HOMO FILIPINII
LITERATUR-KRITIK
Die Philippinen – Inselparadies und dennoch kein Sehnsuchtsort für die meisten Menschen im deutschsprachigen Raum. Wenn Südostasien, dann für die meisten schon Thailand oder Indonesien (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Bevor ich im letzten Jahr durch Zufall für einen Monat dort landete, sagte mir jemand: „On the Philippines? Oh, only gays there.“ Das war mir nicht bewusst, aber in der Tat ist Homosexualität in diesem größten katholischen Land Asiens überraschend weit verbreitet und akzeptiert.
Noch ignoranter als schon dem ganzen Land gegenüber sind wir, wenn es um philippinische Literatur (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) geht. Na, wer kennt eine*n Schriftsteller*in von den Philippinen? Ich reihe mich hier in die Riege der Ignoranten ein – umso erfreulicher also, dass die Philippinen Gastland der Frankfurter Buchmesse 2025 sind. Das verspricht das eine oder andere philippinische Buch in unseren Regalen.

Der Junge aus Ilocos heißt der von Andreas Diesel für den Albino Verlag ins Deutsche übertragene Roman von Blaise Campo Gacoscos, der bereits im April 2025 erschienen ist. Es ist eine Sammlung von acht Geschichten über Victor, einen Filipino aus der Region Ilocos im Nordwesten der Hauptinsel Luzon, auf der auch die Hauptstadt Manila liegt.
Victor altert mit den Geschichten. Anfangs noch ein kleiner Junge in Ilocos, der im kärglichen Heim der Mutter aufwächst und nachts Drachen steigen lässt, geht er später in die Hauptstadt, erlebt dort als gut vernetzter Reporter die (Un-)Annehmlichkeiten des philippinischen Boulevard, besucht Badehäuser und beherbergt seine Mutter während einer Untersuchung. Später und nach der einen oder anderen Wendung der Karriere geht es zurück nach Ilocos. Was zieht ihn nach Hause?
https://steady.page/de/018e38c0-7a57-4e1c-b5b8-4c831b91d2f7/posts/75b5f924-1509-422f-8ea9-36c94be7a906 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Die Mutter liebt er abgöttisch, der Vater ist die große Unbekannte, denn er hat die Familie früh verlassen. Victor lebt mit dieser Leerstelle in seinem Sein, ebenso wie mit der erst latent angedeuteten, später immer offener in den Geschichten behandelten Homosexualität. Sie ist ebenso Teil seines Lebens wie die omnipräsente Kirche oder die (Nachwirkungen der) Diktatur (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
In acht Geschichten begleiten wir Victor durch dieses Leben, bleiben aber irgendwie immer nur Beobachter*in. Anders als in anderen Geschichten wollen wir nicht eingreifen, sondern einfach die Dinge geschehen lassen. Die Erzählung fokussiert immer auf ihren Hauptcharakter, wir bemerken, wie er sich in manchen Dingen entwickelt, aber auch, wo sein Charakter Kontinuität aufweist.
https://steady.page/de/018e38c0-7a57-4e1c-b5b8-4c831b91d2f7/posts/2b645d20-d1a7-43fe-936e-2b9a1d0dcaed (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Diese Form der Erzählung trägt über rund 130 Seiten und nun stellt sich die Frage: reicht das? In gewisser Weise ja, denn es sind gerade die Leerstellen, die uns fragen lassen, was Victor durchgemacht haben muss, dass er zu dem geworden ist, wie wir ihn in der jeweils aktuellen Geschichte kennenlernen. Hier lässt uns Blaise Campo Gacoscos Raum zur Interpretation und liefert uns nur Bruchstücke, aus denen wir selbst etwas machen müssen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Victor ist ein komplexer Charakter, das merken wir schnell. Die Schlaglichter, die wir aus seinem Leben bekommen, zeigen uns eine Realität, die unsere sein könnte – und doch wieder nicht. Literarisch ist das nicht herausragend, aber doch zumindest unterhaltsam und regt uns zum Nachdenken an.

Auf den Philippinen leben etwa 110 Millionen Menschen, mehr als in Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammen. Die Lebensrealität und -umstände vieler Menschen im Staat der über 7 000 Inseln ist aber ganz anders als in Mitteleuropa. Viele junge Menschen, die nicht der heterosexuellen „Norm“ entsprechen, werden aber mit ähnlichen Herausforderungen wie Victor kämpfen.
https://steady.page/de/018e38c0-7a57-4e1c-b5b8-4c831b91d2f7/posts/7eff1054-ad2d-4f96-bad2-6336a1bfdf9c (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Das verbindet. Oder es kann verbinden. Am Ende sind wir alle Menschen, egal ob auf Luzon oder in Leipzig, auf Camiguin oder in Cham, auf Siargao oder in Stockerau. Menschen mit einer eigenen Geschichte, die uns ausmacht. Eine solche erzählt Blaise Campo Gacoscos in Der Junge aus Ilocos, gibt uns ein wichtiges Glossar mit philippinischen Begriffen an die Hand und zeigt uns doch, wie sehr sich Leben und Leiden auf allen Seiten der Erde gleichen können.
HMS
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Eine Leseprobe findet ihr hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Blaise Campo Gacoscos Der Junge aus Ilocos (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre); 152 Seiten; Aus dem Englischen von Andreas Diesel; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-86300-389-0; Albino Verlag; 22,00 €