Selbsterforschung nach Goethes Vorbild

Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) war ein sehr vielseitiger und produktiver Schriftsteller, der sich in verschiedenen literarischen Gattungen ausprobierte. Er war nicht nur ein Meister der Dichtkunst, sondern auch ein bedeutender Naturforscher und Staatsmann. In vielen Gebieten ein Vordenker, dessen An- und Einsichten noch heute nachhaltigen Einfluss auf viele Menschen haben.
Ich habe mich ehrlich gesagt damals in der Schule ein bisschen durch die Werke von Goethe durchgequält. Er sprach zu der Zeit so gar nicht meine Sprache, vieles habe ich mehrfach lesen müssen, um es auch nur im Ansatz zu verstehen. Er verschwand in meiner persönlichen Versenkung als „nicht mein Fall“ ...
Es war viele Jahre später, als er wieder die Bühne meines Lebens betrat und ich wirklich baff war, welche Ansichten er schon vor über 150 Jahren vertreten hatte. Ich las einige Bücher über ihn und er wurde zu einem Lehrer und Vorbild für mich, denn Herr Goethe war ein großer Verfechter des Schreibens als Mittel zur Selbstentdeckung und Selbstreflexion, meiner großen Leidenschaft in den 80er und 90er Jahren, als die Esoterikwelle boomte. Er glaubte, dass das Schreiben uns helfen kann, unsere Gedanken und Gefühle besser zu verstehen und uns selbst besser kennenzulernen. Und genau das war mir damals – wie eine Art Initiationsprozess – geschehen.
Goethe hat meines Wissens keine spezielle Schreibübung zur Selbstforschung erfunden und weitergegeben, aber er hat das Schreiben als Mittel zur Selbstentdeckung und -reflexion sehr geschätzt und praktiziert. Er ermutigte auch seine Freunde und Bekannten dazu, zu schreiben, um sich selbst besser kennenzulernen und Einstellungen zu hinterfragen.
Goethe selbst war ein fleißiger Schreiber und hat der Nachwelt ein sehr umfangreiches Werk hinterlassen. Seine Tagebücher, Briefe und Aufzeichnungen geben einen Einblick in seine Gedankenwelt und seine persönlichen Erfahrungen.

Anleitung für eine Schreibübung nach dem Vorbild von Goethe
Wähle einen ruhigen Ort: Suche dir einen schönen, vertrauten Ort aus, an dem du ungestört schreiben kannst. Das kann dein Schreibtisch, dein Lieblingssessel oder auch ein Platz in der Natur sein.
Nimm dir Zeit: Plane genügend Zeit für deine Schreibübung ein. Du solltest dich nicht unter Druck setzen, sondern dich entspannen und einfach ohne Störungen losschreiben können.
Formuliere eine Frage: Überlege dir eine Frage, die dich beschäftigt oder die du gerne besser verstehen möchtest. Das kann eine Frage zu deiner Person, deinen Zielen oder deinen Beziehungen sein.
Schreibe frei: Beginne einfach zu schreiben, ohne über Grammatik, Zeichensetzung oder Rechtschreibung nachzudenken. Lass deine Gedanken und Gefühle ohne Zensur einfach vollkommen frei fließen.
Beobachte deine Gedanken: Achte darauf, welche Gedanken und Gefühle beim Schreiben in dir aufkommen. Schreibe ungefiltert alles auf, was dir gerade in den Sinn kommt.
Reflektiere: Nachdem du fertig geschrieben hast, lies dir deine Aufzeichnungen noch einmal aufmerksam durch. Welcher Teil in dir hat das aufgeschrieben? Was hast du über dich selbst herausgefunden? Welche Gefühle werden hier angesprochen? Welche Erkenntnisse hast du durch das Aufschreiben gewonnen?
Wiederhole die Übung: Wiederhole die Schreibübung regelmäßig, um dich selbst besser kennenzulernen und deine persönliche Entwicklung zu fördern.
Die bekannte Dozentin Vera Birkenbihl hat diese Schreibübung ebenfalls wieder zum Leben erweckt. Hier ist ein Youtube-Video, wo sie noch einige wunderbare Erklärungen liefert:
https://www.youtube.com/watch?v=kqqnoX201cI (Si apre in una nuova finestra)
Einige zusätzliche Tipps:
Du kannst deine tägliche Schreibübung auch mit anderen bekannten Methoden kombinieren, wie zum Beispiel Malen, Zeichnen oder Musik hören. Ganz wie du magst und wie es für dich förderlich ist.
Es kann hilfreich sein, deine Aufzeichnungen in einem Tagebuch oder einem Notizbuch aufzubewahren. Wenn du lieber mit dem PC oder Tablett schreibst, so ist natürlich auch das möglich. Durch das Aufbewahren kannst du deine Fortschritte verfolgen und deine Erkenntnisse besser festhalten und dich schneller wieder daran erinnern.
Wenn du Schwierigkeiten hast, mit dem Schreiben anzufangen, kannst du dir einen einfachen Satz, eine Frage oder auch nur ein einzelnes Wort als Ausgangspunkt für deine Schreibübung nehmen.
Sei ehrlich zu dir selbst und schreibe offen über deine Gedanken und Gefühle. Wenn du es nicht willst, wird niemand dein Geschriebenes jemals lesen oder zu Gesicht bekommen.
Habe keine Angst, auch schwierige oder unangenehme Themen anzusprechen. Manche Dinge müssen oder wollen einmal raus und beschrieben werden, damit der Druck, den sie vielleicht verursachen, aus dem Körper und den eigenen Gedanken verschwinden kann.
Das Schreiben ist ein Prozess. Hab Geduld mit dir selbst und erwarte nicht, dass du sofort alle Antworten findest. Sei dir aber sicher, dass sich nach und nach alle nötigen Antworten einstellen werden, wenn du weitermachst!
Die hier genannte Schreibübung kann dir helfen, deine eigene Art zu finden, mit dir selbst zu sprechen und dich dabei gleich ein bisschen besser kennenzulernen.
Goethe selbst beschrieb es so: „Ich habe meine eigene Art, mit mir selbst zu sprechen. Ich rede mit mir selbst, wie mit einem anderen vernünftigen Wesen.“
Jede Person hat eine persönliche und ganz individuelle Weise, mit sich selbst in Gedanken oder im Selbstgespräch zu kommunizieren. Wie das geschieht, bleibt jedem natürlich selbst überlassen. Im Prinzip geht es darum, überhaupt eine innere Auseinandersetzung mit sich selbst zu führen, sei es durch Nachdenken, Reflektieren, oder das innere Aussprechen von Gedanken und Gefühlen, denn dies wird zwangsläufig zu mehr Wohlbefinden und Selbsterkenntnis führen.
Was dabei passiert:
Selbstreflexion: Man nimmt sich Zeit, um über sich selbst, die eigenen Handlungen und Gedanken nachzudenken. Dies kann zur Selbstfindung und natürlich auch zur persönlichen Weiterentwicklung beitragen.
Innere Dialoge: Man führt dabei quasi Selbstgespräche, um sich selbst zu motivieren, zu beruhigen oder auch bestehende Probleme zu lösen, beispielsweise dadurch, dass man eine Entscheidung fällen kann.
Auseinandersetzung mit Gefühlen: Man nutzt die innere Kommunikation, um die eigenen Gefühle besser zu verstehen und zu verarbeiten. Das ist ein Stückchen mentale Heilung.
Kreativer Prozess: Für manche Menschen kann das „Sprechen mit sich selbst" ein Teil eines sehr kreativen Prozesses sein, um neue Ideen und Ansichten zu entwickeln oder Probleme zu lösen.
Was löst sich durch das Schreiben?
Goethe schrieb einst: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust." Dieses berühmte Zitat von ihm stammt aus dem Drama „Faust I", genauer gesagt aus der Szene „Vor dem Tor". Faust, der hochgelehrte Wissenschaftler, ist trotz seines umfassenden, profunden Wissens zutiefst unzufrieden und innerlich sehr zerrissen. Mit diesem Ausruf bringt er seine innere Zerrissenheit zum Ausdruck, die ihn offenbar sehr quält.
Konkret meint er damit sicher den Konflikt zwischen Geistigem und Sinnlichem, vielleicht auch Spirituellem: Eine „Seele" in seiner Brust strebt nach höherer Erkenntnis, Wissen und geistiger Erfüllung. Das könnte die Seite des Gelehrten in ihm sein, der die Welt durch Bücher und Studium ergründen möchte.
Die andere "Seele" hingegen sehnt sich nach irdischen Freuden, sinnlicher Erfahrung, Leidenschaft und dem direkten Erleben des Lebens als solches. Er möchte sich nicht nur in seiner Studierstube verkapseln, sondern natürlich auch das Leben in all seinen Facetten und mit allen Möglichkeiten auskosten.
Aber das scheint nicht vereinbar zu sein, denn diese beiden Triebe oder „Seelen“ stehen in Fausts Brust im ständigen Widerstreit. Sie wollen sich voneinander trennen, können es aber nicht, weil sie – natürlich – beide ein Teil seiner Persönlichkeit sind.
Goethe drückt mit diesem Zitat ein universelles menschliches Gefühl aus – die Ambivalenz, das Gefühl, von widerstrebenden Wünschen und Bedürfnissen geplagt zu werden, was sicher viele von uns kennen.
Es geht um den ewigen Kampf zwischen verschiedenen Lebensentwürfen, die Suche nach innerem Gleichgewicht und die Erkenntnis, dass der Mensch oft mehr verlangt, als die Welt ihm bereitwillig gibt. Im weiteren Verlauf des Dramas führt genau diese innere Zerrissenheit Faust dazu, den Pakt mit Mephisto einzugehen, da er hofft, durch ihn die Erfüllung zu finden, die ihm sein bisheriges Streben nicht geben konnte.
Heutzutage wird der Spruch oft im übertragenen Sinne verwendet, wenn man ausdrücken möchte, dass man sich zwischen zwei sich ausschließenden Möglichkeiten oder Neigungen hin- und hergerissen fühlt, bei denen beide ihre Vorteile haben, aber keine Wahl wirklich "richtig" erscheint. Und mir scheint, diese Zerrissenheit wird immer größer und größer.
Ich halte mich gern an meinen Konfirmationsspruch vom Vordenker Goethe: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut." – einer Herausforderung, die auch Konflikte hervorrufen kann. Aber auch dafür gibt’s von Goethe eine Weisheit mit auf den Weg: „Wer nicht neugierig ist, erfährt nichts."
Ich bleibe dann mal neugierig und schreibe weiter gern meine Konflikte auf, denn sonst gäbe es nichts zu lesen. ++zwinker++
Wenn ich dich jetzt ein wenig zum Schreiben animiert habe, kannst du gern mal das Freewriting zum Einstieg ausprobieren. Mein Buch “Das Freewriting-Arbeitsbuch” kann dir dazu prima als Vorlage dienen:
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