Verspätetes Fühlen – was Generationen verbindet
Die eine flieht vor der Gestapo, die andere vor sich selbst. Zwei Bücher, zwei Welten – und ein unsichtbares Band.
In der vergangenen Woche habe ich zwei Bücher gelesen: „Himmel ohne Ende“ von Julia Engelmann und „Versuche, dein Leben zu machen“, von Margot Friedlander. Das eine ist die Autobiografie einer Holocaust-Überlebenden, das andere der Roman über eine Fünfzehnjährige, die sich an der Trennung ihrer Eltern und ihren eigenen Freundschafts- und Liebesbeziehungen aufreibt. Weil ich sie direkt hintereinander gelesen habe, ist mir besonders intensiv aufgefallen, wie sehr sich die Themen verschiedener Generationen unterscheiden und wie wenig sie vergleichbar sind. Gleichzeitig sind sie wie durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden.

„Versuche, dein Leben zu machen“, war die Botschaft, die Margot Friedlanders Mutter ihrer Tochter im Januar 1943 hinterlassen hat. Margots Bruder war gerade von der Gestapo geholt worden und die Mutter hatte sich entschieden, sich freiwillig als Jüdin zu melden, um bei ihrem Sohn zu bleiben. „Versuche, dein Leben zu machen“, sind die fünf Wörter, die Margot mit sich trug, während sie darum kämpfte, im Berliner Untergrund und später in Theresienstadt zu überleben.
Es sind die Worte, die dazu führten, dass sie sich Fragen stellte wie zum Beispiel: Warum hat meine Mutter sich für meinen Bruder entschieden? Und warum hat sie nicht auf mich gewartet? Im gesamten Buch geht es um Menschlichkeit, in ihrer positivsten und negativsten Ausprägung, um die Bedeutung von Entscheidungen, um Timing und die Erkenntnis, dass alle Menschen ihre eigene besondere Geschichte haben. Die Umstände sind dramatisch, erschütternd und teilweise unbegreiflich, gleichzeitig schreibt Margot Friedlander mit viel Ruhe und Entschiedenheit und es schwingt bei aller Schwere stets ein bisschen Leichtigkeit mit. Ich fühlte mich ihr noch viel näher als zum Beispiel Anne Frank, obwohl das Tagebuch der Anne Frank ohne Zweifel auch eine ganz besondere Magie hat.
Gefühle kann man nicht vergleichen
Die äußeren Umstände waren zum Verzweifeln, innerlich aber hatte Margot eine klare Ausrichtung. Im Buch von Julia Engelmann ist es genau umgekehrt. Die äußeren Umstände, in denen Protagonistin Charlie lebt, wirken auf den ersten Blick fast trivial: Trennung der Eltern, Stress mit der besten Freundin, unglücklich verliebt. Typische Teenager-Themen, könnte man denken. Unsere Generation und die nach uns, weiß gar nicht, was echte Probleme sind, dachte ich in einem ersten Impuls und nahm mir vor, dass ich, sollte ich mal wieder vor mich hin grübeln und am Sinn des Lebens zweifeln, noch einmal durchlese, wie Margot Friedlander sich als Jüdin in Berlin versteckt hat.
Im nächsten Schritt dachte ich: Es ist schon spannend, wie jede Generation andere Themen hat. Man sollte das nicht vergleichen. In Charlies Kopf ist es dunkel, dort wüten riesige Gedankenmonster, die täglich über sie herfallen. Das Buch hat eine Schwere, die dann und wann dazu führte, dass ich es lieber zur Seite gelegt hätte – ein Gedanke, der mir während des Buches von Margot Friedlander nicht einmal kam, obwohl besonders die Beschreibung der Menschen, die in Waggons aus Auschwitz kamen, überwältigend war.
Innere Räume öffnen
Ich habe mich gefragt, ob es sein kann, dass die Probleme sich in den vergangenen Jahren vom Außen ins Innen verlagert haben. Das heißt nicht, dass wir heutzutage keine Probleme mehr im Außen haben, allerdings scheint mir, dass wir gerade in der westlichen Welt mehr mit unseren Emotionen und den Dämonen in unseren Köpfen kämpfen als gegen reale Gefahren, aber nicht, weil es uns zu gut geht und wir vergessen haben, was Probleme sind, sondern vielleicht, weil sich in den vergangenen Jahren Räume in unserem Inneren geöffnet haben, die das überhaupt erst möglich machen – for better and for worse.
Julia Engelmanns Roman beschreibt eine Einsamkeit, die auch Margot Friedlander gespürt haben muss und ich habe mich gefragt, ob wir heute verspätet das fühlen, was die Generationen vor uns erlebt haben, was die aber aufgrund der Umstände nicht fühlen konnten, weil sie sonst nicht überlebt hätten. Es scheint, als hätte sich ganz viel emotionaler und mentaler Ballast in dicken Wolken angestaut, der über Städten und Ländern der Welt schwebt und Stück für Stück entladen und verarbeitet werden möchte.
Bei beiden Büchern fände ich es übrigens cool, wenn man sie in der Schule lesen würde.