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“Wie behindert bist du eigentlich?”

…äh, wenn ich darauf faktisch antworten sollte: Bis vor einem Jahr hatte ich noch einen sog. GdB (Grad der Behinderung) von 50 und galt damit als schwerbehindert. Heute: Keine Lust mehr einen GdB zu beantragen, aber meine Behinderung spüre ich jeden Tag, sie strukturiert meinen Tag.

Aber seien wir ehrlich: Die Aussage „Wie behindert bist du eigentlich?“ ist keine wirkliche Frage. Sie ist ein abwertender Ausruf. So wie so viele andere Aussagen, die Behinderung und Krankheit in einem abwertenden Kontext nennen.  Zweimal habe ich in den letzten beiden Wochen mit anderen Menschen im Park Draußen-Spiele gespielt und jedes Mal das Gleiche: Unangebrachte, abwertende Vergleiche mit „Wir sind hier bei den Paralympics“ oder „Hö hö, wir sind hier die Behinderten“  - und niemand sagt was! Ich selbst habe dann auch Schiss was zu sagen – keine Lust, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden, weil die angesprochenen Personen sich dann vielleicht schämen und das dann auf mich zurückfällt (so jedenfalls meine reflexartigen Gedanken).  Und mit diesen Kommentaren hört es ja nicht auf.  Der Klassiker: Wie oft „blind“ im Wortgebrauch abwertend und unpassend genannt wird. Da denke ich dann inzwischen immer an eine sehbehinderte Freundin und bin traurig und wütend, dass ihre Behinderung sooo unzählig oft missbraucht wird im Sprachgebrauch. Gut wäre gewesen, wenn ich mich nicht erst mit einer sehbehinderten Person anfreunden hätte müssen, um wirklich das Ganze richtig, richtig bewusst zu haben.

Das alles nennt sich jedenfalls Ableismus und hört nicht bei Worten auf.  Als ich für einige Zeit einen Rollstuhl genutzt habe, war ich erschrocken, wie oft ich übergriffigem Verhalten ausgesetzt war. Ich habe den Rollstuhl nicht oft genutzt – zu schwach war ich, überhaupt, die Treppen in meinem Haus (kein Fahrstuhl!) herunterzukommen. Aber die wenigen Male ist so viel passiert: Menschen, die meinem Rollstuhl in Weg springen und Faxen machen. (Stichwort: Wer sich nicht stark fühlt, versucht, die scheinbar Schwächeren zu ärgern!).  Oder als ich aus meinem Rollstuhl aufstehe (viele Rollstuhl-Nutzer:innen haben eine „Restgehfähigkeit“) ruft jemand lauthals: „Sie kann gehen!!!“. Ebenso kam, als ich mit einem Computer-Reparaturgeschäft vorab telefoniert hatte, weil ich wegen meiner Behinderung bestimmte Sachen abklären musste, vor Ort der Spruch: „Sie sehen ja gar nicht so aus“! – Auch das ist Ableismus. 


Meine Erfahrungen waren noch mild im Vergleich zu dem, was an ableistischer Diskriminierung und Gewalt in Deutschland und der Welt passiert. Und sie ist nicht immer direkt: Erst vor ein paar Tagen wurde bei mir um die Ecke in die öffentliche Behindertentoilette eingebrochen und das Waschbecken entfernt. Auch das ist Gewalt gegen behinderte Menschen.

Unschön wird es dann auch noch, wenn Behinderung abgeschwächt wird. Ich erinnere mich, wie einmal ein nahes Familienmitglied meinen Schwerbehindertenausweis und die dazugehörige leichte Steuererleichterung (nichts im Vergleich zu den Ausgaben, die ich habe!!) empört als „Privileg“ bezeichnete. Das sei ja unfair, weil es anderen schlechter gehe.  Und diese Person hatte sich nie erkundigt, wie es mir eigentlich mit meiner Behinderung geht und wie sie mein Leben beeinflusst.

Ich selbst musste ehrlich gesagt erst behindert werden, um viele dieser Dinge wirklich zu sehen.  Zu sehr war ich von der Selbstverständlichkeit unserer ableistischen Gesellschaft geprägt.  Doch diese Dinge tun weh. Sie sind anstrengend. Menschen leiden nicht unbedingt an ihren Behinderungen, aber der gesellschaftliche Umgang tut weh! Und es hat Auswirkungen. Ich z. B. hätte schon vor 13 Jahren einen Behindertenausweis beantragen können und habe es damals nicht gemacht, weil das Wort „behindert“ so negativ belegt ist. Und das ist nur eine vergleichsweise „kleine“ Auswirkung von Ableismus.

Auch wenn ich nun mehr weiß: Ich war und bin immer noch ableistisch. Nicht weil ich möchte, sondern weil unsere Gesellschaft ableistisch ist und wir das in uns aufnehmen. Dafür haben wir keine Verantwortung. Aber wir haben die Verantwortung, uns zu informieren, weiterzubilden, zu bessern und Hinweise, wenn wir doch ableistisch sind, dankbar statt defensiv anzunehmen, zu reflektieren und uns auch zu entschuldigen.

Und das gilt auch für Beruf und Zusammenarbeit. Unsere Arbeitswelt ist unglaublich ableistisch und damit immer wieder so anstrengend und einschränkend für betroffene Menschen. Ich habe nur keine Kraft und Lust, dazu und zu allem weiteren, was es zu Ableismus zu sagen gibt, noch mehr herunterzuschreiben. Aber es gibt tolle Autor:innen und weitere Ressourcen, die ich am Ende des Artikels verlinke.

Mein Wunsch am Schluss: Sagt was! Schreitet bei Ableismus ein! Gerade wenn ihr nicht betroffen seid. Das hilft schon sooooo viel. Und bildet euch fort. Behinderung ist nicht nur sichtbar. Viele Behinderungen sind unsichtbar. Auch das gilt es zu beachten.

Zum Vertiefen:

Podcast: Die neue Norm (Si apre in una nuova finestra)
Buch: Behindert & stolz (Si apre in una nuova finestra) – Luisa L‘Audace
Buch: Stopp Ableismus (Si apre in una nuova finestra) – Anne Gersdorff & Karina Sturm
Buch: Wer Inklusion will, findet einen Weg – wer sie nicht will, findet Ausreden (Si apre in una nuova finestra) - Raúl Krauthausen

Herzliche Grüße

Lyn

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Über Lyn von der Laden

Als freiberufliche Wirtschaftspsychologin begleite ich Teams und Organisationen, ihre Zusammenarbeit wirksam, anpassungsfähig und freudvoll zu gestalten. Mehr zu mir und meiner Arbeit findest du auf www.lynvonderladen.de (Si apre in una nuova finestra)

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