Zur Politik des Imaginären - können Menschen zwischen Fantasie und Wirklichkeit unterscheiden?
Steuert kollektive Imagination die Bewegungen politischer und ökonomischer Kräfte? Bisher wird das noch anders beschrieben.
Gängige Modelle des Politischen wie auch Ökonomischen suggerieren, dass sich Akteure an Gründen orientieren würde. Eher an den Homo Oeconomicus angelehnte Ansätze nehmen an, individueller Eigennutz verschränke sich kollektiv so, dass im Sinne des Utilitarismus - also “gut ist, was nützlich ist” - das Gemeinwohl automatisch entstünde. Funktionalistisch-autoritäre Modellen zufolge würden politische und ökonomische Systeme Gründe generieren, die auf Systemerhalt bzw. Etablierung neuer Systeme setzten - wozu auch "Familie, Kirche, Vaterland" als Stabilisierungsschema zählen kann, eine rassistische Flankierung funktionaler Politiken ebenso. Diese Ausgrenzungs- und Selektionsforderungen operierten als mächtige Akteure in Politik und Wirtschaft stützende Ideologien wie ebenso die Rede von "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." Normative Modelle begründen im Gegensatz dazu so, dass sie sich z.B. an Verfassungsgrundsätzen orientieren und sich aus diesen Handlungen anleitende Maximen ergäben. Das ist aktuell ziemlich out. Eher pragmatische Ansätze folgen dem, was praktisch in der Sache begründet konkrete Ziele ansteuere, und verzichten auf das Prinzipielle.
Aber kann einer dieser Ansätze die politische Lage erklären?
Wieso sind so viele heute politisch einflussreiche Menschen z.B. vom "Herrn der Ringe" beeinflusst, wieso kann eine Autorin wie J.K. Rowling konkrete politische Macht entfalten, wieso fing der Booster für die AfD damit an, dass in sozialen Medien ein Storytelling einsetzte, die Flüchtlinge aus Syrien seien eine verkappte Invasion zur Landnahme des Islam? Wie können Sprüche wie "die Migranten essen Hunde" zu Wahlkampfschlagern avancieren oder die Vergewaltigungsfantasien von cis-Menschen über ein paar Zwischenschritte dazu führen, dass der oberste britische Gerichtshof per Beschluss verfügt, was eine Frau sei? Positiv formuliert - wie entstehen Produktideen? Manche sagen, es seien Problemlösungen. Aber kann man über eine reine Problemanalyse Solartechnologie oder das iPhone generieren?
Vermutlich unterschätzen viele der aktuellen Ansätze, Politik zu begreifen, die Macht kollektiver Imagination. Manche der aktuellen Diskurse, seien es elterliche Wahnbilder von "Frühsexualisierung" durch Queers, seien es Proklamationen der US-Heimatschutzministerin Kristi Noem, Los Angeles, Hoch- und Trotzburg des Kapitalismus und Zentrum einer der größten Ökonomien der Welt, sei eine sozialistische Enklave? Wirkten so nicht auch der Verschwörungstheorien genährte historische Antisemitismus oder der Hexenwahn in der frühen Neuzeit - Kollektivpsychosen mit fürchterlichen Folgen.
Besonders erfolgreich sind politisch derzeit jene, die Ängste nähren. Die damit operieren, dass es Anderen schlechter gehen möge als einem selbst. Die Überlegenheitsfantasien fördern oder religiöses Storytelling zirkulieren lassen, das dazu dient, Menschen in Ohnmacht zu halten unter Berufung auf fiktive Gottheiten. Das Imaginäre füttert dabei Fürwahrhaltungen an, die in Zeiten von Social Media keine empirische Überprüfung zulassen. Die z.B. z.B. im Falle von Queerfeindlichkeit und Rassismus besonders stark da wirken, wo weiße Heteros unter sich bleiben.
Der Grund könnte darin liegen, dass neuropsychologische Studien feststellten, dass Imaginäres und Reales sich im täglichen Operieren von Menschen tatsächlich mischen. Dass Menschen schon im Alltag aus kognitiven und emotionalen Gemengelagen heraus agieren.
Sowohl die Lebhaftigkeit von Vorstellungen als auch die Sichtbarkeit von Wahrnehmungen korrelieren mit Aktivierung in denselben Hirnarealen, so die Studie. In zukünftigen Szenarien, in denen Hirnstimulation oder Virtual-Reality-Technologie starke sensorische Signale erzeugten, könnte es schwieriger werden als gedacht, Realität und Fiktion zu unterscheiden.
Eben hier greift auch die Gefahr von KI. Bildmanipulationen gibt es, seitdem es Bilder gibt - aufgrund des immensen Fortschritts von KI im Falle z.B. von Googles VEO 3 (Si apre in una nuova finestra) hebt sich auch in der physisch-virtuellen Welt (Hardware gibt es ja weiterhin) der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Imagination auch in Fällen auf, die nicht auf die Computeranimationen in Blockbustern beschränkt bleiben.
Aber, wie die politische Lage zeigt, braucht es das noch nicht einmal - Angst und Abscheu schürendes Storytelling, das mit Assoziationen zwischen subjektiv als schlimm Empfundenem und Markierungen einer Fremdgruppe arbeitet, diese Szenarien emotional auflädt durch Angststimulation, stachelt auch ohne Bilder kollektive Fantasien an. Man braucht nur fortwährend Verbindungen zwischen, um ein neutrales Beispiel zu wählen, Schlümpfen und Massenvergwaltigungenbehaupten, immer wieder diese Verbindung pushen, schon geraten Schlümpfe in ernsthafte Gefahr und manche glauben gar, dass es sie wirklich gäbe. Solche Verknüpfungen sind es, die kollektiv wie auch global Wahrnehmungen strukturieren und politisch instrumentalisiert werden können - von Heizungsgesetzen bis hin zu Dehumanisierungspraxen: man muss sich Fremdgruppen nur scheußlich genug vorstellen, dann kann man sie der Vernichtung aussetzen.
Die Fantasien sind, und deshalb taucht vermutlich der "Herr der Ringe" so häufig auf, eingebettet in Vorstellungen von Figurengruppen, Zwerge, Elben und Hobbits, die gegen subtil manipulierende Übermächte agieren oder aber wie Orks in Saurons Namen angreifen. Deswegen wirken viele dieser Schemata ja auch oppositionell; sie tun immer so, als würden sie lediglich Selbstverteidigung betreiben gegen finstere Zerstörungskräfte.
Imaginationen scheinen so da besonders stark politisch zu wirken, wo der Survivalmodus in Verteilungskämpfen stimuliert wird. Also der Kampf um das nicht nur individuelle Überleben, sondern das von Gruppen. Man muss Bürgergeldempfänger*innen nur lange genug als eine "Parasiten"-Epidemie darstellen, die sich von der Lebensenergie bzw. Arbeit Anderer ernähren, dann kann man sie offen bekämpfen.
Dieses Ängste schürende System der Imagination wirkt aktuell flächendeckend. Die tatsächlich gut begründete Angst vor einer Machtübergabe an die AfD mündet politisch deshalb nicht in Konsequenzen, weil die Regierungsparteien auf demselben Feld der Imagination operieren wie die AfD selbst.
Das hat für progressive Kräfte immense Konsequenzen. Man kann versuchen, mit Angstanstachelung bzgl. anderer Phänomene dagegen zu wirken. Nur dass im Falle furchtinduzierter Imagination eher die konservative Selbstabschottung, den Vorgarten zu verteidigen und die Fenster zu verrammeln, mobilisiert wird. Es ist schwer, dann, wenn unterschwellige Panik regiert, auf Utopien zu setzen.
Aber es scheint dennoch alternativlos. Es kann nur darum gehen, statt Dystopien zu imaginieren, bis sie wahr werden, sich wieder eine bessere Zukunft vorzustellen.
Es müssen emotional aufgeladene positive Fantasien entwickelt werden - solche, die zugleich dem Überleben dienen. Das funktioniert nicht, wenn man nur "Anti" und "Diskriminierung" in den Mittelpunkt rückt. Man bleibt auf das bezogen, was man kritisiert. Grüne Städte voller Bäume mit Freiheit inmitten von ästhetisch ansprechenden Solaranlagen, positive futuristische Bilder gelingenden und angstfreien Zusammenlebens in Sicherheit unter Verschiedenen, darum kann es nur gehen. Hervorzuheben, wie viele Freiheitsmöglichkeiten die Bewegungen der 60er Jahre mit sich gebracht haben - für ALLE.
Wenn in den USA bis zu 11 Millionen gleichzeitig auf die Straße gehen, um für eine solche Welt zu demonstrieren, dann entsteht dabei ein möglicher Imaginationsraum.
Emotionalisierende Fantasien dürfen weder den Rechten überlassen bleiben, noch dürfen sie permanent auf sie bezogen bleiben.
Die Chance steht aktuell auch so schlecht nicht, wenn man sich das von Ethnonationalisten allseits verursachte Grauen anschaut. Es wird deutlicher, dass sie es sind, vor denen man berechtigt Angst haben muss.
Es sollte der Mut zur Imagination erneut entwickelt und ausgebaut werden. Auch in Ökonomien. Daran sollten wir arbeiten.