Die heilige Indifferenz – Eine besondere spirituelle Haltung im Detail
In einer Zeit permanenter Reizüberflutung, ständiger Selbstoptimierung und wachsender Unsicherheit gewinnt ein fast vergessenes spirituelles Prinzip an Relevanz: die heilige Indifferenz. Was zunächst nach Rückzug oder emotionaler Kälte klingen mag, offenbart sich bei näherer Betrachtung als hochentwickelte geistige Haltung – eine Freiheit im Innersten.
Dieser Artikel beleuchtet die Ursprünge dieses Konzepts in der christlichen Mystik, vergleicht es mit verwandten Ideen aus dem Buddhismus und dem Vedanta, und zeigt seine Relevanz für ein bewusstes Leben heute.
1. Ursprung: Die ignatianische indifferentia
Der Begriff der heiligen Indifferenz (lat. indifferentia) geht auf Ignatius von Loyola (1491–1556), den Gründer des Jesuitenordens, zurück. In seinen „Geistlichen Übungen“ (Exercitia spiritualia, 1548) beschreibt er eine Haltung, in der der Mensch frei wird von inneren Neigungen, um dem Willen Gottes folgen zu können.
Zentral ist dabei der berühmte Satz aus dem Grundprinzip der Exerzitien:
„Wir müssen uns in allem so verhalten, dass wir nicht mehr verlangen nach Gesundheit als nach Krankheit, nach Reichtum als nach Armut, nach Ehre als nach Unehre, nach langem Leben als nach kurzem usw.“
Diese Haltung ist keine passive Gleichgültigkeit, sondern ein Zustand geistiger Verfügbarkeit, der es erlaubt, sich frei und ohne Ego-Interesse der göttlichen Führung zu öffnen. Sie zielt auf innere Unabhängigkeit gegenüber weltlichen Bedingungen – eine Voraussetzung für spirituelle Klarheit.
2. Vergleich: Nicht-Anhaften im Buddhismus
Auch im Buddhismus findet sich ein zentrales Prinzip, das der heiligen Indifferenz funktional sehr nahekommt: das Nicht-Anhaften (upādāna) bzw. die Praxis des Loslassens (vossagga).
Im Dhammapada (Vers 277) heißt es:
„Alle Erscheinungen sind vergänglich – wenn einer dies mit Weisheit erkennt, wendet er sich ab vom Leiden.“
Anhaften gilt im Buddhismus als eine der drei Hauptursachen für das Leid (dukkha) – neben Gier (lobha) und Hass (dosa). Der arahant, der vollendete Mensch, lebt in völliger innerer Unabhängigkeit. Er lässt sich weder von Begierden noch von Ablehnung leiten – eine Form der geistigen Unberührtheit, die der christlichen Indifferenz stark ähnelt.
Zudem lehrt die buddhistische Gleichmutspraxis (upekkhā) – eine der vier Brahmaviharas (edle Verweilzustände) – das bewusste Gleichmaß des Geistes gegenüber allen Erscheinungen. Sie ist nicht kalt, sondern durchdrungen von Klarheit, Mitgefühl und Weisheit.
3. Entsprechung im Vedanta: Vairagya
Auch in der indischen Philosophie – speziell im Vedanta – findet sich ein strukturell verwandtes Konzept: Vairagya(वैराग्य). Der Begriff setzt sich aus vi- (losgelöst) und rāga (Leidenschaft, Verlangen) zusammen und bezeichnet die Leidenschaftslosigkeit gegenüber Objekten der Welt.
In der Bhagavad Gita (Kap. 2, Vers 57) heißt es:
„Wer unberührt bleibt von äußeren Umständen, wer Freude und Leid mit Gleichmut begegnet und frei ist von Anhaftung – der besitzt wahre Weisheit.“
Vairagya ist im klassischen Vedanta eine der vier Voraussetzungen (sādhana chatuṣṭaya), um zur Erkenntnis des Selbst (ātman) zu gelangen. Ohne diese Fähigkeit, sich nicht mit Besitz, Status, Gefühlen oder Gedanken zu identifizieren, bleibt der Geist verhaftet in Maya – der illusionären Welt der Erscheinungen.
4. Psychologische Perspektive: Indifferenz als Selbsttranszendenz
Aus psychologischer Sicht kann die heilige Indifferenz als eine Form der Selbsttranszendenz verstanden werden – also der Fähigkeit, über das eigene Ich hinauszuwachsen. In der modernen Transpersonalen Psychologie (vgl. Ken Wilber, Stanislav Grof) wird diese Entwicklung als notwendiger Schritt in höheren Bewusstseinszuständen beschrieben.
Auch Viktor Frankl beschreibt in seiner Logotherapie, dass die Freiheit des Menschen in der Haltung liegt, die er zu den Gegebenheiten einnimmt – auch (und gerade) dann, wenn diese nicht geändert werden können.
5. Praktische Umsetzung heute
Die heilige Indifferenz kann im Alltag kultiviert werden – nicht als emotionale Abstumpfung, sondern als geistige Übung der Freiheit:
Beobachtung statt Reaktion: In Momenten emotionaler Aufgewühltheit bewusst innehalten und wahrnehmen – ohne sofort zu bewerten.
Entscheidung aus der Tiefe: Nicht aus Angst oder Gier handeln, sondern aus innerer Klarheit. Fragen wie: Was dient dem Ganzen? können helfen.
Loslassen trainieren: Kleine Rituale der Entsagung (z. B. Handy auslassen, auf Genuss verzichten) fördern geistige Unabhängigkeit.
Fazit
Ob indifferentia, upekkhā oder vairagya – in allen spirituellen Traditionen findet sich die Vorstellung einer Haltung jenseits von Anhaften, Angst und Ego. Die heilige Indifferenz ist keine Entfremdung vom Leben, sondern eine radikale Hinwendung zur Wahrheit – jenseits von Vorlieben und Abneigungen. Wer sie praktiziert, lebt nicht weniger, sondern klarer, ruhiger, wahrhaftiger.
Literaturhinweise:
Ignatius von Loyola: Exerzitienbuch (1548)
Bhaktivedanta Swami Prabhupada (Hrsg.): Bhagavad-Gita wie sie ist
Nyanatiloka: Buddhistisches Wörterbuch
Viktor E. Frankl: … trotzdem Ja zum Leben sagen
Ken Wilber: Integrale Spiritualität
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