Der Krampf mit dem Kulturkampf
Das Rätsel der Milchflasche/Marcel Ophüls/Annie Ernaux/Nigel Slater

In der Klasse 5 des Gymnasiums hatte unser Klassenlehrer Hans Eckert eine Frage. Ich weiß gar nicht mehr in welchem Fach. Er hatte uns in 5 Fächern und machte ohnehin, was er wollte. Eckert war jung, aber schon weit gereist und teilte mit uns eine Beobachtung aus einem amerkanischen Suburb. Dort kommt in den frühen Morgenstunden ein Milchlaster vorbei. Der Fahrer stellt die Kisten mit den Flaschen an die Kreuzung oder vor die Häuser. Wie, lautete die Frage sinngemäß, stellt man sicher, dass die Flaschen später noch da sind, wenn die Kinder frühstücken?
Wir waren eine Klasse von vierzig Jungs, alle lasen Comics und kannten Science-Fiction in allen Formen. Eckert ließ uns eine ganze Weile spekulieren: Kameras, Laser, kleine Sender, unsichtbare Tinte, eine geheime Milchpolizei in den Büschen. Eckert bewegte nur leicht verneinend den Kopf. Allmählich dämmerte uns, dass es für dieses Problem keine technische Lösung geben kann. Er löste auf: Es klaut eben niemand Milch, die für Kinder bestimmt ist.
An diese Szene muss ich oft denken, wenn ich die Bemühungen der Maga-Bewegung und der Rechten beobachte, diese Gesellschaft um zu formen – hin zu einer Ordnung, in der einige alles dürfen, was sie können.
In der man dumm ist, wenn man keine Milch klaut. In der Milch tausend Dollar kostet.
Der Versuch, diese ungeschriebenen Regeln aufzulösen, die geschriebenen übrigens auch, wird oft unter dem verharmlosenden Begriffs des Kulturkampfs beschrieben.
Ein Großteil der Nachrichtengeschichten dieses Spätsommers handeln von symbolischen Fragen, diese Storys laufen unter dem großen Begriff des Kulturkampfs. Doch Kulturkampf ist keine gepflegte Debatte in den Feuilletons, sondern nur ein Zweig eines viel umfassenderen Vorhabens.
Es empfiehlt sich eine Rückbesinnung darauf, was der erste Kulturkampf war. In unserer vierteiligen Serie über Bismarck in unserem Podcast “Was bisher geschah (Si apre in una nuova finestra)” findet sich einiges dazu. Bismarck wollte die Macht der katholischen Kirche eindämmen, um sich weitere Machtoptionen zu sichern. Es war ein heftiger Machtkampf, den er schließlich verlor. Keine Kleinigkeit, sondern ein Ringen um die Seele des Reichs.
Kulturkampf von rechts ist eine Chiffre für ein umfasssenderes Ermächtigungsprogramm. Es hat mit den üblichen Parteiengegensätzen nichts zu tun, auch nicht mit der politischen Kultur von einst. Das Ziel ist die Liquidierung: Er zielt auf die Verflüssigung jener Bereiche, in denen Geld und Macht allein nichts ausrichten konnten, in denen sich soziale Subsysteme selbst organisierten. In der Schule, in der Wissenschaft oder der Justiz ist es, nach den Regeln der offenen Gesellschaft, theoretisch egal, wer etwas möchte. Entscheidungen werden autonom getroffen.
Darum geht es in der MAGA Bewegung so stark gegen Wissenschaftler, Universitäten, die Justiz und das Schulsystem. Man kann noch nicht einmal sagen, dass fortan das Geld solche Bereiche regieren soll, denn mit dem Angriff auf die Unabhängigkeit der US-Notenbank ist auch der Wert des Dollars in Gefahr. Gibt ja Crypto.
Nichts soll mehr nach Regeln ablaufen, sondern alles nach persönlicher Macht. Darum ist Kulturkampf eine Verniedlichung dieses Versuchs: Es geht um die Abschaffung der offenen Gesellschaft und die Errichtung einer Ordnung, in der wenige mächtige Männer die Welt unter sich aufteilen. Bei den digitalen Plattformen ist das ja schon fast der Fall.
Nachgeben ist in diesem Kontext eine Einladung und weil so viel nachgegeben wurde, sind die Rechten stark wie nie. In den USA kann man am Beispiel des Gouverneurs von Kalifornien und des demokratischen Kandidaten für das Bürgermeisteramt in New York studieren, wie eine effektive Gegenstrategie aussieht: Nicht zurückweichen, sondern auf sie mit Gebrüll, wie mein Freund Hasnain Kazim einst titelte.
Denn es geht um die Milch.
Dramatisch verspätet habe ich vom Tod des Filmregisseurs Marcel Ophüls erfahren. Im Saarland kennt ihn jeder, aber im Rest der Welt ist der Sohn von Max Ophüls in Vergessenheit verstorben. Ich hatte ihn einmal in die Sendung Willemsens Woche eingeladen und er war überglücklich, denn in der Hotelbar hatten ihm einige Damen einen Drink spendiert. Sie hielten ihn für den Schauspieler Jochen Senf, der im Saar-Tatort den Max Palü spielte. Ophüls freute sich wie ein Kind.
Seine Filme, insbesondere Hotel Terminus über die Geschichte des SS-Mannes Klaus Barbie, gehören zu den besten Werken über die Nazis, ihre Verbrechen, die Opfer und die Vertuschung danach. So einen Film muss wirklich jeder gesehen haben, gerade die Schülerinnen und Schler. Aber obwohl das Netz voll ist mit Dokus der propagandistischen Art für rechtes Gedanken gut, stösst man bei der Suche nach diesem Film auf dieses Angebot:

Und sonst nix. Auch der wichtige Film von Lutz Hachmeister über Joseph Goebbels, das Goebbels- Experiment: Nirgends zu sehen. Langsam muss man sich wirklich nicht mehr wundern.
Ein Film über Marcel Ophüls ist noch auf der Arte Mediathek eingestellt:
https://www.arte.tv/de/videos/112220-000-A/ein-film-ein-schock-das-haus-nebenan/ (Si apre in una nuova finestra)Am Montag wird Annie Ernaux 85, ihre Bücher werden immer kürzer und irgendwie auch gewagter. Nun erscheint auf deutsch ein Memoir über Eiferucht, unter dem Titel “Die Besessenheit”. Sie entfaltet das ganze Panorama einer sexuellen und romantischen Obsession in den Straßen von Paris, aber im Unterschied zu den Kollegen Proust oder Modiano braucht sie dafür nur 66 Seiten. Man vermisst aber nichts.
https://www.suhrkamp.de/buch/annie-ernaux-die-besessenheit-t-9783518225622 (Si apre in una nuova finestra)Leserinnen von Ernaux haben eben noch anderes zu tun, als tagelang in Romanen Straßenbeschreibungen zu lesen. Hier wechselt sie die Genres zwischen Drama und Komödie und um Sex geht es auch. Ein Autor, der sich im Vorgängerband Der junge Mann wieder erkannt hat, antwortete mit einem eigenen Buch über seine Beziehung zu Ernaux. Darin wehrt er sich larmoyant gegen den Eindruck, er sei etwas schwerfällig im Geiste, nur weil er gern Fußball im Fernsehen schaut. Sehr witzig. Mal schauen, ob er nun wieder nachlegt. Sehr empfehlenswerte Lektüre auf jeden Fall, übersetzt von Sonja Finck.
Beinahe hätte ich mich in der kommenden Woche auf den Weg gemacht, um Nigel Slater in London zu treffen, aber wegen einer dringenden Angelegenheit (Dienstag mehr darüber auf social media) bin ich lieber auf dem Kontinent geblieben. Next time.
Als ferner Gruß hier ein Klassiker:
https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2013/apr/28/nigel-slater-roast-chicken-recipes (Si apre in una nuova finestra)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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