NEUNERs #015
Wenn man am Donnerstag Abend auf dem Sommerfest eines progressiven Think Tanks in Berlin und zwei Tage später im Schatten des Gemüsestands eines Städtchens südlich von München auf einen Mikronewsletter bzw. dessen momentanes Ausbleiben angesprochen wird, ist es offenbar höchste Zeit für eine neue Ausgabe. ;-) Allgemein halte ich es zumindest bei diesem Vorhaben mit dem Lustprinzip, und schreibe ihn eben dann, wenn es mir taugt. Seltener Luxus. Sehr empfehlenswerte Erfahrung.
In den letzten Tagen begegneten mir zwei Texte, aus denen ich mit einiger Begeisterung zwei Zitate zum (fiktionalen) Schreiben teile:
„Ich musste lernen, dass - obwohl ich wollte, dass meine Figuren frei sind - sie ihre eigenen Entscheidungen treffen. Sie sind keine Puppen, die ich kontrolliere. Ich sage ihnen nicht, was zu tun ist. Sie wählen selbst. Und manchmal ist es sehr herausfordernd für mich, da ich in eine bestimmte Richtung gehen will und ich weiß, dass meine Figur nicht dorthin will. Ich muss ihr zuhören.“
Leïla Slemani, Interview in apartemento (Si apre in una nuova finestra) #35
„Es gibt Sätze, die zu nah dran sind an der Wirklichkeit. Sie gehören der Wirklichkeit, sind von der Wirklichkeit nicht zu trennen.
Sie haben kein Geheimnis.
Sie sind eindeutig, eine Wahrheit, an diesen Sätzen gibt es nichts zu rütteln. Sätze, die in eine Geschichte hineinführen, kommen aus der Zwischenwelt, sind zwielichtig, interpretierbar, veränderbar, was bedeutet, dass die Welt veränderbar ist. Ich kann die Welt, meine Welt, mit einer Geschichte verändern. Zwei Seiten. Sieben Seiten. Schmelzpunkte.“
Judith Hermann, Wir hätten uns alles gesagt, Frankfurter Poetikvorlesungen
Da ist viel drin. Sehr viel.
Stücke
Wenn es so heiß ist, reicht es gelegentlich auch, etwas Zitrone und Minze ins geeiste Mineralwasser zu geben, sich in den Schatten zu setzen und was zu hören. Ohne weitere körperliche Bewegung. Hier zwei Empfehlungen:
Eine unterhaltsames Gespräch gibt es mit Charles Schumann bei „Alles gesagt“ (Si apre in una nuova finestra) von der Zeit. Das längere Intro, aufgenommen in seiner Münchner Tagesbar, hört sich an, als säße man mit am Nebentisch. Die bewegungslosen 4 ½ Stunden muss man ggf. einfach auf ein paar Tage verteilen.
https://open.spotify.com/episode/7sKQVfOHM8QvP8ayzJA9li?si=adi289zURwaWtXhEYee_Cg (Si apre in una nuova finestra)
Die Politische Akademie Tutzing behandelt in ihrem Podcast (Si apre in una nuova finestra) mit Gero Kellermann die Frage, was Esoterik mit Radikalisierung zu tun hat. Leider wirklich ziemlich aktuell.
https://open.spotify.com/episode/58Wgw8jUQisn11LEMBWpa0?si=dJP__vZDQ-2seSl8Il2kLQ (Si apre in una nuova finestra)Ein Interview mit Marlene Streeruwitz über New York, die USA, ihr Schreiben und ihren neuen Roman „Verwerfungen“ gibt es im Standard (Si apre in una nuova finestra).
Was junge Menschen in diesem 3 Sat-Beitrag (Si apre in una nuova finestra) „Zwischen Rausch und Ruhe“ über Berlin, das Feiern dort und vor allem über sich selbst und ihre Generation erzählen, ist genauso bewegend wie bedauernswert, so einmalig wie gar nicht neu. „Kontrolle“ und „Save Space“ erscheinen als die Lösung und Losung ihrer Wahrnehmung.
https://www.3sat.de/kultur/kulturdoku/nachtleben-im-wandel-100.html (Si apre in una nuova finestra)Die letzten fünf Bucheinträge aus meiner Notizen-App
Ezra Klein / Derek Thompson. Abundance (Si apre in una nuova finestra) (2025)
Warum notiert? Ein längeres Gespräch diese Woche drehte sich um „Abundance“ und seine (anstehende) Rezeption.
„In den vergangenen Wochen hat der Begriff Abundance (auf Deutsch etwa »Wohlstand« oder »Überfluss«) die politische Welt der USA im Sturm erobert. Er stammt aus dem gleichnamigen Bestseller von Klein und Thompson und hat sich schnell als mögliches Leitbild für die Demokraten etabliert, die nach ihrer Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen 2024 wieder Fuß fassen wollen. Das Buch befasst sich zwar in erster Linie mit der amerikanischen Politik, beinhaltet aber auch wertvolle Erkenntnisse und warnende Beispiele, mit denen sich europäische Politikerinnen und Politiker, die angesichts der aktuellen geopolitischen Veränderungen das europäische Projekt zusammenhalten wollen, dringend auseinandersetzen sollten.“ (ipg-journal (Si apre in una nuova finestra))
Amir Gudarzi. Das Ende ist nah (Si apre in una nuova finestra) (2019)
Warum notiert? Ich bin gerade auf der Suche nach iranischer Literatur. Die Nachrichtenformate gehen mir so auf den Zeiger. Ich möchte was gegen diese schräge Entfremdung tun. Z. B. mit Stadt der Lügen (Si apre in una nuova finestra) von Ramita Navai.
„Während der Proteste im Iran 2009 ist der ehemalige Student A. gezwungen, sein Land zu verlassen. Die Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend voller Gewalt nimmt er mit. Aus einem Künstler wird ein Flüchtling in Österreich, der offen und heimlich verachtet wird und in Lagern und Heimen nicht nur Einsamkeit und Verzweiflung, sondern auch Hunger und Demütigung ertragen muss.“ (dtv (Si apre in una nuova finestra))
Susan Sontag. Standpunkt beziehen (Si apre in una nuova finestra) (2016)
Warum notiert? Vor wenigen Wochen war ich in der Sontag-Ausstellung im Literaturhaus München (Si apre in una nuova finestra). Eine eher kleine und umso intensivere Installation, auf die man sich mit etwas Zeit einlassen sollte. Dann erzählt sie einem viel und man fängt selbst an zu erzählen. Der Essay „Against Interpretation“ (Si apre in una nuova finestra) ist ein Schlüsseltext.
„Der Band versammelt wichtige kulturtheoretische Essays: »Gegen Interpretation«, »Über Schönheit« sowie »Fotografie. Eine kleine Summa«. Hinzu kommen zwei explizit politische Texte: »Das Foltern anderer betrachten« und vor allem »Der 11.9.01«, ein hellsichtiger Angriff gegen die irrationale Politikerrhetorik unmittelbar nach 9/11, für den sie in heftigster Weise attackiert wurde.“ (Reclam (Si apre in una nuova finestra))
Lena Schätte. Das schwarz an den Händen meines Vaters (Si apre in una nuova finestra) (2025)
Warum notiert? Alkohol spielt in vielen Familien eine tragische Rolle. Auch in meiner. Gerade, wenn mich Themen in Romanen berühren, bin ich extrem kritisch. Weil ich vergleiche. Vielleicht ist es ein traumatisiertes Lesen und die Trigger pushen, damit aufzuhören, z. B. über den Vorwand stilistischer Kritik. So oder so bin ich unserer Gemeindebibliothek dankbar, dass sie solche Bücher aufnimmt.
„»Motte« wird die Ich-Erzählerin von ihrem Vater genannt. Der Vater ist Arbeiter, Spieler, Trinker. Eigentlich hat Motte sogar zwei Väter: den einen, der schnell rennen kann, beim Spielen alle Verstecke kennt und sich auf alle Fragen eine Antwort ausdenkt. Und den anderen, der von der Werkshalle ins Büro versetzt wird, damit er sich nicht volltrunken die Hand absägt. Und das mit dem Alkohol, sagt die Mutter, war eigentlich bei allen Männern in der Familie so.“ (Fischer Verlag (Si apre in una nuova finestra))
David A. Graham. Der Masterplan der Trump-Regierung. Project 2025: Wie ein radikales Netzwerk in Amerika die Macht übernimmt (Si apre in una nuova finestra) (2025)
Warum notiert? Wie so oft ein Hinweis über den Perlentaucher (Si apre in una nuova finestra). Trump macht zwar eh was er will, aber hinter der ganzen Show steckt ein Programm. Wer wen steuert, wo es eher ein wilder und doch synergetischer Mix von Strömungen ist? In jedem Fall ist Trump nicht alles und auch nicht allein. Und nach Trump wird es nicht wie vorher sein. Dafür sorgt auch das Project 2025.
“Grahams schmales Buch bietet einen guten Überblick über die Überzeugungen und Ziele der Trump-Unterstützer und die Widersprüche der verschiedenen Lager – etwa in der Handelspolitik. Die Kapitel zur Außen- und Klimapolitik machen aus europäischer Sicht wenig Hoffnung. Aber auch wenn Tausende nun an der Umsetzung dieser radikalen Agenda arbeiten, werden die wichtigen Entscheidungen nur von einem Mann getroffen: Donald Trump.“ (SZ (Si apre in una nuova finestra))
Lunch in Berlin
Absolutes Lunch-Highlight in der Reinhardstraße 19 in Berlin-Mitte ist das japanische Flatto (Si apre in una nuova finestra). Es gibt ein Tablett oder eine Box zum Mitnehmen in je drei bis vier Varianten. Wasser und Tee sind inkl. Leicht und zum Runterkommen.

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Danke für die Abkühlung.
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