Tagebucheintrag, 1 Jahr T - von Affen und Menschen, Steinen und Pauken
Drei kleine Haare. Rechts unten am Kinn. Mit bloßem Auge nicht zu erkennen.
Ich blicke auf mein Handy während dem Call, 6 freundliche Gesichter blicken zurück, jemand redet, wir sitzen überall in Deutschland verteilt in unseren Wohnungen und erzählen wie wir uns fühlen. Als neurodivergente Menschen.
Es geht um starke Gefühle, warum damit umgehen für uns so viel schwerer ist als neurotypische Menschen. Warum Langeweile körperliche Schmerzen macht, warum Beziehungen so doppelt herausfordernd sind, warum sich das Leben wie ein schwerer Stein anfühlt, den man doch nie ganz den Berg hochrollen kann. „Sisyphos hatte hundertpro ADHS!“ denke ich beim zuhören und rühre gedankenverloren in meinem Kaffee.
Ich merke inzwischen doch, dass mich die Haare irgendwie verunsichern, auch wenn es niemand erkennen kann, geschweige denn die Gefahr besteht, dass irgendjemand unpassende Kommentare dazu geben würde. Irgendwo, im muffigen, unaufgeräumten Winkel meines Hirns sitzt der kleine Affe wieder und spielt laut mit seinen Pauken. Je häufiger ich darüber nachdenke ob es sich nun gut anfühlt nach einem Jahr Testo Gesichtshaare zu haben wird das grollende Trommeln immer lauter in meinem Kopf. „Hexenhaare!“, „Du tust ja nur so als ob!“, „Bist nicht richtig, hähä!“ krakeelt der Affe und wird immer größer je mehr ich ihm Platz lasse.
Warum freue ich mich nicht einfach? Ich bin noch hier. Ich nehme noch immer Hormone, gehe diesen Weg noch immer.
Zwischendrin gab es eine Menge Tiefen, keine Frage. Aber wo ist die Freude hin..? Vielleicht ist auch einfach nur der Akku mal wieder leer. Weil die Welt da draußen unsere Selbstwahrnehmung so streng eingegrenzt hat, dass sich aufgrund dreier, kleiner, scheuer Haare am Kinn Paranoia gemischt mit Selbstwert Getöse und Gender Dysphorie mal 100 in meinen Kopf geschlichen hat. Unglaublich, irgendwie. Es ist auch hier ein tägliches Stein hochdrücken. In dem tiefen Wissen, dass es für viele andere Menschen auf der Bergspitze einfach ein Ziel gibt. Eine positive Bewertung, ein Ankommen. Doch trans* zu sein bedeutet auch zu wissen, dass da niemand wartet. Nur die Gewissheit, dass selbst der größte Stein irgendwann wieder langsam beginnt zurück zu rollen.
Ich versuche all dem nicht mehr so viel Raum zu geben in meinem Kopf während jemand überlegt ob es legitim ist ab und zu auch einfach mal auszurasten, wenn die Wut hochkocht.
Nach dem dritten Schluck Lupinenkaffee denke ich: „Was ist, wenn man die Dinge ins Schaufenster stellt, die schön sind und den Rest erst einmal hinten im Lager lässt?“. Ich halte inne und denke : JA!
Denn all das ist schön an dieser Hormonachterbahn:
Beinhaare
Eine tiefere Stimme haben und damit meine FLINTA* Friends keck anflirten (mit zum Teil überraschend schönem Feedback!)
Keine Regelblutungen & PMS mehr (hier bitte langen, tiefen und erleichterten Seufzer einfügen)
Ein rundum besseres Körpergefühl inklusive neuer Muskeln an unerwarteten Stellen
Mental ruhiger zu sein, wie ein kleiner Bummelzug langsam in einen neuen Bahnhof einfahren
Wäre da nicht dieser unerwartet dumme Sportunfall, könnte alles schön sein - sogar die Tatsache, dass die Antwort auf meine beantragte Mastektomie noch verzögert. Doch vor zwei Monaten verdrehte ich mir mein Knie beim Fußball. Und nun steht eine Operation eine Etage tiefer an, denn Kreuz - und Innenband sind gerissen. Was mental so schlimm für mich war, dass an Schreiben in keiner Sekunde zu denken war, fühlt sich nun zuversichtlicher an. Und kann ja fast eine kleine Übung für alle kommenden OPs sein. Um dann endlich in dem Körper anzukommen, der Freude macht, mit dem ich mich traue ich zu sein. Ohne blöde Pauken im Kopf und kreischende Affen.
Ein Jahr Testo. Ein Jahr auf dem Weg zu mir. Die Reise geht weiter.
Wie schön, dass ihr dabei seid. Danke dafür. Von Herzen.
Bis gleich!