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Körperlose Demokratie: Warum unsere Demokratie mehr Körperwahrnehmung braucht

Lesezeit: 5 Minuten

Die körperlose Gesellschaft und ihre Bedeutung für die Demokratie.

„Wir sind eine körperlose Gesellschaft“, sagte Prof. Dr. Ruth Lanius (Opens in a new window), eine renommierte Gehirn- und Traumaforscherin, kürzlich auf den 15. Zürcher Traumatagen. Dieser Satz hat mich beeindruckt. Ich glaube, auch unsere Demokratie leidet unter einer Form von Körperlosigkeit. Damit meine ich, dass viele demokratische Praktiken ohne Bewusstsein für den Körper stattfinden – und ohne das Wissen, dass unser Körper – teilweise mehr als unser Verstand – zu einem sehr großen Anteil darüber entscheidet, ob eine Zusammenarbeit erfolgreich ist oder nicht.

Denn der menschliche Körper sendet permanent Signale an das Gehirn, auf dessen Basis sich entscheidet, ob wir uns sicher fühlen oder nicht und damit auch, ob wir bereit sind für Kooperation oder nicht. Doch das passiert völlig unbewusst. Denn es ist das Stammhirn, der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil unseres Gehirns, der diese Entscheidung fällt.

Unser Gehirn im Überlebensmodus

Das Stammhirn – auch Reptilien- oder Überlebensgehirn genannt – ist wie ein Wächter, der ständig die Umgebung scannt. Dafür werden stetig Sinnesreize aus dem Körper über das Nervensystem und das Rückenmark zu ihm, dem Stammhirn, transportiert. Wird nun eine Situation als unsicher eingestuft, dann bleibt das Stammhirn in Kontrolle. Sein Ziel: es hält uns bereit, schnelle und instinktiv reagieren zu können – Flucht, Kampf oder Erstarrung. Das ist sinnvoll und rettet oft Leben, zum Beispiel wenn wir bei einem Fahrradunfall reflexartig die Arme schützend vor den Kopf reißen.

Doch diese Überlebensfunktion hat einen Preis: Der Kortex, der Teil des Gehirns, der u. a. für rationales Denken, Empathie und Emotionsregulierung zuständig ist, wird mit weniger Energie versorgt. Er arbeitet quasi auf Sparflamme, während gleichzeitig das Nervensystem unter erhöhter Spannung steht. In Alarmbereitschaft ist unser Denken dann eingeschränkt. Doch verblüffend ist dabei, dass wir uns dessen oft nicht bewusst sind. Wir haben eine reduzierte Wahrnehmung und sind auf eine bestimmte Art „körperlos“, denn die Sinnesinformationen aus dem Körper gelangen nur noch stark gefiltert in den Kortex, wo unser bewusstes Denken ihren Sitz hat.

Bild des Kortex und seiner Funktionen.
Bild aus einer Präsentation von Dr. Peter A. Levine auf den 15. Zürcher Traumatagen über die Funktionen des Kortex.

Relevanz für die Demokratie

In der neurowissenschaftlichen Forschung wird diese „Körperlosigkeit“ auch Body-Mind-Disconnect genannt. Wenn das rationale und das emotionale Denken eingeschränkt sind, dann können wir schlechter kooperieren, uns weniger auf andere einstellen und fühlen uns schneller bedroht. Wir verengen unseren Blick und sind weniger offen. Für die Demokratie, die auf Kooperation und Vertrauen angewiesen ist, ist das fatal. Denn die Demokratie braucht solche Kompetenzen: Rationale Analyse, emotionale Intelligenz, Empathie und die Fähigkeit, bei komplexen Problemen abzuwägen und auszuhalten, wenn keine unmittelbare Lösung zu erkennen ist.

Gerade in den Kernarenen der Demokratie sehe ich großes Potenzial für diese körperbasierten Fähigkeiten:

  • In öffentlichen Debatten und Talkshows, wo oft mehr gekämpft als zugehört wird.

  • Wenn Politiker:innen mit Bürger:innen in Kontakt treten und für ihre Positionen werben.

  • In Ausschüssen und Verwaltungen, wo komplexe Probleme bewegt werden und tragfähige Kompromisse gefunden werden müssen.

  • Wenn Gesetze gemacht werden und sich die Frage stellt, wie diejenigen einbezogen werden, die direkt davon betroffen sind.

  • Immer dann, wenn Menschen mit unterschiedlichen Meinungen aufeinandertreffen und gemeinsam eine Entscheidung treffen sollen.

Wenn Body und Mind – Körper und Geist, oder Nervensystem und Gehirn – getrennt sind, weichen wir auf einfachere Muster aus: Schwarz-Weiss-Denken, Misstrauen und Abwehrhaltung. Wir brauchen das Gefühl von Kontrolle und verlieren die Fähigkeit, uns wirklich auf Menschen mit anderen Meinungen einzulassen, weil unser Überlebensgehirn sie unbewusst als potenzielle Bedrohung einstuft.

Mit diesem Wissen ist es offensichtlich: Demokratische Prozesse brauchen sichere Umgebungen, in denen unser Stammhirn merkt, dass wir vertrauen können. Denn dann nutzen wir automatisch unsere gesamten Gehirnkapazitäten und können besser konstruktiv zusammenarbeiten.

Den eigenen Zustand erkennen

Der Body-Mind-Disconnect ist nicht an oder aus, sondern wie ein Kontinuum. Auch ein klein wenig „Gefahr“ hat schon Auswirkungen auf unser Denken und Fühlen, die wir aber oft nicht bemerken. Das geht tatsächlich nur indirekt. Folgende Erkennungsmerkmale können auf eine eingeschränkte Kommunikation zwischen Nervensystem und Gehirn hinweisen:

  • Du spürst deine Haut weniger gut, wenn du sie berührst.

  • Du fühlst dich leicht wackelig auf den Beinen oder dein Gleichgewichtssinn ist etwas gestört.

  • Du spürst Hunger (oder Durst) nicht, obwohl du eigentlich lange nichts gegessen hast und hungrig sein müsstest.

  • Emotionen fühlen sich zu groß an und du vermeidest sie.

  • Es fällt dir schwer, auf andere zuzugehen und Kontakt aufzunehmen, z. B. wenn du auf einer Veranstaltung nicht wirklich Anschluss findest oder nicht richtig „in einen Flow“ kommst.

  • Du verhältst dich auf eine Weise, die du dir später selbst nicht erklären kannst.

Die Verbindung wiederherstellen – Body und Mind connecten

Da das Stammhirn vorsprachlich arbeitet, erreichen wir es oft nicht gut über Worte allein. Was aber gut funktioniert, sind Körperübungen. Damit können wir das Nervensystem so stimulieren, dass es dem Stammhirn quasi sagt, dass wir in einer sicheren Umgebung sind. Oft bemerken wir den Body-Mind-Disconnect dann erst rückwirkend, wenn die Anspannung nachgelassen hat.

Die folgenden drei Übungen, die ich auf den 15. Zürcher Traumatagen (Opens in a new window) (Übung 1 und 2) sowie in einem Kurs mit Wangũi wa Kamonji (Opens in a new window) (Übung 3) kennengelernt habe, können dir helfen, die Verbindung zwischen Körper und Geist zu stärken – jederzeit und an jedem Ort. Ich lade dich ein, diese kurzen Übungen auch dann zu machen, wenn du eigentlich denkst, dass du gar nicht gestresst bist. Oft sind wir es mehr als uns bewusst ist.

Vorbereitung

Auf einer Skala von 0 (tiefenentspannt) bis 10 (voll gestresst), wie entspannt oder gestresst fühlst du dich jetzt gerade? Schreib dir diese Zahl auf und lege den Zettel dann beiseite.

Übung 1: Orientierung im Raum

  1. Schau dich langsam im Raum um, in dem du gerade bist. Was siehst du?

  2. Nimm einfach nur wahr, ohne zu bewerten. Welche Farben, Formen oder Gegenstände fallen dir auf?

  3. Gibt es etwas, das deine Augen als angenehm empfinden? Verweile dort mit deinem Blick für einen Moment.

  4. Spüre dann, mit offenen oder geschlossenen Augen, deine Position im Raum: Wo bist du gerade im Verhältnis zur Decke, zum Boden, zu den Wänden? Wo ist die Türe und wo sind Fenster (falls du welche hast)?

Die bewusste Wahrnehmung dieser sensorischen Informationen signalisiert deinem Stammhirn, dass du gerade in Sicherheit bist. Falls du einen automatischen, tieferen Atemzug gemacht hast, ist das ein gutes Zeichen. Das bedeutet, dass du nun schon einen Tick entspannter bist.

Übung 2: Automatische Balance

  1. Stell dich hin und spüre deine Füße auf dem Boden.

  2. Achte darauf, wie dein Körper von allein das Gleichgewicht hält. Es gibt immer ein feines Balancieren.

  3. Nimm einfach wahr, wie dein Gleichgewichtssystem von ganz allein arbeitet. Das ist alles. Mach das für 1–3 Minuten.

Auch die Wahrnehmung dieser sensorischen Information zeigt deinem Stammhirn, dass die Umgebung sicher ist.

Übung 3: Arme ausstreichen

  1. Lege deine rechte Hand auf deine linke Schulter. Streiche langsam und mit sanftem Druck deinen Arm von der Schulter bis zu den Fingerspitzen aus. Wiederhole das drei- bis viermal.

  2. Wechsle die Seite: Lege die linke Hand auf die rechte Schulter und streiche ebenfalls drei- bis viermal den Arm hinunter.

  3. Dann nimm wider die rechte Hand auf die linke Schulter und knete zuerst die Schulter und dann den gesamten Arm durch – zwei bis drei Mal.

  4. Dann wechsle wieder die Seite und knete mit deiner linken Hand die rechte Schulter und den rechten Arm.

Auch diese Übung sendet durch das parasympathische Nervensystem ein Signal von Sicherheit ans Stammhirn.

Zum Abschluss

Zum Abschluss, bitte prüfe erneut auf der Skala von 0 (tiefenentspannt) bis 10 (voll gestresst), wie entspannt oder gestresst du dich jetzt gerade fühlst. Hat es funktioniert? Fühlt sich dein Körper nun entspannter an? Hatten alle drei Übungen einen Effekt? Oder hat eine der Übungen besser funktioniert als die anderen?

Im Idealfall hast du tiefer geatmet, vielleicht sogar gegähnt, spürst deinen Körper jetzt mehr und hast einen klareren, ruhigen Geist. In meinem Verständnis ist diese Art von Körperübung ein Akt der Selbstfürsorge. Und gleichzeitig eine Kompetenz, die demokratisches Handeln fördert. Das ist ein Gedanke, den schon die antiken Griechen kannten: Die Sorge um sich selbst ist die Grundlage für die Sorge um die Gemeinschaft.

Mit entspannten Grüßen

Josef

PS: Eine andere Methode der Selbstsorge ist der demokratische Dialog. Diesen praktizieren wir bei Mehr Demokratie regelmäßig, zum Beispiel online, immer am ersten Mittwoch im Monat im Format Sprechen & Zuhören (Opens in a new window). Darüber, und wie das die Demokratie vollständiger macht, habe ich im Ökodorf-Podcast aus Sieben Linden mit den Steffen Emrich und Simone Britsch (Opens in a new window) beim Netzwerktreffen des Global Ecovillage Network gesprochen.