Entropie, Zeit und der Anfang des Universums
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Sternengeschichten Folge 656: Entropie, Zeit und der Anfang des Universums
Die Astronomie ist eine der Wissenschaften, in der es enorm einfach ist, Fragen zu stellen, die sehr simpel klingen, in Wahrheit aber absurd schwierig zu beantworten sind. Eine dieser Fragen lautet "Was ist Zeit?".
Irgendwie haben wir alle das Gefühl, wir wüssten, was "Zeit" ist. Wir erleben die Zeit ja ständig; wir leben IN der Zeit. Aber wenn wir dann anfangen, darüber nachzudenken, was "Zeit" tatsächlich ist, dann wird es schwierig.
Man kann sich natürlich aus der Affäre ziehen und sagen "Zeit ist das, was die Uhr anzeigt". Und diese Antwort wäre auch nicht absurd falsch. Aber sie geht am eigentlichen Punkt vorbei. Was ist Zeit? Was ist Zeit, wirklich?
Und es ist nicht nur schwer zu beantworten, weil es ein sehr komplexes und philosophisches Thema ist. Es ist vor allem deswegen schwer, weil auch die Wissenschaft Schwierigkeiten hat, dieses Phänomen vernünftig zu definieren. Es gibt kein Naturgesetz, das uns erklärt, was Zeit ist. Da ist keine Formel, die uns das sagt. Anderswo ist das möglich: Geschwindigkeit ist Weg pro Zeit. Die Geschwindigkeit ist das, was uns sagt, wie lange es dauert, eine bestimmte Strecke zurückzulegen. Aber wenn wir jetzt zum Beispiel sagen würden, dass man das dann halt einfach nur umformen muss, um Zeit ist Weg pro Geschwindigkeit zu definieren, funktioniert das nicht. Denn die Zeit steckt ja auch in der Geschwindigkeit drin und wenn man das dann korrekt auflöst, landet man bei der nichtssagenden Gleichung "Zeit ist Zeit".
Das Problem ist, dass die Zeit in den Naturgesetzen keine Rolle spielt. Beziehungsweise spielt sie selbstverständlich eine Rolle, aber die Richtung der Zeit ist irrelevant. Die Gesetze der Mechanik und Gravitation, mit denen wir zum Beispiel beschreiben wie sich die Himmelskörper bewegen, machen keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Man kann ein Computerprogramm schreiben, dass die Bewegung der Planeten im Sonnensystem simuliert. Und dann kann man es vorwärts in der Zeit laufen lassen oder rückwärts und in beiden Fällen erhalten wir eine völlig korrekte Bewegung. Andererseits wissen wir aber auch, dass es einen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt. An die Vergangenheit können wir uns erinnern, aber nicht an die Zukunft. Wenn ein Ei vom Küchentisch auf den Boden fällt, dann geht es kaputt und es gibt eine enorme Sauerei. Das ist ein völlig normaler Vorgang, zumindest dann, wenn man beim Kochen regelmäßig ungeschickt ist. Es wäre dagegen ein ganz und ganz unnormaler Vorgang, wenn die Sauerei und die Eierschalen plötzlich zurück auf den Küchentisch springen, um sich wieder zu einem ganzen Ei zu formen. So etwas passiert nicht - aber, das ist ein wichtiger Punkt - es würde prinzipiell nicht den Naturgesetzen widersprechen. Klar, das kaputte Ei würde nicht von selbst in die Luft hüpfen, dafür braucht es eine wirkende Kraft. Aber die hat es ja auch gebraucht, um das Ei vom Tisch auf den Boden fallen zu lassen. Und wenn man sämtliche Bruchstücke des Eis zum exakten Zeitpunkt mit exakt der richtigen Kraft anschubsen würde, dann WÜRDE sich die Sauerei wieder zu einem Ei zusammenfügen. Aber so etwas passiert nicht.
Und wenn wir genau darüber nachdenken, warum das nicht passiert, dann verstehen wir am Ende leider immer noch nicht, wie das mit der Zeit ist. Aber wir verstehen zumindest ein bisschen besser, warum wir es nicht verstehen und deswegen denken wir jetzt nach. Und wir fangen beim Nachdenken mit der Entropie an. Dieses etwas verwirrende Konzept aus der Physik habe ich im Podcast immer wieder mal angesprochen. Für die Frage nach der Zeit ist es aber extrem wichtig. Bei der Entropie geht es um die Menge an möglichen Mikrozuständen. Oder, mathematisch-physikalisch exakt formuliert: Die Entropie ist proportional zum Logarithmus des zugänglichen Phasenraumvolumens. Was, ohne weiteres Wissen, natürlich noch gar nichts erklärt. Schauen wir uns deswegen mal ein Atom an, rein theoretisch natürlich und wir ignorieren auch die ganze komplizierte Quantenmechanik. Ein Atom hat einen Ort und eine Geschwindigkeit. Wir brauchen drei Koordinaten, um die Position im Raum anzugeben und wir brauchen nochmal drei Zahlen, um die Geschwindigkeit des Atoms für diese drei Raumrichtungen zu beschreiben. Wenn wir wissen wollen, was das Atom gerade treibt, brauchen wir dafür also sechs Zahlen. Oder, wieder etwas exakter, wir stellen uns einen sechsdimensionalen Raum vor. Das geht natürlich in der Praxis nicht, aber es geht in der Mathematik ohne Problem. Jeder Punkt in diesem sechsdimensionalen Raum beschreibt einen möglichen Zustand des Atoms und in diesem Beispiel ist der sechsdimensionale Raum das, was man "Phasenraum" nennt. Wenn man zwei Atome beschreiben will, braucht man natürlich einen 12-dimensionalen Phasenraum, und so weiter. Oder, um zurück zur Astronomie zu kommen: Wenn wir das Sonnensystem, bestehend aus Sonne und acht Planeten beschreiben wollen, benötigen wir ebenfalls drei Orts- und drei Zeitkoordinaten für jeden Himmelskörper. Unser Phasenraum hat in diesem Fall also insgesamt drei mal neun ist gleich 27 Dimensionen. Jeder Punkt in diesem Raum wird durch 27 Zahlen beschrieben, die dann den Zustand der neun Himmelskörper angeben.
Das ist alles sehr abstrakt, aber es hat ja auch niemand behauptet, dass das mit der Zeit einfach ist. Gehen wir wieder zurück zur Entropie. Da geht es um den "zugänglichen Phasenraum". Der komplette Phasenraum umfasst alle mathematisch möglichen Zustände, also alle möglichen Punkte in diesem Raum. Aber nicht alle Bereiche des Phasenraums sind auch Zustände, die ein System tatsächlich einnehmen kann. Schauen wir uns dazu einen normalen Raum an, ein Büro, ein Zimmer, was auch immer. Die Luftmoleküle in diesem Raum wirbeln ständig hin und her. Mal sind sie hier, mal sind sie dort und wenn man wollte, könnte man das alles durch Punkte in einem extrem hochdimensionalen Phasenraum beschreiben. In diesem Phasenraum wird es auch Bereiche geben, die einen Zustand beschreiben, in dem sich sämtliche Luftmoleküle im Büro in einer Ecke zusammendrängen und im Rest ein Vakuum herrscht. Es widerspricht nicht den Naturgesetzen, das so etwas passiert. Aber es ist extrem unwahrscheinlich, dass sich so ein Zustand von selbst einstellt, dazu müsste man irgendwie von außen eingreifen - so wie beim Ei vorhin, Man müsste die Luft mit Energieaufwand in die Ecke pumpen, und dann würde die Bewegung, die die Moleküle aufgrund ihrer Temperatur ständig ausüben, schnell dafür sorgen, dass sie sich wieder überall verteilen.
Die Entropie ist nun ein Maß dafür, wie groß der zugängliche Phasenraum ist. Je mehr Zustände ein System haben kann, desto größer ist seine Entropie. Und damit wird auch verständlich, warum die Entropie eines Systems ohne äußere Eingriffe nicht kleiner werden kann. Es gibt in unserem Beispiel einen sehr, sehr, sehr großen Bereich des Phasenraums, der einen Zustand beschreibt in dem die Luft überall gleichmäßig im Zimmer verteilt ist. Im Detail unterscheiden sich diese Zustände natürlich, aber es kommt ja nicht drauf an, welches Molekül sich jetzt wo genau befindet. Sondern nur, dass sich überall Moleküle befinden. Es gibt dagegen aber nur einen verschwindend geringe Bereich, der Zustände beschreibt, wo sich die Luftmoleküle alle in einer Ecke befinden. Und wenn man die Luft im Zimmer jetzt sich selbst überlässt und die Moleküle einfach so durch die Gegend wirbeln, dann ist es absurd unwahrscheinlich, dass sie zufällig einen dieser Zustände einnehmen. Bei Ei ist es genau so: Es gibt sehr, sehr, sehr viele Zustände, wie man die Atome eines Eis anordnen kann, so dass man eine Sauerei am Boden erhält. Es wird jedesmal eine leicht unterschiedliche Sauerei sein, aber am Ende bleibt es eine Sauerei. Es gibt aber nur eine Möglichkeit, die Atome zu einem unversehrten Ei am Küchentisch zu ordnen. Sich selbst überlassen wird das Ei also früher oder später einen Zustand einnehmen, der diesem großen Bereich im Phasenraum entspricht.
Oder anders gesagt: Weil das alles so ist, wird die Entropie immer größer. Wann immer man ein System in einem Zustand hat, wo es einen kleinen Bereich des Phasenraums einnimmt, wo die Entropie also klein ist, wird es früher oder später in einem größeren Bereich des Phasenraums landen, wo die Entropie groß ist. Der umgekehrte Weg findet aber nicht statt. Mit der Entropie ist es wie mit der Zeit: Sie geht immer nur von klein zu groß, von Ei zu Sauerei, aber nie umgekehrt, genauso wie die Zeit immer von der Vergangenheit in Richtung Zukunft läuft.
Man könnte jetzt also sagen: Die Zukunft ist die Zeitrichtung, in der die Entropie immer größer wird. Damit hätten wir sowas ähnliches wie eine Definition der Zeit. Aber auch ein neues Problem. Wenn das so ist, dann bedeutet das ja, dass das Universum jetzt unordentlicher ist als früher. Es muss in der Vergangenheit ordentlicher gewesen sein als heute. Denn nur so kann die Entropie zunehmen. Und ganz früher muss es noch ordentlicher gewesen sein. Das Universum muss also aus einem Zustand mit extrem niedriger Entropie und sehr viel Ordnung gestartet sein. Das klingt falsch. Damals, beim Urknall vor 14 Milliarden Jahren, war doch alles durcheinander. Das ganze Universum war voll mit Teilchen, die wild hin und her gesaust sind, so wie die Luftmoleküle aus dem Beispiel von vorhin. Und jetzt haben wir ein Universum, wo so gut wie überall nichts ist, nur an manchen Stellen haben sich die Teilchen zusammengeballt und sowas wie Sterne und Planeten gebildet. Das sieht so aus, als wäre es genau das Gegenteil von dem, was ich gesagt habe. Es sieht so aus, als hätte die Entropie seit dem Urknall abgenommen.
Aber der Unterschied zwischen dem frühen Universum und der Luft im Raum ist die Gravitation. Für die Bewegung der Luftmoleküle spielt die Gravitation in erster Näherung keine Rolle. Aber im Universum spielt sie eine große Rolle. Alles zieht einander an und alles hat die Tendenz, Klumpen zu bilden. Ein Universum, das komplett voll ist mit gleichmäßig verteilten Teilchen ist ein extrem unnatürlicher Zustand, eben WEIL sich die Teilchen gegenseitig anziehen, Klumpen bilden, die einander noch stärker anziehen, noch größere Klumpen bilden, usw. Am Ende kriegen wir richtig große Klumpen, wie Planeten, Sterne und Galaxien. Die Situation ist hier umgekehrt: Es gibt quasi nur eine Möglichkeit, wie das Universum gleichmäßig voller Teilchen sein kann. Und sehr viele, wie es klumpig sein kann. Und in diesem Sinn hat das Universum durchaus mit niedriger Entropie begonnen, die seitdem immer größer wird. Oder anders gesagt: Seit damals läuft die Zeit auf die Weise, die wir wahrnehmen.
Haben wir jetzt verstanden, was Zeit ist? Nein, aber das habe ich ja zu Beginn schon angekündigt. In Wahrheit ist das alles noch viel komplizierter und auch die Entropie ist keine wasserdichte Erklärung für das Vergehen der Zeit. Vielleicht ist die Zeit auch nur etwas, was in unseren Köpfen passiert, aber nicht in der Realität. Zumindest Albert Einstein war dieser Ansicht, als er - nach wirklich langer Auseinandersetzung mit genau diesen Fragen - gesagt hat: "Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nichts als eine Illusion, wie hartnäckig sie sich auch hält."