Paria und Parvenu oder: Hannah Arendt - die "Initialzündung"
Betritt der Paria handelnd die Bühne, dann wird er zum Rebell - so sinngemäß Hannah Arendt in ihrer Schrift "Die verborgene Tradition". Verfasst wurde der Text 1944. Hier rekonstruiert sie Biografien von jüdischen Persönlichkeiten. Solchen, die sich in "leidenschaftlicher Opposition zu ihrer jüdischen wie auch nichtjüdischen Umwelt" individualisierten, über kollektive Identitäten hinauswuchsen mit Hilfe von Einbildungskraft in Kopf und Herz. Sie untersuchte die Biografien wie dem Philosophen Samuel Maimon, Heinrich Heine, Franz Kafka - mit diesem endete Arendts Ansicht nach die Möglichkeit, noch Paria zu sein. Weil selbst der Parvenu zum Gesetzlosen erklärt wurde. Zu diesem später mehr.
Paria - das sind jene, die sich der Assimilation verweigern. Also im Falle jüdischer Historie sich den Vorgaben der christlichen und ebenso der säkularen Mehrheitsgesellschaft, somit im Falle letzterer auch dem Druck der Aufklärung entzogen. Sich NICHT taufen ließen, obgleich sie mit der "Judenmission" von christlicher Seite traktiert wurden und trotz der proklamierten Gleichheit aller Menschen im Namen der Vernunft, die doch realhistorisch dazu neigte, das Partikulare tilgen zu wollen, trotzig und selbstbewusst an eigenen Haltungen, Sitten, Gebräuchen, Kommunikationsformen und Sichtweisen festhielten.
Als Parvenu hingegen begriff Arendt das Gegenteil: den Weg in die Anpassung, heute würde man wohl von "Integration" sprechen. Also all das, was als individuell, anders, im konkreten Fall jüdisch als Prägung und Seinsweise die Persona formt hinter sich zu lassen und stattdessen um den Preis von Selbstaufgabe und Verleugnung in Modi der Assimilation zu wechseln - und dabei zugleich den Schutz der eigenen Community zu verlieren. Weil nur das den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglicht. "Paria" ist abgeleitet von den unteren Kasten in südindischen Regionen - die Unberührbaren; im Sinne Arendts meint das gesellschaftliche Außenseiter. "Parvenu" dient als Bezeichnung der Emporkömmlinge.
Bei meiner ersten Auseinandersetzung mit dem Werk Arendts im Jahre 1991 lockten Passagen zu diesem Begriffspaar - oder auch diesen konkurrierenden Seinsweisen - mich in ihr Denken hinein. Ich besuchte bei Ina Lorenz, die zugleich am Institut für die Geschichte der Deutschen Juden an der Rothenbaumchaussee wie auch in der liberalen jüdischen Gemeinde Hamburgs aktiv war, im Rahmen des Sozial- und Wirtschaftsgeschichtsstudiums ein Seminar. Der Inhalt: die Biografien berühmter jüdischer Persönlichkeiten. Im Falle Arendts meldete ich mich zu einem Referat. Der Name erzeugte eine Resonanz in mir - ich hatte ihn irgendwo gehört, vermutlich in Philosophieseminaren. Als erstes, zum Einstieg, besorgte ich mir, wie damals üblich, die "rororo Bildmonografie", verfasst von Wolfgang Heuer. Im Kapitel zum "Schicksal des europäischen Judentums" stieß ich auf die oben grob zusammengefassten Passagen zur Tradition der jüdischen Paria.
Faszination ergriff mich - eine Welle von Zugängen zur Welt, auf die ich beinahe schon gewartet hatte, spülte durch mein Denken. Ich jobbte damals in der Behindertenarbeit, wehrte mich seit 3 Jahren gegen vieles im Werk Michel Foucaults, um es dann doch in Teilen zu absorbieren und pilgerte durch schwule Kneipen und Clubs in Hamburg. Michel Foucault hat in anderen Begriffen ebenso die Geschichte der Paria dieser Gesellschaft verfasst, den Umgang mit den zum Anderen erklärten. Hat also den Umgang mit den Wahnsinnigen, den Schwulen, den Inhaftierten analysiert und zugleich deren gesellschaftlich gewollte Fabrikation herausgearbeitet. Man braucht diese Gruppen, damit die Mehrheitsgesellschaft in Abgrenzung zu ihnen sich selbst normalisiert. Solche Mechanismen spürte Foucault auf in quer zum Mainstream stehenden Suchbewegungen in Archiven und verdichtete sie in seinem umfassenden Werk.
Das Begriffspaar Arendts pointierte in meinen Augen das, was er ebenso praktizierte, obgleich nicht aus jüdischer, sondern aus queerer Sicht.
Arendt formulierte in ihren großen Werken explizit jüdische Perspektiven auf die Mehrheitsgesellschaft und, in den Worten Foucaults, auf deren Normalisierungs- und Ausschlusssregime. Sie betrieb mit Wucht, Präzision und Sarkasmus die Entlarvung dominanter kultureller Formationen in einer Haltung, die aktuell als "Aktivismus", "Identitätspolitik" und "woke" gelabelt wird; die das, was sie den selbstbewussten Paria nannte, auch lebte, artikulierte - in unvergleichlicher Angriffslust.
Es gibt die unterschwellige Ähnlichkeit der Themen und Zugänge in den Werken Michel Foucaults und Hannah Arendts, die auch das Rüstzeug bereitstellen, sich gegen aggressiv alle Menschen - oder Volksgenossen - auf ihr Niveau reduzieren wollende Kulturstaatsminister, Mehrheitsfetischisten, Nivellierungs- und Gleichschaltungsexperten zu wehren. Ihnen in wuchtige Analysen wirkungsmächtig hier und da auch Hohngelächter entgegen zu schleudern, das kann man von Arendt lernen.
In der Ankündigung eines "Konkurrenzprojektes" (Si apre in una nuova finestra) zu der TV-Dokumentation zu Hannah Arendt, an der ich derzeit arbeite, verweist queer.de (Si apre in una nuova finestra) auf die Aneignung des Konzeptes des "selbstbewussten Paria" in queeren Zusammenhängen .
Für mich war genau das tatsächlich der Ausgangsimpuls, mich seitdem immer wieder mit ihrem Werk zu beschäftigen - eben das Wissen darum, dass gerade Außenseiterperspektiven den Blick auf das, was in Mehrheitsgesellschaften als Unheil produziert wird durch Zwang, Normierung und soziale Kontrolle, schärfen können. Ihre Urteilskraft erweist sich dann, wenn der Weg des Parvenu nicht eingeschlagen wird, als besonders treffsicher und kann in jene Schärfe münden, Arendt in ihrem Werk so beeindruckend artikuliert.
Ich dachte, eingebildet, wie ich bin, dass diese Form der Arendt-Aneignung in queeren Zusammenhängen mein Weg gewesen sei. Nun las ich, dass auch Andere ihn gegangen sind. Ich wusste, dass Judith Butler sich mit kosmopolitischen, jüdischen Traditionen beschäftigten. Somit auch jenen Ansätzen Arendts, die den Widerspruch zwischen exklusiv und partikular Staatsbürgern zugestandenen Grundrechten und universell Geltung beanspruchenden, allgemeinen Menschenrechten herausarbeiteten. Andere Aneignungen kannte ich nicht.
Das führte zu einer amüsanten Kommunikation mit der KI-Textmaschine Claude. Ich fragte, welche Bezüge welcher Denker*innen es denn nun konkret gäbe, also zwischen Arendts selbstbewusstem Paria und Queer Studies. Claude spuckte aus, dass neben Butler auch Lee Edelman und José Esteban Muñoz, zwei Größen dieses Feldes im Falle von Forschungen in den USA, solche Verbindungen geschaffen hätten. Das erstaunte mich, zumindest Muñoz hatte ich gelesen und war in seinen Texten eher auf Marcuse, Bloch und sogar Adorno gestoßen - alles nicht die Favoriten Hannah Arendts. So hakte ich nach, in welchen Werken ich das denn finden könne. Claude entschuldigte sich in der nächsten Antwort, dass ihm das gewissermaßen "rausgerutscht" sei - tatsächlich habe er bei intensiverer Suche im keinem der Werke von den genannten Autor*innen etwas aufgespürt. Die Antwort sei wohl etwas voreilig gewesen.
Das zeigt wohl auf, wie Wirklichkeitskonstruktion sich formiert, wenn man sich auf KI verlässt. Nun ist keines dieser Tools die allwissende Müllhalde, es kann also sein, dass es Bezüge gibt, die Claude auch nicht findet und die mir entgangen sind.
Da KI-Modelle selbst zu Nivellierung, Normalisierung und Assimilation an dominante kulturelle Formationen neigen, zeigte dieser "Chat" wohl auf, dass der Blick auf das Besondere, sich der Gleichschaltung Entziehende, geradezu prädestiniert dafür ist, die neu entstehende Ordnung der Maschinen und Algorithmen aufzubrechen und in den entstehenden Nischen und Spalten neues Denken zu pflanzen.
So ungefähr lässt Arendt sich lesen. Sie schlägt Schneisen durch das historische Material, die so zuvor niemand gefunden hätte, sortiert und strukturiert die philosophische Tradition neu, findet Moralität und Politik nicht in den Schriften Kants zur Moralphilosophie, sondern in dem, was allseits als dessen Ästhetik gilt - in der "Kritik der Urteilskraft". Sie operiert mit existenzphilosophischen Motiven, vor denen andere sich scheuten, als diese längst in Verruf gerieten und prägt Slogans wie jenen von der "Banalität des Bösen", einer Diagnose, die bis heute schockiert. Ein gedankenloses Mitmachen, nicht nur blanker Hass produziert oft den ganz realen gesellschaftlichen Horror. Deshalb hat niemand das Recht, zu gehorchen und die eigene Urteilskraft auszuknipsen (und sei es durch KI-Einsatz). Aus der Seinsweise des Paria erst entsteht eine Algorithmen auflösende Denkbewegung.
In Zeiten, wo pauschal "Polarisierung", "Spaltung" etc. gegeißelt und allesamt zur permanenten freiwilligen oder erzwungenen Selbstgleichschaltung im neovölkischen, rechten Sinne aufgefordert werden (nennt sich neuderdings “Neutralitätspflicht”), kann Arendt inspirieren und Gegenbewegungen anstoßen. Auch, weil sie, anders als Michel Foucault, auf Basis eines klaren normativen Fundaments agiert - eben des Rechts aller gleichermaßen, Rechte zu haben. Ganz unabhängig davon, zu welcher gesellschaftlichen Gruppe sie gehören, ob sie über Staatsbürgerschaft verfügen oder nicht - dieses Diktum gilt prinzipiell, immer und überall.
Die derzeit dominanten politischen Konstellationen, die Attacken auf die Genfer Konvention, das Asylrecht, das dominierende Denken in Grenzen und Ethnien, die offenen Angriffen bis in die Sprache hinein auf “Devianz”, all das zeigt, wie wichtig und brandaktuell die Aneignung der Sicht des selbstbewussten Paria derzeit ist.
Es ist verblüffend und erschreckend, beschäftigt man sich über platte liberale Slogans hinaus derzeit mit Arendts Werk, dass es vollständig quer zum Denken und den Praxen derzeitiger Politiken derer steht, die zwar bereit wären, bei Arendt-Preis-Verleihungen die Laudatio zu halten - aber nur dann, wenn die richtigen Jüd*innen ihn erhalten. Also keine, die wie Arendt eher kosmopolitisch und postnational denken und dabei auch noch "Identitätspolitik" und "Aktivismus" betreiben.
Wir brauchen Hannah Arendt mehr denn je. Ihr Werk durch diese Linse des selbstbewussten Paria zu lesen kann davor schützen, als Parvenu besinnungslos der Banalität zu verfallen.
(Mitgliedschaften und Newsletter-Abonnements helfen mir dabei, diese Seite zu pflegen. Herzlichen Dank!)