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Tote Taube, Malvenwald

Ende Juli war auf dem Balkon der Kipppunkt erreicht. Die Natur hatte meine Pläne vereitelt. Das meiste, was ich im April eingepflanzt hatte, war einfach verreckt, der Rest hatte zum Schutz gegen die Raupen, Zikaden und Mottenschildläuse lederartige Blätter ausgebildet und nur noch ab und zu einen jungen Trieb aus dem Bunker nach draußen geschickt, um zu prüfen, ob die Luft rein ist.

Die Macht hatte die Wilde Malve übernommen, die ich im vergangenen Jahr ausgesät und großgezogen hatte und auf deren Überleben ich so stolz gewesen war. Jetzt wucherte sie alles zu, verzweigte sich hässlich und nahm allen anderen das Licht. Einer der Spitznamen der Wilden Malve ist Pissnelke, und so benimmt sie sich auch. So sah der Malvenwald aus, bevor ich ihn abgeholzt habe:

Wildes Grünes Blattwerk der Wilden Malve überwuchert das Objektiv der Kamera.

Im Topf der Katzenminze hatten sich die Ameisen ausgebreitet, die eigentlich in den Wurzeln des Schirmbambus leben; das tat der Katzenminze nicht gut, und ich musste den Ameisenbau aus den Wurzeln auswaschen und alles neu einpflanzen. Die Ameisen waren dann aber gleich wieder da und haben sich neu eingerichtet. Und die Spinnen, die mir auch im August ihre Netze in den Weg weben und mit denen ich trotzdem in friedlicher Koexistenz leben will, die ich nie umbringe und immer nur sanft umsetze, lachen mich wahrscheinlich aus.

Der Rest ist Völkermord. Das Handyspiel, das ich am häufigsten spiele, kann gar nichts anderes. Mein autistisches Gehirn hat zu viele Synapsen und erleidet Mikrotraumata durch Dauerüberlastung auf dem für mich falschen Planeten. Monotone Handyspiele bringen mir Entlastung. Bei meinem Lieblingsspiel ist Weltherrschaft ist das einzig einprogrammierte Ziel. Jedes Mal muss ich mit kleinen Soldaten Kesselschlachten ausfechten und dann die Dörfer der Feinde niederbrennen, weil sie Geld für die feindlichen Truppen erwirtschaften. Muss ich Widerstandsnester ausmerzen, Partisanen hinrichten, für den Endsieg. Denn wenn ich nicht alle anderen Zivilisationen vernichte, vernichtet eine davon meine Zivilisation, denn eine wird immer die Stärkste und schluckt alle anderen. Das ist die Pissnelken-Zivilisation.

Ich mache mir Sorgen um die Soldat*innen der Israeli Defense Forces. Kaum jemand versteht die Bedeutung von Tätertraumata. Wenn der ewige Krieg aufhören soll, muss man sie genauso behandeln wie Opfertraumata. Ich weiß das, weil ich die versteinerten Männer und Frauen aus der Generation meines Vaters erlebt habe, die von ihren eigenen Taten im Zweiten Weltkrieg nie etwas gewusst haben wollten, die angeblich immer nur Befehle befolgt haben und hinter deren gutbürgerlicher Fassade eine Gewaltbereitschaft lauerte, der ich als Kind mit meinen zu zahlreichen Synapsen ausgesetzt war, ohne sie verstehen zu können. Traumata werden weitergegeben. Verdrängung zementiert sie. Rachegefühle sind kriegsverlängernd.

Ich denke mir den Ort von Gewalt und Traumatisierung als Schaufelraddampfer. Auf dem Dampfer wohnen die Täter*innen und singen ein trauriges Lied über den Mississippi. Die, die für die Gewaltausübung die Strukturen schaffen, und die, die Gewalt direkt ausüben – die mit der Urwaldrodung oder den genozidalen Immobilienprojekten und die mit dem polizeilichen Schmerzgriff oder den Shahed-Drohnen. Ich denke mir die Täter*innen genauso traurig wie die Opfer, genauso erlösungsbedürftig, und ihre Taten lenken sie von ihrer Traurigkeit ab. Jede Gewalttat ist ein Versuch, die Traurigkeit zu vergessen.

Bei mir in der Straße werden seit ein paar Jahren viele Autos vorgezeigt, indem sie geparkt werden, vom tiefergelegten, hochgepimpten, nachtschwärzesten BMW-Coupé bis hin zum Ferrari oder Lamborghini. Ich weiß nicht, wie meine Straße zu einer Auto-Vorzeigestraße geworden ist, das ist einfach so, und einmal bin ich über die Straße gegangen und wollte auf der anderen Seite durch die Lücke zwischen zwei geparkten SUVs hindurch auf den Bürgersteig. In der Lücke stand aber ein Mann, spannte die Schultern und ließ mich nicht durch. Jetzt stand ich hilflos neben einem der beiden Autos auf der Straße.

Das war seltsam. Nach den Regeln des bürgerlichen Anstands hätte ja ein kleiner Ausfallschritt genügt, um mir kurz Platz zu machen. Aber der Mann stand da und versuchte, mich niederzustarren. Dann ging er doch genervt um mich herum. Er ging das Auto aufschließen, vor dem dieser kleine Showdown sich abgespielt hatte.

Und da verstand ich, was passiert war: Das war SEIN Auto! Und alles rund um sein Auto war natürlich SEIN Territorium, in das ich unerlaubt eingedrungen war. Das war sein Reich! Er war mir ein Dominanzverhalten schuldig gewesen!

Jeder deutsche Autofahrer ist ein Reichsbürger. Jede deutsche Autofahrerin ist eine Reichsbürgerin. Und das ist die Welt, in der ich lebe und die mich sehr sehr müde macht. Hier kurz ein Blick auf meinen Arbeitsplatz:

Links ein angeschnittener Computermonitor, rechts Papierstapel, dazwischen ein Blick auf das offene Fenster. Auf der Fensterbank sitzt eine Nebelkrähe und lugt mit schief gelegtem Kopf ins Zimmer.

Zu Krähen unterhalte ich stabilere Beziehungen als zu Menschen. Die Straße mit den Vorzeigeautos ist gleich hinter der Krähe. Und das hellblaue Rolls-Royce-Cabrio, das dort auch ab und zu steht, flasht mich jedes Mal. Was will es mir sagen? Ich bekomme das hellblaue Rolls-Royce-Cabrio nicht geregelt. Das Zeichen verweist auf etwas, aber ich weiß nicht auf was. Interessant!

Und heute morgen lag im Hof mitten auf dem Weg eine große tote Taube, wie drapiert. Auf ihren Augen saßen schon die Fliegen. Was war ihr passiert? Wie war sie dorthin gekommen, genau an diese Stelle, an der man sie nicht übersehen konnte? So, dass sie man einen kleinen Ausfallschritt machen musste, um um sie herum zu kommen?

Es gibt so viele Zeichen, die ich verstehe, und alle deuten darauf hin, dass es mit der Welt nicht gut enden wird. Ich halte mich an jedem Rätsel fest.

Die Taube habe ich beerdigt. Für ein Beerdigungsunternehmen für im Flug vom Schlag getroffene Tauben fände ich das hellblaue Rolls-Royce-Cabrio sehr schön. Übrigens bin ich dafür, dass das Patriarchat zerstört wird. Danke fürs Lesen, danke fürs Abonnieren oder eine Bezahlmitgliedschaft Abschließen, falls das Geld reicht!


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