Zwischen Weltlust und Sprachbarriere – Reisen mit neuen Ohren

Ich liebe das Reisen – nicht nur als geographische Bewegung, sondern als innere Expedition, als Horizonterweiterung, als philosophischen Versuch, das Selbst im Spiegel des Anderen zu betrachten. Länder zu entdecken heißt für mich: in ungeschriebene Kapitel der Weltgeschichte einzutreten. Menschen zu begegnen heißt: lebendige Archive ihrer Herkunft, ihrer Gesten, ihrer Dialekte zu öffnen. Kulturen zu erleben bedeutet, in orchestrierte Symphonien aus Geschichte, Ritualen, Gewürzen und Gerüchen einzutauchen – oder in ein Orchester, das gerade ohne Dirigenten in die Oboe hustet.
Das Meer – ein unendlicher Möglichkeitsraum. Die Berge – steinerne Kathedralen der Stille. Die Wälder – grüne Bibliotheken, in denen jedes Blatt ein Manuskript der Schöpfung darstellt. In dieser Überfülle fand ich stets Schönheit und Sinn – und, vor meiner Ertaubung, auch Leichtigkeit im Reisen. Mit Englisch als Schlüssel öffneten sich mir Türen in Asien wie in Europa, Gespräche begannen spielerisch, Begegnungen flossen selbstverständlich. Erst jetzt, nach dem Hörverlust, ist dieser Schlüssel nicht mehr so geschmeidig im Schloss. Was früher selbstverständlich war, klingt heute stolpriger, brüchiger, manchmal wie ein fehlerhaft übersetztes Untertitel-Menü.
Ich war stets dankbar, dass die englische Sprache mir als Brücke diente. Doch die Ertaubung veränderte dieses Fundament radikal. Plötzlich war es nicht mehr das fehlende Wort, das mir im Weg stand, sondern das fehlende Ohr. Oder besser: das fehlende Hören und Sprachverstehen. Ein Dialog wird eben schwierig, wenn man von Shakespeare nur die Pausen hört.
Hier zeigt sich, in nüchterner Terminologie, die kognitive Überlastung: Während Hörende simultan hören, dekodieren, kontextualisieren und reagieren, stehe ich vor einer lückenhaften Informationslage. Die akustische Botschaft erreicht mich nicht vollständig. Ich höre Fragmente, Splitter, amorphe Klangreste. Mein Gehirn muss aus einem Lückentext etwas Sinnvolles konstruieren – eine Art „Escape Room für Synapsen“, bei dem man nicht einmal weiß, ob der Schlüssel unter dem Teppich liegt oder im Zimmer nebenan.
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