Hä? Was heißt denn Haupt- und Nebenwiderspruch?
Und was haben sie mit Kapitalismus, Feminismus, Marx und Mao zu tun? Missy-Autorin Nelli Tügel erklärt’s dir in unserem Glossar gegen die Panik vor Wörtern.
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Von Haupt- und Nebenwidersprüchen hört früher oder später, wer mit linken und feministischen Bewegungen in Berührung kommt.
Heute werden die Begriffe meist verwendet, wenn eine Hierarchisierung von Kämpfen und Unterdrückungsverhältnissen kritisiert werden soll. „Nebenwidersprüche“ stehen dann für die Diskriminierung von Minderheiten, Rassismus, Patriarchat; „Hauptwiderspruch“ steht für den Kapitalismus.
Mit Haupt- und Nebenwiderspruchsdenken ist die Annahme gemeint, dem Klassenkampf seien alle anderen Kämpfe nachgeordnet, weil erst der Hauptwiderspruch aufgelöst werden müsse, bevor die Nebenwidersprüche angegangen werden könnten. Wer sich auf Nebenwidersprüche bezieht, tut dies heute meist in der Absicht, einen Begriff zu reclaimen, der einst (abwertend) für Kämpfe und Themen verwendet wurde, die angeblich nicht so wichtig seien oder bis „nach der Revolution“ warten müssten. Vor allem Marxist*innen stehen im Verdacht eines solchen Haupt- und Nebenwiderspruchdenkens.
Diese Annahme hat reale Ursachen in der Geschichte der linken Bewegungen, vor allem in der westdeutschen 68er-Bewegung. Als Zerfallsprodukte dieser Bewegung hatten sich in den 1970er-Jahren u. a. die sogenannten K-Gruppen herausgebildet: sich selbst als kommunistisch verstehende Gruppen, die Diktatoren wie Stalin oder Mao bewunderten und – mit Abstufungen – oft sekten- und mackerhaft auftraten. Die K-Gruppen mobilisierten zwar auch zu feministischen Themen, lagen aber im inhaltlichen Clinch mit der zweiten Frauenbewegung, die ihnen u. a. vorwarf, den Kampf für Gleichberechtigung dem Klassenkampf zu opfern.
So viel zum wahren Kern der heute geläufigen Verwendung von „Haupt- und Nebenwiderspruch“. Ihr liegen aber auch ein paar Missverständnisse und eine gewisse Legendenbildung zugrunde. Denn: Bei Marx selbst findet sich kein schematisches Haupt- und Nebenwiderspruchsdenken. Dieses geht vielmehr auf Mao und dessen Schrift „Über den Widerspruch“ von 1937 zurück. Die Ironie dabei: Maos Ansinnen war es damals gewesen, sich für Nebenwidersprüche (bzw. das, was er als solche identifizierte) starkzumachen; er wollte rechtfertigen, warum, wenn doch der Hauptwiderspruch der zwischen Bourgeoisie und Arbeiter*innenklasse sei, die Kommunist*innen in China trotzdem temporäre Bündnisse mit der chinesischen Kapitalist*innenklasse eingingen. Mao erklärte das so: Auch Nebenwidersprüche wie die „nationale Frage“ könnten zeitweise zum Hauptwiderspruch werden, etwa in kolonial unterdrückten Ländern, was dann die Zusammenarbeit zwischen Kommunist*innen und Kapitalist*innen für die „nationale Befreiung“ notwendig mache. Und Marx? Der hat in seinem Werk den Begriff des Grundwiderspruchs für das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit verwendet. Dieses sei – anders als manch andere Widersprüche – antagonistisch. Das bedeutet, dass beide Seiten des Widerspruchs ohne einander nicht existieren würden: Ohne Lohnarbeit gibt es kein Kapital und umgekehrt. Nach Marx ist in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise dieser antagonistische Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit der Grundwiderspruch in dem Sinne, dass er andere gesellschaftliche Verhältnisse durchdringt und sie entscheidend prägt. Beispiel Patriarchat: Es ist zwar viel älter als der Kapitalismus, in diesem aber nimmt es eine spezifische Form an; das heutige Patriarchat existiert nicht neben dem oder außerhalb des Kapitalismus. Das ist ein analytisches Angebot, über das man trefflich streiten kann. Aber sicherlich kein Schema F für die Hierarchisierung von Kämpfen.
Weitere Begriffe zum Nachschlagen findest du in unserem Glossar gegen die Panik vor Wörtern auf Missy Online (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).