Mein Jahr ohne Sex
Während sich Incels im Netz radikalisieren und Promis ihr Zölibat zelebrieren, schreibt unsere Autorin über ihre eigene Sex-Pause – ganz ohne Drama, aber mit vielen Fragen: an sich selbst, die Gesellschaft und das, was wir mit Begehren verbinden.

Es ist nicht so, dass ich keinen Sex wollte. Er ist einfach nicht passiert. Ein Jahr oder auch zweimal so lang, wenn man das kurze Intermezzo mit dem Kerl nicht mitrechnet, der jedes Mal nach kurzer Berührung kam und dann ins Bad verschwand. Aber darum soll es nicht gehen. Es geht um Zeit, die verfliegt, ohne Gelegenheit für Sex.
Unfreiwillige Abstinenz, dachte ich, betrifft vor allem junge Männer, die sich im Internet radikalisieren:
Incels, die vom Recht auf Sex sprechen, und von Frauen, die ihnen selbigen angeblich verweigern. Auch Femcels gibt es, die sich zurückgewiesen fühlen, vielleicht Gewalt von Männern erfahren haben – und andere verurteilen, die Sex haben. Doch meine Abstinenz war nicht politisch und sie hat mich auch nicht politisiert.
Freiwillige Abstinenz scheint fast schon Lifestyle: Melissa Febos beschreibt in ihrem Buch „The Dry Season“ ihren Sexverzicht als Selbstfindung. Promis wie Lenny Kravitz oder Drew Barrymore leben zeitweise freiwilliges Zölibat. Auf Social Media kommen und gehen Trends wie „Boysober“ oder „Celibacy“. Aber jeder bewusste Verzicht ist Privileg: Wem Sex immer verfügbar ist, der*die kann ihn für eine Zeit ablehnen.
„Die Vorstellung von Intimität mit einer anderen Person irritiert mich. Im Gym oder im Café: Flirts passieren nicht. Oder bemerke ich sie nicht? Bin ich zu sehr bei mir?“
– Missy-Autorin Ivana Sokola
Meine Abstinenz hatte keinen klaren Anfang. Rückblickend war es vielleicht das Ende einer Affäre, dann eine Zeit mit großem Stress, dann eine kleine depressive Episode, dann der Winter. So vergehen ein paar Monate. Ich masturbiere, nur um Druck loszuwerden, ohne große Fantasien. Ich mache viel Sport, werde muskulöser, fühle mich stark und straff. Dennoch empfinde ich mich nicht als sexy, sondern fast maschinell, als formte ich eine Skulptur. Mein Körper ist nur für mich da. Was fange ich damit an? Die Vorstellung von Intimität mit einer anderen Person irritiert mich. Im Gym oder im Café: Flirts passieren nicht. Oder bemerke ich sie nicht? Bin ich zu sehr bei mir?
Das ist nur eine Phase. Sage ich, beruhigen mich andere. Nervig sind die mitleidigen Blicke: Eine Freundin, die ich selten sehe, fragt, ob ich derzeit date. Ich erzähle geübt ironisch, dass ich erneut die Marke von einem Jahr ohne Sex geknackt habe. Sie schaut betroffen: „Was ist denn los?“
„Einige Dinge bleiben erspart: Männer vor allem, und der schlechte Sex, der mit ihnen einherkommen kann.“
- Missy-Autorin Ivana Sokola
„Alles gut“, sage ich und glaube mir sogar. Mein Leben ist erfüllt. Ich mache Urlaub in Japan, bin beruflich viel unterwegs, veröffentliche Texte. Ich entspanne in der Sauna oder verbringe gemeinsame Zeit mit Freund*innen. Und einige Dinge bleiben erspart: Männer vor allem, und der schlechte Sex, der mit ihnen einherkommen kann. Manchmal frage ich mich: Sollte ich die Zeit nicht nutzen, in der ich – ungebunden, ohne große Sorgen und dann auch noch in Berlin lebend – einfach herumvögeln könnte? Vielleicht, aber dann bliebe weniger Zeit für Freund*innenschaften, Bücher, Unternehmungen.
So gut die Bestrebungen sind, sich zu befreien und in der Sexualität auszudrücken, vergisst man manchmal, dass Sex nur ein kleiner Teil des Lebens ist. Und Begehren, Intensität und Leidenschaft in anderen Bereichen ebenso entstehen können. Vielleicht hat die Abstinenz dann doch geholfen, das in Relation zu bringen – und mir selbst klarer zu machen, was ich von Sex eigentlich will.
Irgendwann ist es dann einfach wieder passiert, als ich selbst schon kaum mehr daran gedacht habe. Überraschend, mit Vorsicht, Zärtlichkeit und einer Frau, die meine Abstinenz gar nicht so seltsam fand. Ich kann beruhigen: Das war dann alles schnell wieder ganz natürlich.
Dieser Text (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)erschien zuerst in Missy 04/25. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)