende, die durch das Projekt unterstützt wurde. „Aber es ist die Anerkennung, die Sichtbarkeit, das Recht, das Verbrechen zu dokumentieren, das es ermöglicht, die menschliche Würde, das Selbstwertgefühl und den Glauben an sich selbst zurückzugewinnen.“

Aber Anwä ltin Khrystyna Kit sagt auch, dass die bürokratischen Hürden für die Überlebenden noch immer zu hoch seien. Viele würden sich deshalb eher an zivilgesellschaftliche Organisation als an die staatliche Koordinierungsstelle wenden. Hinzu kommt, dass die Angst vor dem „victim blaming“ fü r viele Überlebende zu groß ist. Gewalt gegen Frauen ist auch in der Ukraine abseits des Krieges ein Problem, oftmals werden sie selbst fü r die Taten verantwortlich gemacht. Auch deshalb trauen sich viele nicht, die russische Kriegsgewalt überhaupt zu melden.
Unter dem Druck von Dovgans Organisation und dem Global Survivors Fund hat die ukrainische Regierung am 18. Dezember 2024 ein Gesetz verabschiedet, das die sexualisierte Gewalt im Krieg anerkennt und Reparationen für Überlebende verspricht. Das Besondere ist, dass es einen betroffenen-zentrierten Ansatz verfolgt, der für den Einzelfall evaluiert, welche Unterstützung es braucht: finanzielle, psychologische oder juristische.
Es sind die Überlebenden selbst, die an diesem Gesetz mitgeschrieben haben. Und es ist ein Präzedenzfall. Noch nie hat ein Land, das sich in einem aktiven Konflikt befindet, gleichzeitig ein Gesetz für Überlebende verabschiedet. Aktuell wird an Dokumenten gearbeitet, die das Gesetz in Gang bringen sollen. Ein Teil der Maßnahmen wird vom ukrainischen Staat gezahlt, aber insbesondere die finanzielle Kompensation der Überlebenden ist noch nicht final geklärt. „Am Ende hängt die effektive Umsetzung des Gesetzes zum einen an der ukrainischen Regierung, zum anderen aber an der finanziellen Unterstützung durch internationale Partner“, sagt Fedir Dunebabin, der ukrainische Repräsentant des Global Survivors Fund. „Die Überlebenden können nicht warten, bis Russland zur Verantwortung gezogen werden kann und Reparationen leistet.“

Um die Traumata zu überwinden, brauchen die Überlebenden Zeit und eine gute psychologische Betreuung. Zwei Mal war Olkhivets in einer Klinik im Westen des Landes, weit weg von den Frontlinien. Sie bastelte, wanderte, schwamm. Stundenlang lag sie im kühlen Wasser des Schwimmbads, so lange, bis jemand sie zum Abendessen holte. Für einen kurzen Moment verschwand die Welt um sie herum.

Gegen den Soldaten, der sie vergewaltigt hat, wird heute ermittelt, Olkhivets kennt seinen Namen. „Aber wer meinen Mann erschossen hat, das weiß niemand“, sagt sie. Was Olkhivets bleibt, sind nur noch Erinnerungen: von der Europareise, die sie mit ihrem Ehemann erst 2018 gemacht hat. Von gemeinsamen Abendessen mit Nachbar*innen. Von Momenten mit dem heute 32-jährigen Sohn, der seit dem Angriff nicht mehr nach Hause gekommen ist. Er lebt in Lwiw, im Westen des Landes. Olkhivets sagt, er habe keine Angst vor dem Krieg. „Sondern davor zu sehen, dass sein Vater nicht mehr da ist.“

Der Mann, der Galina Tyshynko vergewaltigt hat, wird nicht gefunden, trotz der DNA auf dem Laken. Und auch Irina Dovgan kennt zwar den Namen des Generals, der sie geschlagen hat, aber sie weiß nicht, wer ihr Vergewaltiger war. Zur Rechenschaft gezogen werden diese und zahlreiche andere Täter wohl nie.

Diese Recherche wurde von der Initiative „Women on the Ground: Reporting from Ukraine’s Unseen Frontline“ der International Women’s Media Foundation in Zusammenarbeit mit der Howard G. Buffet Foundation unterstützt.

Redaktion: Marie Serah Ebcinoglu, Bahar Sheikh

Fotos: Carolin Gutman, Dzvinka Pinchuk, Sarah Ulrich

Sarah Ulrich war außerdem zu Gast im „Was jetzt?“-Podcast von ZEIT Online (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), um über das Thema zu berichten.

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